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Der Soziopath Und Die Liebe
1. Feuchte Träume
Die zierliche, junge Frau im apfelgrünen Charlston-Kleid sitzt im Schlafzimmer vor ihrem Frisierspiegel. Ihr Haar, im Schnitt ein derzeit modischer Pagenkopf, ist bordeauxrot gefärbt; ihr Hals ist lang, schlank und von fast durchsichtiger Blässe, genau wie ihr gesamter Teint, was ebenfalls einem Trend der frühen Zwanziger-Jahre entspricht. Sie hat große, blaugrüne Augen unter zu nadeldünnen Strichen gezupften Brauen, eine schmale Stupsnase, einen rundlichen, kleinen Mund, volle Lippen, kirschrot bemalt. Die Knospen ihrer kleinen, runden Brüste zeichnen sich ab unter dem hauchdünnen Kleid. Mit einem Kajalstift zieht sie ihre Augenlinien nach. Zwei winzige Stressfalten kräuseln sich senkrecht über ihrer Nasenwurzel.
Leise Klaviermusik im Hintergrund. „Bist du bald soweit?“ ertönt eine raue, männliche Stimme aus dem anliegenden Raum.
„Nur noch ein kleiner Moment, Liebling ... ach Mist.“ Ihre Stimme ist volltönend hell und klar, klingt aber angestrengt.
Die Klaviermusik ist verstummt. Der Irre in Nadelstreifen betritt das Schlafzimmer.
„He Schatz, alles in Ordnung mit dir? Wir müssen nicht ausgehen, wenn du dich nicht gut fühlst.“
Er tritt hinter sie. Blickkontakt im Spiegel. Sie lächelt ihn nachsichtig an.
„Es ist schon o.k., ich hab nur wieder solche Nackenverspannungen. Du weißt schon: dieses ewige Modell-Sitzen ...“
„Dann wird es Zeit, dass meine magischen Hände zum Einsatz kommen.“, kokettiert er selbstverliebt. „Ich werde dich ein wenig massieren.“
Der Irre in Nadelstreifen beginnt jetzt mit sanftem Druck ihren Nacken zu kneten. Er hat unglaublich breite Hände mit langen, dicken, muskulösen Fingern. Sie lächelt ihn an im Spiegel, seufzt und gurrt wohlig.
„Ahhh mein Liebster, das ist schon viel besser ...“
Er drückt. Und knetet. Und massiert. Und flüstert: „Na, Süße, hilft das ein bisschen?“
„Ahhhh, ich liiiebe dich ...“
Der Irre in Nadelstreifen legt jetzt beide Hände seitlich um ihren Kopf; mit einem sehr schnellen, kraftvollen und zugleich beiläufigen Ruck bricht er ihr das Genick.
Zuerst das knackende Geräusch. Dann schwallt noch ein letzter Pulsschlag voll Blut aus ihren Ohren und beiden Nasenlöchern. Ihr Blick ist erstarrt in augenblicklicher, ahnungsvoller Skepsis. Der Irre in Nadelstreifen fasst sie jetzt an den Schultern. Und rüttelt sie. Und schüttelt sie. Und jauchzt: „Jetzt gehts dir wieder richtig gut! Jetzt bist du wieder richtig entspannt ...“
Ihr Kopf wackelt, praktisch nur noch von der Haut des Halses gehalten, wie eine Kasperlespuppe auf dem Rumpf. Von links nach recht. Von oben nach unten. Die Zunge hängt bis zur Kinnspitze heraus. Blutstropfend. Er frohlockt: „Jetzt gehts dir wieder richtig gut! Jetzt siehst du wieder richtig relaxed aus.“ . . .
. . . „Jaa geiiil, wasn heißes Splatter-Video!“ jubelte Hieronymus Petersen. „Schade nur, diesmal keine Titten, und gar kein Aufschlitzen dabei.“
Mit einem Zeigefinger krabbelte er gedankenverloren an seinem daumenkuppengroßen, winzigen Spitz, rubbelte und schrubbelte, ... aaaahh, dieser ewige, innere, dieser innerste, niemals weg-wichsbare, dieser un-erdenkliche – nein, kein Schmerz! – diese Lust! ... ohh ... diese ... diese ... Wahrheit, ... denn die meisten, die wichtigsten Dinge des Lebens waren konkret und nicht abstrakt: Titten, Aufschlitzen, eine wunderschöne, junge Frau, eben noch quicklebendig und gleich darauf grausam abgemurkst. Das waren die unvergleichlichen, konkreten, diese erregendsten Offenbarungen des Lebens!
Er drückte die Rückspultaste der Fernbedienung mit einer Hand, während er mit der anderen gedankenverloren und doch zunehmend eifriger seine Nudel bearbeitete. Diese letzte Szene wollte er noch einmal sehen, etwa ab dem Zeitpunkt, als die Schlampe sagte: „Ahhhh, ich liiiebe dich ...“, aber es war schon zu spät dafür ...
Ebenso konkret wie das Leben selbst war die Ladung Saft, die sich Hieronymus – genannt: der Hit – in seine zwei Wochen alte, von getrocknetem Sperma (und Sonstigem) längst steife Unterhose spritzte: „...uaargll!“
Ermattet und elendig enttäuscht über die verunglückte Wichs-Nummer schaltete Hit den Apparat ab, erhob sich steifbeinig, wankte zu seiner Stereo-Anlage und spürte schmerzlich in den Knochen, wie so oft, dass er nur noch wenige Jahre von den Fünfzig entfernt war. Dabei rutschte ihm die ausgeleierte Jeans halb über die schlaffen Hinterbacken. Er machte sich nicht erst die Mühe, die Hosen wieder hochzuziehen.
