- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Der Schwerbelastungskörper
„Sie nennen ihn auch den Pilz, verstehste“, sagte mein Kumpel Kurt, während die Stadtlandschaft Berlins an unserem Autofenster vorbei glitt. Ur-Berliner Kurt fuhr mich als Nicht-Ortskundige gern etwas rum.
„Den Pilz? Warum das denn?“, fragte ich. Ich wusste es, fragte aber trotzdem, um ihm eine Freude zu machen.
„Wirste gleich sehen.“
Mein Begleiter lächelte, aber nicht lange.
„Wir sind gleich da. Ein paar S-Bahnstationen weiter ist das Holocaust-Mahnmal, falls dich das auch interessiert.“ Er klingt spitz, herausfordernd. Ich wollte nicht sagen, dass ich schon beim Mahnmal gewesen war; es hätte wie eine Entschuldigung geklungen.
Dann Kurt noch mal: „Es gab ja auch viele Mitläufer. Wat willste machen. Meine Großeltern ... Na ja.“ Das kam plötzlich, scheinbar zusammenhangslos. Aber ich verstand ihn. Die Menschen dazwischen. Fast alle eigentlich.
Ich dachte schon lange nicht mehr in Schwarz und weiß; für mich war alles dazwischen in den „buntesten“ Grauschattierungen zwischen gut und böse, zwischen Mitläufer und jemandem, der mitgelaufen wurde, es gab kein entweder oder; so gab es aber auch keine Vergebung, für niemanden.
Ich glaube, er verstand die Faszination, die dieser Ort auf mich ausübte, nicht ganz.
„Haste keene Angst, der Alte spukt da rum?“
„Nein. Ist doch nicht der Führerbunker.“
„Nee, den jibbet nich mehr.“
Wir waren da. Kurt parkte den Wagen in einer Haltebucht, die überraschenderweise frei war und ging um den weißen Fiat herum. Ich schnappte mir mein Gepäck und warf die Hintertür mit einem schmatzenden Knall zu. Das Gepäck war nicht viel, es war ja auch nur für eine Nacht. Ich hatte eine Isomatte und meinen Schlafsack dabei; einen zweiten Pulli, Jeans und Strümpfe; ein halbes Weißbrot und eine Dose Corned Beef, außerdem eine Flasche Rum und eine Flasche Cola für Cuba Libre, eine Taschenlampe und ein Buch, falls ich nicht schlafen konnte. Mal sehen.
„Und was ist dein Plan?“ fragte Kurt.
„Einfach hier die Nacht verbringen“, sagte ich, „bis morgen früh.“
„Für ’ne junge Frau ganz schön heikel, was?“
„Ich hab Pfefferspray dabei“, beruhigte ich ihn. „Pech gehabt, Wette verloren, wie das so ist.“
„Ja, wie das so ist. Na denn, bis denn, Ivy!“
„Bis denn, Kurt!“
Falls ich jetzt draufgehen sollte, war Kurt der letzte Mensch, mit dem ich gesprochen hatte, außer meinem zukünftigen Mörder vielleicht.
Ich sah mich um. Das Gelände war verwildert, man musste über eine kleine Böschung klettern, um dann auf der anderen Seite herunterzurutschen, kümmerliche Bäumchen und Hecken wuchsen unkoordiniert herum; es war nicht sehr einladend, denn der Boden, auf dem ich schlafen würde, war von kräftigen Wurzeln durchzogen und mit herumliegenden Ästen bedeckt. Aber das Wichtigste war natürlich Albert Speers Meisterklotz.
Ich stand vor dem Monster. Es war nicht zu übersehen, wo man auch stand. Wie ich mich im Internet schlau gemacht hatte, hatte das Bauwerk den alleinigen Sinn, den Berliner Boden auf seine Festigkeit zu überprüfen. „Der Alte“ hatte den Plan, Berlin in die Reichshauptstadt „Germania“ umzubauen, unter anderem war ein gigantischer Triumphbogen anvisiert, der am Ende der prächtigen Nord-Süd-Achse seinem Vorbild in Paris an Größe dreimal übertreffen sollte.
Es war den Architekten nicht bekannt, ob der riesige, schwere Triumphbogen auf Berliner Baugrund aus Sand und Ton nicht einfach so wegsacken würde. Das musste getestet werden, am besten 1:1, und ab Frühjahr 1941 wurden französische Kriegsgefangene gezwungen, den Betonproleten zu errichten, der die Bodenbelastung simulieren sollte.
