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Der Schwarzfahrer
Es war eine von diesen neuen S-Bahnen die noch grimmiger schaute - wie es sowieso jedes Gefährt tut, wenn es aus einem Tunnel kommt - in die Franz an jenem Tag, nach dem Schulunterricht einstieg, um nach Hause aufs Land, wo er im Hause seiner Eltern zusammen mit seinen Geschwistern wohnte, zu fahren.
Schreitend durch den Gang um einen Sitzplatz zu bekommen, denn stehen kam für ihn nicht in Frage, schließlich hatte er noch einige Zeit zu fahren und die Kosten für die Fahrt, die oh-nehin viel zu hoch seien, wie er dachte, rechtfertigten auf jeden Fall einen Sitzplatz in ange-nehmer Gesellschaft; also nicht neben einer dieser älteren Herrschaften, die ihn schon beim Vorüberschreiten, mit ihren Blicken aufmerksam musterten und sich insgeheim darüber e-chauffierten, wie man sich nur so in der Öffentlichkeit zeigen könne: mit diesen schlecht ge-schnittenen Haaren, dem zu großen Pullover - den Franz von seinem Vater bekommen hatte, weil er ihm nicht mehr passte - und den abgetretenen Schuhen, die er seit einigen Jahren zu tragen pflegte. Nicht das Franz und seine Familie nicht in der Lage waren ihm dem Vermö-gensstand nach - welcher einem guten Mittelstand entsprach - ordnungsgemäß einzukleiden; Franz legte darauf nun mal keinen besonderen Wert.
So schritt Franz weiter, bis er den für ihn richtigen Platz neben einem, wie ihm schien - über Geschmack lässt sich ja bekanntlich streiten - recht anzüglichem jungen Fräulein fand und sich neben sie, ohne große Aufmerksamkeit zu erregen, setzte. Das Fräulein war eifrig damit beschäftigt etwas ununterbrochen und mit einem klaren Ziel vor Augen in ein kleines schwar-zes Buch zu schreiben, welches keine linierten Seiten enthielt. Deshalb legte das Fräulein hin-ter die zu beschreibende Seite ein liniertes Papier, um das Schriftbild welches Franz sehr gut gefiel, da die Buchstaben stets leicht nach rechts gekippt waren, was wiederum auf einen star-ken Charakter der Person hindeutete, wie Franz letztens in einem Zeitungsartikel gelesen hat-te, in Zaum zu halten. Franz hatte dabei den Eindruck als ob das Fräulein das Geschehen in der Bahn zu dokumentieren versuchte, indem sie, nachdem sie ihren Blick durch das Abteil schweifen ließ, alles was gesagt und getan wurde, in ihr kleines schwarzes Buch schrieb. Um sich seiner Vermutung sicher zu sein, versuchte Franz dem Blick des Fräuleins zu folgen, um zu sehen was sie sieht, und um im nachhinein ein bis zwei Sätze des Geschriebenen zu erha-schen, um somit zu prüfen ob er tatsächlich richtig lag.
Als er nun dem Blick des Fräuleins zu folgen versuchte, kreuzte er den eines jungen Mannes, der schräg rechts, auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges, im nächsten Viererblock, Franz gegenüber saß und unentwegt in dessen Richtung starrte. Ob das etwas mit dem Fräu-lein neben ihm zu tun hatte oder ob er selbst der Grund für die Aufmerksamkeit des Fremden war, beunruhigte ihn zunächst, woraufhin er keinen weiteren Blick mehr in Richtung des Fremden zu werfen vermochte und er stattdessen versuchte – ob es nun aus tatsächlicher Neugierde oder aus der Notgedrungenheit der Situation nicht weiter in Versuchung zu geraten dem Fremden anzusehen, bleibt ungewiss – wenigstes Gewissheit über die Vermutung, die er über das junge Fräulein anstellte, zu bekommen. Doch dafür schien es nun zu spät, da das Fräulein ihre Aufzeichnungen abrupt abbrach und das kleine schwarze Buch in ihrer braunen Aktentasche, welche Franz relativ neu erschien, verschwinden ließ, aufstand und sich nach dem Ausstieg bewegte.