Hit hatte sich vor langer Zeit zur Gewohnheit gemacht, seine Hosen am Bund nicht zu eng zu tragen. Sonst hätte er in ihnen nicht genug Platz gehabt für seine Weichteile. – Seit Jahren schon litt er an einem Leistenbruch, und sein Sack sah aus wie eine beachtlich große Albino-Kokosnuss, einen blutleeren Hautlappen davorhängend, der einstmals ein Pimmel gewesen war.
Vor einiger Zeit war Hit wegen einer vergleichsmäßigen Bagatelle (eines Schnupfens, oder so ) bei seinem Hausarzt gewesen, und der hatte ihm erklärt, dass man das größere, (albino-kokosnussmäßige) Problem mit einer unkomplizierten OP ganz schnell aus der Welt schaffen könne. – „Keine große Sache,“ hatte er gesagt, „eine simple Hernie! Schnell operiert; schnell können Sie die Klinik wieder verlassen, und Ihre Krankenkasse übernimmt alle Kosten ...“
Aber Hit war das damals, wie schon lange früher, völlig scheißegal gewesen. Schon als er noch gar keinen Leistenbruch gehabt hatte, war er der Meinung gewesen, die Frauen sollten ihn so nehmen wie er war, oder einfach wegbleiben. Und die Frauen waren weggeblieben. Seit den vergangenen zwanzig Jahren. Und auch das war ihm mittlerweile scheißegal.
In den Puff zu gehen, wollte er sich nicht leisten. Und selbst wenn doch, wäre er sowieso viel zu ehrenkäsig dazu gewesen. Das lag unter seiner – ganz und gar eigentümlichen – Auffassung von Würde.
Abgesehen von seiner Albino-Kokosnuss war er auch sonst ein ziemlich heller Typ: kurz geschorenes, hellblondes Haar, das fast schon bis zum Ansatz des Hinterkopfes zurückwich, blasse, unreine Haut, dicke Stirn- und Augenwülste mit kaum vorhandenen und völlig unsichtbaren Brauen. Stirn und Kinn waren fliehend, der Unterkiefer stark ausgeprägt. Seine Haltung war ungesund vornüber gebeugt, ein krummer Rücken mit zusammengezogenen Schultern.
Die wässrig-trüb glänzenden, blauen Triefaugen, die kartoffelförmige Nase, der weißblonde Fünf-Tage-Bart und zwei breite Zahnlücken (oben und unten) vervollständigten das Gesamtbild: Er sah aus wie die Karikatur eines fast haarlosen Albino-Urmenschen.
Auch seine Bekleidung war im Lauf der Jahre immer nachlässiger geworden, da er irgendwann vor einem Spiegel erkannt hatte, dass sowieso jede Art von Bekleidung irgendwie absurd an ihm aussah, eben mehr wie eine Verkleidung. Woran das lag, hatte er nie wirklich herausfinden können. Er hatte nur die Erfahrung gemacht, dass Leute umso weniger über ihn lachten, desto weniger er sich Mühe mit seinen Klamotten machte.
Erwähnenswert wäre noch, dass er Linkshänder war, wodurch seine Bewegungen zusätzlich fremdartig und grotesk wirkten.
Seine einzig wahre große Liebe galt der Musik. (Daher der Spitzname Hit.) Der Musik und seiner kostspieligen Stereo-Anlage. Er war von den technischen Details ebenso fasziniert wie von deren akustischem Ergebnis. Zärtlich strich er mit Knubbelfingern über seine umfangreiche Schallplatten-Sammlung. Ohne es zu merken, lächelte er dabei ein breites Zahnlücken-Lächeln und sah mit seinen glitzernden Augen irgendwie irre aus.
Normalerweise war er ein begeisterter Fan der aktuellen Acid-Jazz- und Trip-Hop- Szene, aber heute stand ihm der Sinn mehr nach einem Klassiker. Er entschied sich für die LP Just a poke von Sweet Smoke und legte sie auf.
Gleich die ersten Takte der Musik verschafften Hit eine warme, melancholische Sonne im Bauch, deren Hitze dann sternförmig seinen gesamten Körper durchflutete. Er trat ans Fenster. Es war ein dunkelgrauer, verregneter Freitagabend im Spätherbst. Nebel bildete sich schon über den Dächern, durchzuckt vom bleichen Licht der Autoscheinwerfer. – Schwache aber heimtückisch feuchte Kälte dort draußen, die einem unter die Haut bis in die alternden Knochen hineinkroch.
Aber immerhin Freitagabend, Wochenende, Ausschlafen mit einem großen A! Keine Fliesenlegerei am kommenden Tag! Er beschloss bald, in seiner Stammkneipe noch einen saufen zu gehen. Er drehte langsam die Lautstärke der Musik herunter, bevor er sie – wenn auch wehmütig – abschaltete. Dann schulterte er seine enorm hässliche Windjacke und verließ die Wohnung.
Als er in der winzigen Aufzugkabine nach unten fuhr, stellte er noch, dümmlich grinsend, einen ziemlich gewichtigen Koffer ab, um seine Nachbarn zu ärgern.
