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Der Sonnenvogel
für Bella
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An einem unscheinbaren Abend, als die Sonne gerade hinter den hohen Bergen versank, da hatte Wolfrat plötzlich eine Eingebung. Und er lächelte, als sie ihm vor Augen erschien.
Er würde den Sonnenvogel finden. Jenes wunderbare Geschöpf, das die Sonne jeden Abend vom Himmel holte, um sie dann über Nacht wieder Richtung Meer zu tragen, damit sie dort am nächsten Morgen ihre Wanderung beginnen konnte.
Die Eiche warf ihren langen Schatten auf das schlichte Grab seiner Mutter, als er den Hügel verließ und hinunter zum Hof seines Vaters stieg, um ihm von seinem Vorhaben zu berichten.
Rubens, der alte Bauer, sah seinem Sohn am frühen Morgen lange nach. Er stützte sich auf den alten Pflug ab, mit seinen schweren, schwieligen Händen.
Als Wolfrat ihm gestern verkündet hatte, er wolle aufbrechen, den Sonnenvogel zu suchen, wusste er nichts zu erwidern. Überhaupt redete er nicht viel, und wenn, dann nur über Dinge, von denen er Ahnung hatte.
Er kannte den Sonnenvogel nicht, hatte nur wenig über ihn gehört und es kümmerte ihn auch nicht. Er wusste um das Wetter, den Regen, die Ernte und das Bestellen von Feldern - mit anderen Dingen hatte er wenig zu tun.
Wolfrat war sein einziger Sohn, seine Frau Linde war bei der Geburt gestorben.
***
Wolfrat folgte dem Weg, der in die Berge führte. Denn dort, wo die Sonne den Himmel verließ, musste auch der Sonnenvogel auf sie warten.
Bruno begleitete ihn. Bruno war der Hund am Hof des Vaters.
Wolfrat hatte noch nie für längere Zeit sein Zuhause verlassen, bisher kam er nicht weiter als ins nahe Dorf, um Milch zu holen oder Brot von der alten Bäckerin.
Auf der kleinen Straße, die nach Kal’Kotal führte, traf er einen alten Mann mit einem großen Wagen, der über das steinige, unebene Pflaster rumpelte.
»Na, mein Junge, allein unterwegs?«, fragte der alte Mann ihn. Sein Bart war lang und weiß, seine Robe dunkel und mit allerlei Mustern bestickt. Ein merkwürdiger, fremdartiger Geruch kam aus dem Inneren des Wagens.
»Ich gehe in die Berge, um den Sonnenvogel zu suchen«, erklärte Wolfrat.
Der Mann blinzelte und strich durch seinen langen Bart. „Den Sonnenvogel?«, murmelte er.
»Ja, er bringt die Sonne zurück zum Meer«, sagte Wolfrat und deutete hinter sich. Er betrachtete den Wagen des Mannes. »In welche Richtung führt dein Weg?«, fragte er.
Der Mann lächelte. »In die nahe Stadt, nach Kal’Kotal.«
»Würde es dich stören, mich mitzunehmen?«
Der alte Mann auf seinem Wagen sah dem dicken Jungen lange nach, als dieser mit seinem Hund auf den Marktplatz zustiefelte.
Ein Dummkopf, so viel war klar.
Die ganze Zeit hatte den Jungen nur eines beschäftigt: Er hatte vom Sonnenvogel erzählt. Ununterbrochen. Mit einem fremdartigen, fast abwesenden Glanz in den Augen.
Der alte Mann nahm seine Pfeife zur Hand und stopfte dunkle, bläuliche Blätter in den hölzernen Bauch.
Der Sonnenvogel, alte Geschichten, dumme Geschichten, sie erinnerten ihn an früher.
Er sog den Rauch in seine Lungen und lehnte sich zurück. Der Schatten der Stadtmauer brachte ihm Ruhe und kühlte seine derbe Haut.
Alte Geschichten, dumme Geschichten.
Er fuhr über seine nasse Wange.
Völlig unnötig, deshalb Tränen zu vergießen.
***
Wolfrat hatte Hunger.
»Hast auch du Hunger, Bruno?«, fragte er den Hund.
Dieser antwortete nicht, aber seine lange, rote Zunge hing aus seinem Maul.
Wolfrat trat an einen Marktstand heran, hinter dem eine dickliche Frau saß, die in feste Kleider gehüllt war und um ihren Kopf ein buntes Tuch gewickelt hatte.
»Ich möchte etwas zu essen«, sagte Wolfrat.
»Ich habe alles, was dein Herz begehrt«, sagte die Frau und deutete auf ihre Auslage. Wolfrat sah rote Äpfel, grüne Birnen, sah dicke Kartoffeln und duftendes Brot, weiße und dunkle Eier, rosafarbenen Schinken und herb schmeckenden Käse, frische Butter, rahmige Milch, goldenen Honig und feuerrote Marmelade. Mit zitternden Fingern bediente er sich, schmierte Butter und Honig auf das noch warme Brot, trank Milch und stopfte Apfel und Birne in seine Backen.
»Ich suche den Sonnenvogel«, erzählte er dann.
»Den Sonnenvogel?«, fragte die Frau.
»Ja, er hat ein Gefieder aus reinem Licht und es ist immer warm in seiner Nähe. Nachts, wenn er die Sonne zurück zum Meer gebracht hat, dann fliegt er in die Träume mancher Menschen, die traurig waren und er bringt ihnen Freude.« Er steckte sich ein Stück Käse in den Mund und kaute darauf herum.