„Ist sie aufgrund meiner aufdringlichen Blicke auf ihre Aufzeichnungen so abrupt von meiner Seite gewichen, und sucht sich nun einen neuen Platz, an dem sie ungestörter, ohne die Unan-nehmlichkeit der plumpen Versuche meinerseits, etwas über ihre Schriftzüge in Erfahrung zu bringen, oder war der Grund ihres Verschwindens die bevorstehende Haltestelle?“, dachte Franz, zudem hatte er das Gefühl, dass auch die anderen Passagiere in seiner unmittelbaren Umgebung, vom raschen Verschwinden des Fräuleins überrascht waren und ihn dafür ver-antwortlich machen würden.
Auch der Fremde hatte es plötzlich eilig, seinen Sitzplatz aufzugeben und geradewegs mit fliegendem Schritt, zu verschwinden, ohne Franz, nochmals einen letzten Blick zu würdigen. „War auch er, der selbst die Ungeniertheit besaß hie und da zu starren, meinetwegen gegan-gen “, dachte Franz weiter, „oder war er selbst darüber beschämt, dass er für das verschwin-den des Fräuleins verantwortlich sei und daraus die Konsequenz zog, sich in andere Gesell-schaft zu begeben?“ Im Augenblick dieser Überlegung hörte Franz im Hintergrund die Worte, „die Fahrkarten bitte“, welche zweifellos von einem Kontrolleur stammten. Es war Glück, das Franz hatte, dass er nicht tiefer in seine Überlegungen versunken war und deshalb das Heran-schreiten der Kontrolleure bemerkte. Nicht das Franz keine Fahrkarte besaß, es war vielmehr, nämlich eine Kopie des Originals, die er mit viel Mühe, durch die Errungenschaften der tech-nischen Mittel die heutzutage jedermann zur Verfügung stehen, für sich hergestellt hatte. Es bestand also kein Anlass nervös zu werden oder gar die Nerven zu verlieren. „Trotzdem muss man das Schicksal nicht herausfordern.“, sagte sich Franz, und entschloss sich nun selbst sei-nen Sitzplatz aufzugeben und entfernte sich in Fahrtrichtung von den Kontrolleuren um den Zeitpunkt der Prüfung seiner Papiere, die einer solch harmlosen Untersuchung, dieser niede-ren Angestellten, natürlich standhalten würden, hinauszuzögern.
Unerwarteter weise traf er, als er am Ende des Zuges ankam, auf den Fremden, der keines-wegs überrascht war Franz wieder zu sehen, und entgegnete ihm sogar mit einem verschmitz-ten Grinsen im Gesicht und den plumpen Worten: „Hast wohl auch keine?“
„Die Frechheit des Fremden scheint grenzenlos zu sein“, dachte Franz, „erst zwingt er durch sein unentwegtes Starren, das junge Fräulein zu gehen, und nun scheint er sich sicher zu sein, dass auch ich von der selbigen Befangenheit behaftet bin, keine Fahrkarte zu besitzen, und wir sozusagen eine Gemeinsamkeit hätten.“
Franz’ Ausstieg nahte, und auch die Kontrolleure waren nicht mehr fern, was ihn zur Überle-gung zwang, ob er, wenn er dazu aufgefordert werden würde seine Fahrkarte vorzuzeigen zu sagen: dass er nicht im Besitz einer solchen sei! Doch was würden dann die anderen Fahrgäste von ihm halten, die er zweifellos wieder sehen würde, oder sollte er seinen Ausweis der Prü-fung ausliefern und somit den Fremden im stich lassen, der ja zweifellos im Glauben ist, in Franz einen Gefährten zu haben, der in der selbigen Situation steckt.
Die Bahn fuhr ein, und die Kontrolleure waren bereits wieder in Augenschein getreten und nur noch ein paar Schritte von Franz und dem Fremden entfernt. Es handelte sich nur noch um Augenblicke bis die Frage nach den Fahrkarten auch sie treffen würde.