Ahhh, wie gut das kam! Das konnte man doch mal so sehn, hmmm?
Tatsächlich war es so, dass sich Hit sowieso nie und in keiner Situation einen Furz verkniff. Und er war in der Lage wenigstens alle zehn Minuten so richtig Einen hinauszublasen. Demzufolge roch es in seiner Wohnung permanent ganz ähnlich wie in einem Affenkäfig. Nur ekliger.
Es war ihm trotz allem nur halb bewusst, wie sehr er aufatmete, als er die Haustür öffnete und in die, kühle, frische, dunkelgraue Herbstluft hinaustrat.
Seine freie Nacht.
Wieder ein Schlafzimmer, dieses Mal modern eingerichtet. Parkettboden. Ein schwarzes, französisches Bett mit roten Bezügen. Weiße Tapeten. Kleiderschränke und zwei, das Bett flankierende, Nachtschränkchen in hellem beige. Designerposter schmücken die Wände. Ein großer, schwarzer Koffer liegt auf dem Bett.
In der Totalen: ein junger Mann. Dunkelhaarig. Braungebrannt. Schlank. Blue-Jeans. Nackter, athletischer Oberkörper. Er packt zusammengefaltete Hemden aus einem geöffneten Schrank in den Koffer.
Die Tür zum Schlafzimmer wird geöffnet.
Auftritt: eine wohlgeformte, junge Frau in kurzem Kleid. Blond. Langhaarig. Püppchenhaftes Gesicht. Man kennt den Typ aus unzähligen amerikanischen Vorabend-Serien.
„Cliff, Cliff! Was tust du da?“
Er weicht ihrem Blick aus, der seinen dringlich einzufangen sucht, während sie ihm mehr und mehr zu Leibe rückt. Er wendet sich schließlich ganz ab, zeigt ihr die kalte Schulter. „Wir haben zur Genüge darüber gesprochen.“, sagt er gepresst. „Ich packe. Ich ziehe aus.“
„So, du machst also Ernst?“
„Ja. Oder hast du gestern Abend gedacht, ich scherze?“
Sie schweigt, verschränkt nur die Arme vor der Brust, was ihn dazu zwingt, sich umzudrehen und sie anzusehen, um ihre Reaktion zu erkennen. Ihr Blick ist zornig und traurig zugleich.
„Hör mir jetzt zu, Candy: Ich hab dir alles lang und breit erklärt. Es ist einfach meine Berufung, meine Bestimmung, Kinderarzt zu werden. Ich fahre nach New York, um dort aufs College zu gehen. In zwei Stunden geht mein Zug.“
„Das ist nicht der einzige Grund, warum du mich verlässt!“
„Auch darüber haben wir schon gesprochen ...“
„Es ist eine andere Frau!“
„Du weißt, dass ich niemals aufgehört habe, Sheila zu lieben.“
Sie schlägt die Hände vors Gesicht. „Warum hast du dann je etwas mit mir angefangen?“
Er setzt sich auf das französische Bett und rauft sich die Haare.
Endlich spricht er: „Die letzten fünf Jahre mit dir zusammen waren wunderschön. Ich werde dich niemals vergessen. Aber ich habe tatsächlich niemals aufgehört, Sheila zu lieben. Ich hatte gedacht, sie wäre tot, ... der Bombenanschlag damals in Tel Aviv ... sie war als Reporterin für die NewYork-Times dort tätig gewesen ... dann ihre Amnesie, ... seit dem Unglück ist sie blind ... und jetzt haben wir uns wiedergetroffen ...“
Tränen in ihren Augen. In Großaufnahme. Dramatische Musik, langsam anschwellend.
„Versteh mich doch ...“, stammelt er weiter. „ich habe Sheila wirklich jahrelang für tot gehalten ... das Leben musste weitergehen. Und jetzt ist sie mir ganz zufällig über den Weg gelaufen. Sie ist immer noch die Liebe meines Lebens!“
Candy hält ihre Tränen jetzt nicht mehr zurück und schafft es durch ihr Schluchzen endlich, seinen bestürzten Blick einzufangen. Herausfordernd schaut sie ihm genau in die Augen.
„Und Kinderarzt willst du also werden.“, sagt sie nach einer theatralischen Pause. „Dann musst du Kinder aber sehr lieben.“ – Jetzt hochdramatische Musik. – Sie legt eine flache Hand auf ihren Unterbauch. „Wie sehr wirst du dann wohl dein eigenes Kind, unser Kind lieben?“
Das letzte Bild: sein erschrockenes Gesicht in Großaufnahme. Dann der Abspann: Wirbelsturm der Liebe! . . .
. . . „Uuhmmmmoahh.“ seufzte Maria Andropoulos wehleidig, als wieder mal eine Folge ihrer Lieblings-Seifenoper zu Ende ging. – Und immer, wenn es so richtig spannend wurde! Wie würde Cliff (oder hieß er Biff?) sich entscheiden? Für seine wahre, große Liebe? Oder für sein eigen Fleisch und Blut, noch ungeboren und unschuldig im Leib seiner Verlobten?