Warum das Ding Pilz hieß, war sofort klar: Es war ein Betonzylinder, 21 Meter im Durchmesser, der auf einem kleineren, 11 Meter breiten Zylinder steckte und somit wie ein großer, etwas eckiger Champignon aussah. Der Trumm ragte 14 Meter in die Luft und reichte noch mal 18 Meter in die Tiefe. Zwischen Ober- und Unterbau befand sich ein ca. ein Meter hoher Abstand, so dass sich eine Nische bildete, in die man seine Sachen packen konnte und nicht auf dem Boden legen musste. Für mich selbst war der Absatz nicht breit genug, aber unter dem Oberbau war man schon geschützt vor dem Regen. Obwohl ich Bedenken hatte, mich unter das Dach dieses Kolosses zu begeben, er könnte ja nachgeben und dann gute Nacht, Ivy ...
Worauf hatte ich da eingelassen. Ich wünschte, ich könnte den Abend rückgängig machen. Aber Wettschulden sind Ehrenschulden. So ein Junggesellenabend nur unter Mädels war nicht ohne.
Ob ich Angst hatte vor der Nacht beim Pilz? Ja, hatte ich, aber ich hoffte, niemand würde es merken, bis mir einfiel, dass gar keiner da sein würde, um irgendwas zu merken.
Ich schaute mir den Unterschlupf genauer an. Hier war es trocken, ein guter Platz für meine Sachen. Ich nahm Flasche und Essen aus meinen Rucksack, meine Isomatte legte ich auf den Boden und machte den Rucksack zu, so dass keine ungebetenen Gäste mich Zuhause überraschten; die eine oder andere Kakerlake oder Spinne musste ich nicht als Souvenir mitnehmen. Ich machte mir eine Zigarette an und betrachtete meine Umgebung. Außer dem Pilz war nicht viel. Der Pilz war alles. Riesig. Ich ging um ihn herum. Grau, schmucklos; nicht mal für großflächige Graffiti lieferte er den Untergrund, selbst dafür war er zu hässlich. Ich hatte gelesen, dass der Vorschlag eines Kletterclubs, den Schwerbelastungskörper als Kletterwand zu nutzen, abgelehnt worden war. Auch ein Café sollte auf seinem Dach eröffnet werden: kein Interesse. Niemand wollte den Pilz. Er tat mir leid. Trotz allem: seit 1995 steht er unter Denkmalschutz. So erfüllte sich Hitlers Traum eines eigenen Triumphbogens zwar nie, es würde aber dieses Traumes für tausend Jahre gedacht sein: in Form des Schwerbelastungskörpers.
Ich machte mir erstmal etwas zu trinken. Ich köpfte die Flasche Rum und goss etwa ein Drittel davon in einen zweckentfremdeten Zahnputzbecher. Den Rest füllte ich mit Cola auf. Mit dem Finger umrühren, fertig, lecker, ich trank zwei hintereinander.
Ich lehnte mich an den Schwerbelastungskörper und starrte in die Nacht und sah das Stück Himmel, dass seit 1941 auch der Schwerbelastungskörper sah, immer dasselbe, und das würde sich so schnell auch nicht ändern. „Armer Kerl“, sagte ich und tätschelte seinen Bauch, ungefähr auf der Höhe meines Bauches, „ganz alleine jede Nacht. Kenn ich.“
Auf einen ganz hellen Stern fixiert, überlegte ich, was dieser Betonklotz schon alles gesehen hatte, seit 1941. Das Geburtsjahr meiner Mutter, das Jahr des achten Geburtstags meines Vaters. Albert Speer hatte er gesehen und natürlich die Franzosen, die ihn erbaut hatten. Ob der „Alte“ sich hierher bequemt hatte, wusste ich nicht, ich schätze eher nicht; ob der Pilz überhaupt so etwas wie eine Einweihungsfeier hatte oder ob sie ihn einfach gebaut hatten und fertig, wusste ich auch nicht, ich glaubte nicht, dass die wichtigsten Männer im Reich hier Champagner getrunken hatten, genau so wenig wie man ein Konzentrationslager mit Champagner einweiht. Oder vielleicht doch, man konnte bei diesen Leuten nie sicher sein.
Langsam wurde mir kalt. Direkt vor dem Pilz in einer weichen Mulde hatte ich mir mein Nachtlager vorbereitet, bestehend aus meinem Schlafsack, einem zweiten Pulli und einem weiteren Cuba Libre. Wenn es nicht anfangen würde zu regnen, hätte ich eine angenehme Nacht. Ich wickelte mich in meinen Pulli ein und nippte an meinem Drink, mit dem Rücken gegen Beton gelehnt. Nun, wie man es auch drehte und wendete, ich saß auf historischem Grund, das war keine Frage. Aber was tun mit dieser Erkenntnis?