»Ich werde in die Berge gehen, wohin die Sonne abends wandert, denn da wird er sein und auf mich warten.«
Die Frau musterte Wolfrat misstrauisch.
»Danke für das Essen, ich habe selten so gutes Brot gekostet«, sagte Wolfrat.
»Moment«, rief die Frau, »du musst noch bezahlen!«
Wolfrat drehte sich um und sah die Frau lachend an. »Was?«, fragte er.
Die Frau sah dem dicken Jungen lange nach, als dieser mit seinem Hund auf das Stadttor zuging.
Ein armer Junge, so viel war klar. Die Klamotten die er trug, das filzige Haar und dieser schmutzige, stinkende Hund.
Er hatte bestimmt seit Tagen nichts Richtiges gegessen.
Und trotzdem wirkte er nicht traurig. Etwas Fremdes war in seinem Blick, etwas Ungewöhnliches, wie sie es nie zuvor gesehen hatte.
Und dann dieses Märchen vom Sonnenvogel.
Sie sortierte ihre Auslage neu und füllte die leeren Stellen. Das bisschen, was der Junge verzehrt hatte, konnte sie leicht verschmerzen. Und heute Abend würde sie, neben all dem Geld, auch eine kleine Geschichte mit nach Hause bringen.
***
»Kopf hoch, Bruno, der Sonnenvogel wird auch morgen wieder in den Bergen sein«, sagte Wolfrat, als es dunkel wurde. Die hohen Bäume des Waldes warfen düstere Schatten.
Wolfrat legte sich unter eine Tanne und rollte sich eng zusammen, damit er die Kälte nicht so sehr spürte.
Und dann träumte er vom Sonnenvogel.
Bruno bellte und Wolfrat wachte auf.
»Was...?«
Ihm gegenüber stand ein dunkler Mann, in dessen Hand etwas Helles blitzte.
»Ich suche den Sonnenvogel«, erklärte Wolfrat, noch immer müde vom Schlaf, »und heute Nacht erschien er mir im Traum. Er war wunderschön.«
Der Mann mit dem Licht in der Hand zögerte.
»Bringst du mir eine seiner Federn?« fragte Wolfrat und deutete auf die Hand des Fremden. »Einst machte der Sonnenvogel dem Fährmann ein Geschenk: eine seiner Federn, die nun den Toten leuchtet, auf ihrem schweren Weg in die ewigen Hallen.«
Bruno bellte.
Und plötzlich verschwand der Fremde wieder.
Wolfrat blinzelte, doch er war so müde, dass er sich wieder niederlegte und sofort einschlief.
Der Fremde sah dem Jungen lange nach, als dieser zusammen mit seinem Hund am nächsten Tag den Wald verließ.
Ein merkwürdiger Mensch!
Noch nie zuvor hatte er etwas Vergleichbares erlebt. Ein Junge, der gar keine Angst hatte, schlimmer noch: ein Junge, der Angst nie gekannt, nie erfahren hatte.
Der Fremde spielte lange mit dem Messer in seiner Hand. Und irgendwie kam es ihm plötzlich merkwürdig fremd vor.
***
Wolfrat erreichte die Berge am nächsten Tag.
Der Weg wurde beschwerlicher und steiler, aber auch sehr viel schöner. Die vielen Felsen erinnerten ihn an die Küste, wo der Hof des Vaters stand. Und die Luft und die Wiesen waren so voller Leben, dass Wolfrat nicht anders konnte als lachen.
Auch Bruno war ausgelassen, tobte herum, witterte diese Spur, verfolgte jene, bellte, schnappte, rannte.
»Es kann nicht mehr weit sein«, sagte Wolfrat, der zwischen Reden und Denken nicht sehr viel Unterschied sah. »Der Sonnenvogel wird bald kommen.« Er warf einen prüfenden Blick in den Himmel.
Bruno hatte eine Bergziege erspäht und bellte.
»Geh nur«, sagte Wolfrat, »den Sonnenvogel finde ich nun auch allein.«
Und Bruno hetzte davon, der Bergziege hinterher.
Bruno sah dem Jungen lange nach, als dieser allein den steilen Pfad nach oben wanderte.
Hier war alles neu für ihn, zahlreiche Gerüche, überall, auf dem Boden, in der Luft.
Und den Jungen würde er jederzeit wiederfinden.
Seine Spur würde er unter Tausenden erkennen.
***
Am späten Abend erreichte Wolfrat eine Lichtung, die wunderschön war.
Eine kleine Quelle sprudelte aus einem Spalt im Stein, der Wald erfüllte mit seinen herben Düften die Luft und Grillen zirpten im Chor mit den vielen Vögeln.
Die Sonne färbte den Himmel in dunkles Rot, Wolken schimmerten in sattem Orange und ein frischer Wind blies Weidenduft in Wolfrats Nase.
Dann sah er den Sonnenvogel.
Er tänzelte an der kleinen Quelle, streckte sein Gefieder und schüttelte seinen Kopf.
Wolfrat ließ sich auf die weiche Wiese sinken und verschränkte die Beine ineinander.
Dann lachte er laut.
Der Vogel sah den Jungen lange an, der da allein auf der Wiese saß und ihn beobachtete.
Er legte den Kopf schief und betrachtete ihn mal mit dem einen, mal mit dem anderen Auge.
Dann schließlich breitete er seine Schwingen aus und flog davon.
Der untergehenden Sonne entgegen.