Marias eigenes, längst geborenes, weil schon zehn Monate altes Kind, lag, mittlerweile völlig vergessen, schon seit über einer Stunde in seiner Baby-Wanne. Das Wasser war längst kalt geworden. Aber Maria konnte das Schreien des Kleinen nicht hören, da sie die Badezimmertür verschlossen hatte. In der Küche roch es verbrannt, weil dort seit ungefähr der gleichen Zeit ein Topf voll Milch gänzlich am Verkochen war. Maria bekam von all dem nichts mit. – Sie war verloren, eine Schiffbrüchige im Meer ihrer Träume ...
Andererseits konnte man sich Biff (oder Cliff) ganz toll als Kinderarzt vorstellen, so nobel, so ernst und erhaben. Sie überlegte sich, wie er wohl in einem weißen Arztkittel aussehen würde – mit nichts darunter. Gleich darauf verspürte sie, wie etwas zwischen ihren wabbeligen und schlaffen Schenkeln feucht und heiß anzuschwellen begann, wie etwas dort unten sich öffnete. Ein säuerlich, modriger Verwesungsgeruch stieg von dort unten auf, von dem sie sich einen würzigen Schwall, genussvoll lächelnd, in die Nase sog.
„Aaaaachhh!“ seufzte sie erneut. Wie sehr ähnelte dies ganze Drama doch ihrem eigenen Schicksal, ihrem eigenen, so traurigem Los!
In Wahrheit hatte sie ihr Verlobter – ein gleichaltriger Grieche namens Stavros – erst nach der Geburt des Kindes verlassen. Erst nach der Schwangerschaft, was untypisch war, hatte sie begonnen, in Blitzgeschwindigkeit aufzuquellen wie eine Moussaka im Holzofen ...
Eines Abends, als Stavros müde von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte er sich wieder einmal eher widerwillig in ihre unersättliche Gier nach Sex gefügt. – Dabei war dies die Eigenschaft gewesen, die er früher am meisten an ihr geliebt hatte! Und als sie beide sich die Kleider von den Leibern gerissen hatten (so machte man Es, wenn man Griechisch war, auch wenn man keine besondere Lust Dazu hatte), wurden seine Augen plötzlich so groß wie in Olivenöl gebratene Zucchini-Scheiben: Er musste feststellen, dass ihre Schläuche jetzt schon so weit herunterhingen, dass es aussah, als hätte sie 3 (drei!) Bauchnäbel! Wortlos hatte er sich wieder angezogen und begonnen seine Koffer zu packen. Sie hatte gefragt, gefleht und gebettelt. Als Antwort hatte sie fortlaufend nur fassungsloses Kopfschütteln von ihm geerntet, das mit jedem Mal noch etwas hysterischer wurde. Ohne ein weiteres Wort hatte er die Wohnung verlassen. Hatte sich, bevor er die Türe ins Schloss fallen ließ, noch einmal umgewandt, und es glitzerten irrwitzige Freudentränen in seinen Augen. Sah aus, als könnte er gleich anfangen, den Sorbas zu tanzen.
Seither hatte sie nie wieder etwas von ihm gesehen oder gehört. Jedenfalls nicht von ihm persönlich. Unterhaltszahlungen überwies er regelmäßig auf ihr Bankkonto. Ein anderer, befreundeter Grieche hatte ihr irgendwann erzählt, Stavros hätte seinen aussichtsreichen Karrierestart als Ingenieur abgebrochen und wäre nun Wirt einer stadtbekannten Säuferkneipe geworden ...
Dass er sie so einfach hatte sitzen lassen, konnte sie noch halbwegs verstehen, aber dass er auch das Kind ... das Kind[? – Das KIND!
Wie eine Kanonenkugel schoss ihr fetter, runder Arsch aus dem Sofa. In ihrem Gesicht stand unermesslicher Schrecken geschrieben, und nur für diesen kurzen Augenblick, nur für den Bruchteil einer Sekunde enthielten ihre geweiteten Augen einen vagen Schimmer von Klarheit, Intelligenz – oder auch nur schockierter Selbsterkenntnis. Sofort hatte sie sich aber wieder unter Kontrolle, denn ihr kognitives Zentrum war wie in eine schützende Daunendecke eingekuschelt, die alles Anstrengende oder gar Unangenehme von ihm fernhielt. Dadurch war Maria glücklich frei von jeglichem Unrechtsbewusstsein, soweit es ihre Person anging. Sie genoss die Freiheit des komatösen Bewusstseins, welches nur registrierte, was leicht konsumierbar war: Sie konnte jetzt auch den Kleinen schreien hören; und ihr Geruchssinn teilte ihr mit, dass in der Küche ein schönes Stück Arbeit auf sie wartete. (Welches auch noch bis morgen dort warten konnte.) Das Badezimmer war beheizt, der Kleine würde schon nicht krank werden. Und falls doch, konnte sie ihn ja eine Weile bei ihren Eltern abgeben ... Ihre Augen hatten längst wieder den für sie typischen, trüben Glanz angenommen. Ihre wulstigen Lippen erblühten zu einem verklärten Lächeln. – Es würde ihr immer leicht fallen, ihre Ausreden im Brustton der Rechtschaffenheit vorzutragen, weil sie ja (so praktisch!) selber an sie glaubte. – Jawohl, sie hatte ihr Leben im Griff!
Nachdem sie das Notwendigste erledigt hatte, legte sie den Kleinen in sein Baby-Bettchen. Er war schon eingeschlafen, noch bevor sie ihn richtig zugedeckt hatte. Trotzdem konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, ihn noch ein bisschen zu zwicken, zu zwacken und zu knuddeln.