Das Licht meiner Taschenlampe flackerte; ich kroch unter den Vorsprung zu meinem Rucksack und legte zwei neue Batterien ein. Dann stellte ich den Rucksack wieder an seinen Platz unter dem Unterstand, zog etwas zu hastig den Kopf zurück und knallte mit dem Schädel direkt an den Beton. Bomm.
Das nächste, das ich wahrnahm, war ein Geruch. Nach altem Schweiß, lange nicht gewaschenen Haaren, muffigen Klamotten und nach Rothändle ohne Filter. Irgendwer beugte sich über mich, leuchtete mir ins Gesicht, wisperte irgendwas. Wollten sie mich ausrauben? Umbringen? Vergewaltigen? In welcher Reihenfolge? Es schienen zwei Männer zu sein, flüsternd besprachen sie ihre Pläne, ich verstand kein Wort. Ich traute mich nicht, meine Augen zu öffnen. Tat es doch. Ich sah einen Obdachlosen und seinen Kumpel, die sich irgendwie an meinem Rucksack zu schaffen machten, ein Teil meiner Klamotten lag auf dem Boden verstreut, vermischt mit den Sachen aus einem fremden Rucksack, deren Geruch den eben beschriebenen nicht unterbot. Die Männer schienen etwas zu suchen. Langsam drehte ich mein Gesicht nach oben und sah die Unterseite des Pilzes; mir wurde schwindelig, ich drehte mich wieder zurück, der gleiche Effekt. Vielleicht sollte ich aufstehen ... Ich richtete mich wagemutig auf – und knallte wieder mit dem Kopf an den Beton. Diesmal war es die Stirn. Ich ließ mich sofort wieder fallen, auch auf die Gefahr hin, so hilflos daliegend für die beiden Männer eine leichte Beute zu sein, was immer sie auch ausgeheckt hatten. Mit der Hand an der Stirn blinzelte ich sie an.
Der Lichtstrahl einer Taschenlampe warf einen weiß-gelben Fleck auf mein Handgelenk und die halb leere Flasche neben meinem Kopf.
„So, jetzt mal langsam, kleenes Frollein“, sagte der Mann mit dem Troyer und dem roten Backenbart. Er trug eine verbogene Nickelbrille, dahinter lagen zwei grüne Augen, die viel jünger wirkten als der Rest seines Gesichtes, das faltig aussah und zerknautscht, als hätte er mal gut in die Fresse bekommen. Hatte er wahrscheinlich, bei seinem Job lebte er gefährlich.
Der andere fuchtelte wild in der Gegend rum, bis ich erkannte, dass er den Dampf von einer heißen Tasse Tee oder Kaffee wegstreichen wollte. Der heiße Becher wechselte seinen Besitzer, und nun hielt mir der Rotbart den Tee vor die Nase. „Trink mal, das ist gut für dich, hier ist es verdammt kalt, oder? Wir haben in deinem Rucksack nach einem Pullover gesucht, aber ich sehe, du hast schon zwei an.“
Ich nickte, und weil mir tatsächlich sehr kalt und frostig war, nahm ich sein Angebot an und nippte in kleinen Schlucken das heiße Getränk, auch auf die Gefahr hin, dass die beiden mich mit K.O.-Tropfen gefügig machen und die halbe Flasche Rum und meine alte Taschenlampe erbeuten würden.
Es war Tee, und er war gut, sehr gut. Kein bisschen bitter und leicht gesüßt. Ich bedankte mich. Jetzt wollte ich wissen, wer meine nächtlichen Besucher waren. Der andere, jüngere der beiden, beäugte mich misstrauisch.
„Was machst du überhaupt hier“, fauchte er mich leise an, „das hier ist unser Revier! Außerdem siehst du nicht danach aus, als müsstest du hier schlafen, du belegst nur unsere Schlafplätze! Verzieh dich!“
Das waren deutliche Worte. Der Rotbart war freundlicher.