„Mein sühüßer, klaheiner Vasiliii“, sang sie dabei laut in einer soeben selbst erfundenen Melodie, „du musst jetzt schöhöön machen Bu Bu, weil die Mamiii will noch Ada Ada geeehn ...!!“
Wie süß und niedlich er doch war, ihr kleiner Vasili! Diese unwiderstehliche Niedlichkeit erinnerte sie (wie schon oft) an etwas. An etwas anderes, nein, an jemand anderen. Die Erinnerung versuchte aufzusteigen, aber je höher sie stieg, desto schneller und härter wurde Marias Herzschlag. Die Erinnerung blieb zuerst stecken, dann schlüpfte sie langsam in die Eingeweide von Marias Unterbewusstsein zurück.
Hätte ihre mentale Verdrängungs-Peristaltik nicht so regelmäßiges und reibungsloses Geschäft verrichtet, würde sie sich jetzt wieder der Episode mit den vier süßen Baby-Kätzchen ihrer allerbesten Freundin entsinnen: Maria hatte die vier Wildfänge an einem knalleheissen Hochsommertag („Husch! Husch!“) auf ihren unüberdachten Balkon ausgesperrt und danach – wie so vieles andere – einfach vergessen. Den ganzen Vormittag und Nachmittag bis zum Abend. Das Ergebnis war, wie man sich denken kann, ziemlich unappetitlich gewesen. Vergleichsweise phantasievoll, wenn auch völlig unglaubwürdig war die Geschichte, die sie dann ihrer Freundin, welche gerade von einem Wochenendtrip nach Griechenland zurückkehrte, am Flughafen erzählt hatte.
An diesem Tag hatte sie dann auch, dem Verlobten auf den Fuß folgend, ihre allerbeste Freundin verloren.
... Aber das war ja alles Vergangenheit, weder der Rede, noch eines Gedankens wert. Und was hatte dieser dubiose Erinnerungsbrei überhaupt mit ihrem süßen Vasili zu tun? – Dinge, die sie nur verwirrten, vergaß sie am besten aktiv und bewusst, und somit noch schneller als alles Übrige.
Vasili indessen, dem schon während der ganzen Zeit das frühzeitig an den Schläfen ergraute, wenn auch ansonsten tiefschwarze Lockenhaar seiner Mutter über Mund und Nase wehte, begann zu husten und im Gesicht blau anzulaufen. Maria bemerkte es und zuckte zurück. – Jetzt aber Schluss, sagte sie sich –, bevor der Kleine noch aufwachte und wieder zu schreien anfing.
Im Badezimmer schmierte sie noch etwas Farbe auf ihr feistes Kindergesicht und rund um die großen, braunen Kuhaugen, dann grapschte sie nach ihrem Mantel aus schwarzem Latex und verließ die Wohnung. Heute war ein schöner Abend, um auszugehen und vielleicht dem Mann ihres Lebens zu begegnen.
Auf dem Weg nach unten im Treppenhaus spähte sie häufige Male verstohlen um die Ecken. Sie wollte sicher gehen, dass nicht wieder der große Rüde des Nachbarn frei herumlief. Immer wenn der Rottweiler sie sah, sprang er ihr nämlich nach und hörte nicht mehr auf, mit seiner feuchten Nase in ihrem Schritt zu schnüffeln und mit der rauen, langen Zunge umherzuschlabbern.
Das war immerhin peinlich, – falls es jemand sah, – wenn auch gar nicht so unangenehm. Schon gar nicht, wenn sie einen Rock anhatte mit nichts darunter. Ja. Ja. Manchmal musste man sich eben mit den kleineren Freuden des Lebens begnügen. Heute aber war kein solcher Abend, es war Freitag-Abend, und es würden rudelweise knackige, junge Männer, zumal in angetrunkenem Zustand, auf freier Wildbahn umherstreifen.
Maria trat selbst ins Freie.
Sie war auf der Jagd. Sie begab sich auf ihren Raubzug, der von einem stadtteilweiten Hundegejaule und dem schrillen Maunzen unzähliger, rolliger Kater eingestimmt wurde, sobald die Tiere Marias läufige Witterung aufgenommen hatten. Berauscht von dieser kleinen Nachtmusik zwängte sie sich in ihren Kleinwagen und brauste davon.
Hinter den sich langsam auflösenden Nebelschwaden kam jetzt ein blutroter Mond zum Vorschein. Die Luft roch nach erstem Schnee.
2. Die Löwin und der weiße Jäger
Der Abend verlief nicht ganz wie erhofft für Maria.
Sie war bis jetzt in drei Discotheken und fünf Musik-Kneipen gewesen und hatte nirgends Beute schlagen können. Das Wild hatte sich jedes Mal rechtzeitig auf sichere Entfernung zurückgezogen, sobald die Löwin das Revier betreten hatte und ihre hungrigen Augen umherschweifen ließ.
Zuletzt hatte sie sich, mangels besserer Gelegenheit, an einen total abgefüllten 60-Jährigen herangepirscht, der vor sich hindöste und völlig wehrlos in einer abgelegenen Ecke kauerte. Ein leichtes Opfer, dachte sie. – Natürliche Auslese! – Aber gleich nachdem sie sich neben ihn gesetzt und begonnen hatte, ihm von ihrer großen Einsamkeit, hier in der Fremde, zu klagen, wurde er überraschend schnell wieder lebendig. Wie ein Blitz (Blitze schießen tatsächlich nach oben!) schoss er hoch, und rannte, sich beide Hände schützend vor den Mund haltend, zum Klo. Zu seinem Glück ging die Türe nach innen auf, und er hatte sich mit zwei, drei langen Sätzen aus der Gefahrenzone gebracht. Während der Wirt gerade eine CD auswechselte, konnte man sein urschreihaftes Gekotze im ganzen Lokal hören.
Maria blieb zuerst eine Weile auf der Eckbank sitzen und war dadurch dem Gelächter sämtlicher männlicher Gäste ausgeliefert. – Lachende Hyänen! Was wussten die schon? – Und erst als sich die allgemeine Aufmerksamkeit wieder attraktiveren Themen zuwandte, watschelte sie im Eiltempo hinaus auf die dunkle Straße.
Maria hatte nun fürs erste keinen Plan mehr. Sie war verwirrt. Denn etwas, etwas ganz tief in den dunklen Innereien ihres Unterbewusstseins war zu Fleisch geworden, hatte Gestalt angenommen und sich erhoben. Es war den langen Weg treppauf geschritten und klopfte nun beharrlich von unten gegen die Falltüre, die zu Marias Oberstübchen führte. Es versuchte sie davor zu warnen, dass etwas Bestimmtes an ihrer Wahrnehmung des gegenwärtigen, eigenen Daseins ganz grässlich verkehrt war.
Trotz vorübergehender Desorientiertheit (sie hatte längst gelernt, mit dem Auftreten solcher Zustände zu leben, oder besser gesagt: sie zu ignorieren), musste sie irgendwie in Bewegung bleiben. Sie war trotz ihres beträchtlichen Körperfetts extrem Kälte-empfindlich, und ihr Latex-Mantel hielt sie nicht besonders warm. (Er sah aus wie echtes Leder, aber das täuschte.) Der Inbegriff aller Glückseligkeit war für sie immer ein warmes Nest gewesen, ein Ort, gänzlich abgeschirmt von allen widrigen Zugriffen durch die Außenwelt. Dünnhäutig, wie sie in Wirklichkeit war, sehnte sie sich unbewusst nach der Geborgenheit einer Plazenta zurück. Suchend, ohne zu wissen wonach, irrte sie weiter.
Was konnte sie sonst tun? Sie hatte all ihre Jagdreviere durchstreift und war diesmal leer ausgegangen. Auch solche Zeiten gab es für Raubtiere. Die einzige Möglichkeit, doch noch Beute zu schlagen, bestand darin, in fremdes, unbekanntes Territorium vorzudringen. Ein Taxi wäre jetzt nicht schlecht. Aber sie war schon seit längerer Zeit an keinem Taxi-Stand mehr vorbeigekommen. Dasselbe galt für eine Telefonzelle, die noch mit Münzen bedient werden konnte. Handy und Telefon-Karte hatte sie (man ahnt es) versehentlich zuhause liegen lassen. Sie las diverse Straßenschilder, und die Straßennamen waren ihr völlig unbekannt. Der Name der Straße, in der sie ihr Auto geparkt hatte, war ihr ebenfalls entfallen.
Aus schierer Verzweiflung hatte sie sich im Arbeiterviertel der Stadt verlaufen.
Es war kurz vor Mitternacht. Einige Kneipen mussten noch geöffnet sein. Dort konnte sie telefonieren. Sie hatte in dieser Gegend nur wenige gewohnte Anlaufstellen. Also sollte hier doch noch mehr geboten sein als das, was sie kannte. Die Arme um den Leib geschlungen, den Oberkörper nach vorne gereckt, watschelte sie weiter und hielt Ausschau.
Sie hatte beinahe ein Ende der offensichtlichen Hauptstraße des Viertels erreicht – und diese war sehr spärlich mit Leben bestückt –, da flog ihr eine einsame, von irgendwo daher gewehte Schneeflocke mitten ins Auge. Maria riss heftig den Kopf zur Seite, und mit ihrem anderen, zornigen Auge erblickte sie etwas, das wie ein helles Licht am Ende eines Tunnels aussah. Es war tatsächlich das Leuchten einer Laterne in einer dunklen, engen und langen Seitenstraße. War es eine Boutique? Sie öffnete jetzt auch das von der Schneeflocke misshandelte Auge, um genauer zu sehen – und erkannte das Logo einer bekannten Biermarke. – Es war eine brennende Säufersonne, bingo!
Als sie in die Seitenstraße trat, ließ der Wind merklich nach. Die hohen, eng zusammenstehenden Häuser boten einen guten Schutz. Aber je weiter sie auf der Straße ging, desto weniger gelang es ihr noch, sich als Raubtier zu fühlen. (Sie war tatsächlich stolz auf all ihre kindischen Tagträume, glaubte, das mache sie als Frau interessanter.) Obwohl hier, abseits des Verkehrslärms der Hauptstraße, das Hundegejaule und sonstige Tierlaute noch intensiver wurden, sank ihre Stimmung. Die Gullies dampften; ein riesiger, schwarzer Kater kreuzte ihren Weg und fauchte sie an. Es roch nach Pipi und Pups.
Maria hatte von der Mutter ihren Teil Aberglauben und vom Vater den seinen Teil Feigheit vermittelt bekommen, was vollauf genügte, um sie in dieser neuen Situation (gleichsam kindisch) in Angst und Schrecken zu versetzen. Sie verfiel in Laufschritt.