„Horst hier ist verstimmt, weil wir heute schon zweimal den Schlafplatz wechseln mussten. Siehst du, für uns ist das nicht so einfach, nachts die Augen zu schließen und süß zu träumen, für uns ist das Kampf jeden Tag, das ist wie im Krieg. Und jetzt sind wir müde und wollen nur noch pennen, und dann ist unser Lager besetzt. Was können wir da machen?“
„Heini, sag ihr, verpissen soll sie sich, die Spießerin!“
Ich hatte auch gar keine Lust, länger dort zu verweilen, ich verstand die Beweggründe der Berber, ich hätte es auch nicht gern, wenn mir von dem, was mir sowieso nicht gehört, auch noch was weggenommen wird. Aber dann fiel mir meine verlorene Wette ein, und Wettschulden sind Ehrenschulden.
„Tut mir leid, aber ich muss hier bleiben“, verteidigte ich mich. Horst entriss mir den Kaffeebecher. „Ich hab eine Wette verloren. Ich kann mich gern auf die andere Seite verziehen, aber auf dem Grundstück bleiben muss ich, sorry.“
Horst schüttelte nur den Kopf. Heini überlegte.
„Was war es denn für eine Wette?“, hakte er nach, „irgendwas politisches? Du weißt schon, wo du hier bist, oder?“
Politisch? Unpolitisch? Inwieweit konnte man unpolitisch sein, konnte man es überhaupt, oder war Unpolitischsein schon politisch?
„Meine Freundinnen und ich studieren Geschichte, es war ... Ich weiß schon, wo ich hier bin“, setzte ich hinzu.
„Weißt du, wie alt ich bin?“, fragte Heini. „Dies ist ein besonderer Platz für mich. Hier wurde ich geboren. Während der Bauarbeiten.“
„Wirklich? 1941?“
„42. Es war im Sommer, haben sie mir erzählt, meine Mutter besuchte meinen Vater auf der Baustelle, er war einer der SS-Offiziere, die den Bau überwachten. Sie war fast immer da, um ihm irgendwas vorbei zu bringen. Sie liebten sich sehr. An diesem Tag war sie eben auch da, um die Mittagszeit gekommen, alles war fein. Die Zwangsarbeiter machten ihr ein bisschen Angst, sie war eben eine gute arische Frau, ganz im Sinne des „Führers“ gepolt, aber sonst war alles in Ordnung. Wie sie so mit meinem Vater sprach, gab es plötzlich großes Geschrei und Tumult. Einer der französischen Zwangsarbeiter hatte irgendeinen Fehler gemacht, und der Vorarbeiter wollte, dass der Mann bestraft würde. Mein Vater sollte die Strafe verhängen. Es war kein großes Vergehen. Er sagte „erschießen“. Als meine Mutter davon Wind bekam und den Schuss hörte, geriet sie in Panik und hatte eine Frühgeburt, mich. Hier.“
Er klopfte auf die Erde.
„Also ein geschichtsträchtiger Boden, in jeglichem Sinn.“
Er sah mich schief an.
„Wie findest du die Geschichte?“
„Wieso, stimmt sie nicht?“
„Doch.“
„Ich finde sie traurig. Was passierte dann?“
„Meine Mutter und ich kamen ins Krankenhaus, mein Vater bekam einen Tag frei.“
Ich tastete nach der Rumflasche, fand sie und bot sie Heini an. Der winkte ab.
„Nein, danke.“
Ich nahm einen Schluck.
„Und dein Kollege? Horst? Frag ihn mal.“
Heini wandte sich Horst zu und reichte ihm die Buddel. Der sah erst mich, dann das Gesöff misstrauisch an und zuckte dann mit den Schultern und trank. Manche Dinge sind überzeugender als Worte.
Heini, nachdenklich: „Ja, der Franzose ... Ich habe mal versucht, französisch zu lernen, ohne großen Erfolg. Nach Paris gehen und dort als Künstler leben, das hätte mir gefallen. Aber die verfluchte Sprache, die liegt mir einfach nicht. Und jetzt könnte ich auch nur noch als Clochard dort Karriere machen. Das geht in Deutschland einfach besser, da hab ich mein Revier, meine Leute, die ich kenne, alles halt. Und meinen Freund Horst hier, den alten Miesepeter!“ Er legte einen Arm um Horst und drückte ihn.
Ich holte das Weißbrot und das Corned Beef hervor und schnitte dicke Scheiben vom Brot ab und gab sie weiter, genauso das Fleisch. Die Cola reichte ich dazu. Es schien beiden zu schmecken und mir auch. Spät war es geworden.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, waren die beiden Berber fort.
Kurt holte mich wie abgesprochen mit dem Wagen ab.
„Na, wie war’s?“, fragte er. „Begegnungen mit der Vergangenheit jehabt?“
„Du würdest dich wundern“, meinte ich und lächelte.