Sie musste die Kneipe erreichen. Jede Kneipe hatte ein Telefon. In jeder Kneipe waren Menschen. Was hier draußen in der finsteren Gasse sein Unwesen trieb, mochte sie sich nicht wirklich ausmalen. Aber wie immer, wenn ihre Angst Überhand gewann, versagte auch ihre Verdrängungs-Peristaltik völlig. Keine Verstopfung, sondern ein totaler Verschluss. Ausmalungen bekamen dadurch ein unkontrollierbares Eigenleben. Sie erkannte das Problem und griff zur bevorzugten Methode, mit der sie an fast jedes Problem heranging: sich davon ablenken. Während sie weiter dem Licht der Säufersonne entgegenstrebte, überlegte sie, ob sie in der Kneipe vielleicht eine große Pizza verputzen konnte, belegt mit Meeresfrüchten, Eiern, Speck und extra viel Käse, dampfend heiß und triefend vor Fett. Bei dem Gedanken wurde ihr etwas wärmer im Unterleib, und sie erreichte die Kneipe mit fast normaler Pulsfrequenz.
Dann tat sie etwas, das sie vielleicht besser nicht getan hätte: Sie trat rasch durch die Eingangstüre, ohne auf den Namen der Kneipe zu achten, der in großen Lettern über der Tür zu lesen stand: TAVERNE ZUM STAVROS.
Hit hatte den Abend schön ruhig angehen lassen.
Unterwegs war er seiner blinden Nachbarin aus der gegenüberliegenden Wohnung begegnet; und er hatte noch ein paar Takte mit ihr geplaudert und geschäkert. Die hübsche junge Frau war immer sehr nett zu ihm gewesen, (was leicht erklärbar war, da sie ihn nicht sehen konnte), und Hit liebte es, ihr immer wieder kleine, neckische Streiche zu spielen: Als sie ihn zu guter Letzt nach dem Weg fragte, lenkte er sie genau in die falsche Richtung, die sie zur nahe gelegenen Autobahn-Auffahrt führte. Mit ihrem Blindenstock vor sich her klappernd war sie dann in die Nacht entschwunden.
Später saß Hit an der warmen Theke und ließ sich von seinem Stammwirt Stavros eine Halbe Bier und ein Glas selbstgebrannten Ouzo ausschenken, den Stavros nach jedem seiner Sommerurlaube aus Griechenland mitbrachte. Außer den beiden Männern war die Kneipe fast leer. Auf den unteren Bänken saßen noch ein paar Versackte, mit denen nicht mehr viel anzufangen war. Stavros und Hit gerieten ziemlich schnell in eine Debatte über die Musik (weinerliche, griechische Liebesschnulzen, interpretiert von weinerlichen, griechischen Liedermachern), die Stavros zu laufen hatte. Stavros weigerte sich wie immer kategorisch, eine von Hits sonderbaren CDs aufzulegen. Mit einer großen Geste verwies er auf die Gäste an den unteren Tischen, die man ja schließlich auch nicht vergraulen dürfe. Schließlich, nach einigem Hin und Her, einigten sie sich auf das Radio.
Dann betrat Hits guter Kumpel Winston-Fernando-Ramirez das Lokal.
„Hallo Hit, mein liebel Fleund“, freute sich der kleine Sri-Lankese herzlich, „wie sön, dass du hiel bist!“ Winston lächelte strahlend und breit.
Hits Ausdruck blieb eher gelassen bis skeptisch. „Na, Erfolg gehabt?“ fragte er trocken.
Winstons schimpansenhaftes Gesicht fiel sofort wieder in sich zusammen. Wie bei einem jungen Hund konnte man jede seiner Stimmungen und Launen auf diesem Gesicht ablesen.
„Nein, natüllish nisht.“, antwortete er leise, mit gelegentlich trotzigem Unterton. „Sweigen! Immel nul Sweigen und Sweigen! Keinel weiß etwas. Keinel hat etwas gesehn.“
Winston-Fernando-Ramirez war erst vor zwei Jahren nach Deutschland gekommen. Er war, wie gesagt, so kurz, wie sein Name lang war, etwa einssechzig. Er war Mittvierziger, kultiviert, (sehr!) empfindsam, feinfühlig und Harmonie-bedürftig, (falls die Harmonie nicht konträr zu seinen Bedürfnissen stand. Dann waren etwaige weibisch-hysterische Anfälle seinerseits nicht auszuschließen.) Sein Aussehen hingegen hätte auf solche Charaktereigenschaften nicht zwingend schließen lassen. Schon gar nicht auf den allerersten Blick. Erst durch Verhalten und Mimik kamen sie anfangs vage, dann aber allzu deutlich zum Vorschein.
Etwa auf einer Fotografie betrachtet, hätte Winston-Fernando-Ramirez ganz andere Assoziationen geweckt: Er hatte unglaublich kräftige und lange Arme mit pratzenhaften Händen. – Unglaublich deshalb, weil ihm die Hände, wenn er aufrecht stand, fast bis zu den Knien reichten, unglaublich außerdem, weil die kräftigen Arme nicht zu den schmalen, abfallenden Schultern passten. Sie sahen aus wie angenäht. Es schien so, als wäre durch das unnatürliche Gewicht der Arme seine Haltung derart schlampig vornüber gebeugt, dass er es kaum noch vermochte, wirklich aufrecht zu stehen. Dies bewirkte, dass ihm die Hände bei gewohnter Haltung noch ein gutes Stück bis unter die Knie reichten. Er kam tatsächlich noch deutlich krummer daher als Hit.
Ähnlich verhielt es sich mit der Physiognomie seines Gesichtes: Stirn-, Kinn- und Kieferpartie waren ebenfalls deutlich vormenschlicher als bei Hit ausgeprägt. Unter dicken Wülsten und buschigen, schwarzen Brauen blinzelten tiefliegend zwei kleine, vergnügt und listig aussehende Knopfaugen. (Was ebenfalls täuschte. Winston war weder besonders schlau noch humorvoll.) Seine Hautfarbe war so dunkel wie die eines Afrikaners. Er hatte üppiges, kurzgeschnittenes, schwarzes Lockenhaar.
Winston war nach Deutschland gekommen, um etwas über das Verbleiben seines Zwillingsbruders Antonio-Gaylord-Ramirez herauszufinden. Sein Bruder hatte als Heilerziehungspfleger in einem Behindertenheim hier in der Gegend gearbeitet. In dieser Zeit hatte er mit einer Gruppe von neun geistesgestörten Jungen einen Ausflug in den städtischen Zoo unternommen – und wurde dann auf dem Gelände dieses Zoos zum allerletzten Male leibhaftig gesehen. Er verschwand völlig spurlos, ohne den allerkleinsten Hinweis. Zuerst gemeinsam mit seiner Gruppe. Jedoch fand man die neun Jungen mit Down-Syndrom etliche Tage später völlig verwahrlost im anliegenden Waldgebiet auf. Keiner von ihnen konnte irgendetwas darüber berichten, was nun wirklich geschehen war. Sie schienen sich nicht einmal an ihren vormals sehr beliebten Betreuer zu erinnern. Es war, als ob er niemals gelebt hätte. Kurios war vor allem, dass sich in Begleitung der Kinder ein Schimpanse befunden hatte, der zeitgleich mit Antonios Verschwinden aus dem bewussten Zoo entlaufen war. Der Schimpanse schien der neue Anführer der Kinder geworden zu sein. – Das Ganze war mehr als nur mysteriös. Es war unheimlich.
Während der vergangenen zwei Jahre hatte Winston nun gesucht und geforscht und gefragt und recherchiert – bis jetzt ohne jegliches Ergebnis. In dieser Zeit hatte er Hit kennen gelernt und glaubte nun eine Art Ersatzbruder in ihm gefunden zu haben. (Tatsächlich bestand zwischen den beiden eine gewisse, bizarre, Völker-übergreifende Familienähnlichkeit.) Da Winston, sich weniger am Aussehen sondern mehr an Duftmarken orientierte, fand er, dass einfach die Chemie zwischen ihnen beiden stimmte. Hit dagegen empfand das Verhältnis nicht als solchermaßen innig, wodurch vorprogrammiert war, dass Winston ihm ab und zu gewaltig auf die Nerven ging. (‚Immerhin bin ich ihm in der Entwicklung um ein paar Millionen Jahre voraus. Ich bin wenigstens humanoid.‘, dachte Hit oft selbstironisch.)
„Heute bin ish nosh mal auf dem Polizeileviel gewesen“, schnatterte Winston drauflos, „wie die Beamten mish dolt behandelt haben ...“ – Winston holte tief Luft, was kein gutes Zeichen war. – „ ... das wal so eine Unvelsämtheit! Das wal soooo eine UNVELSÄMTHEIT! Sie haben da gesessen und gelasht. Sie meinten, einige Zeugen hätten ausgesagt, del entlaufene Simpanse hätte gloße, gloße Ähnlishkeit mit meinem Bludel gehabt. Sie slugen mil vol, mal in den Zoo zu gehen und dolt nachzuflagen!“
(Tatsächlich hatte Winston es niemals gewagt, diesen Zoo zu betreten. Er hatte es sich einige Male fest vorgenommen, aber er war nicht einmal bis zum Kasseneingang gekommen. Schon auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte ihn jedes Mal ein namenloses Grauen gepackt, das ihm die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Es gab freilich keinen klar erkennbaren Grund dafür. Vielleicht waren es Gedanken- und Gefühlsreste seines Zwillings, mit dem er zeitlebens in telepathischer Verbindung gestanden hatte. Vielleicht spürte er dessen Agonie. Vielleicht war es aber auch ein Instinkt aus grauer Vorzeit. Der Instinkt des Beutetiers, das den heißen Atem des Räubers im Hinterhalt spürte. – Jedenfalls war seine archaische Furcht dann immer größer gewesen als seine Bruderliebe, und wie eine aufgestöberte Maus hatte er, Haken schlagend und wuselnd, das Weite gesucht.)
„Diese Beamten, diese fleshen Beamten!“ schimpfte und schnatterte Winston weiter. „Man sollte sie alle, alle einspellen! EINSPELLEN sollte man diese UNMENSLISHEN, UNVELSÄMTEN UNMENSEN!“
Da war es wieder! – Gleich bekommt er wieder einen dieser weibisch-hysterischen Anfälle, ging es Hit durch den Kopf. – Dies hier war nur das Vorbeben, denn man konnte immerhin noch verstehen, was Winston artikulierte. Wenn er richtig loslegte, würden seine Ergüsse von dem aufgeregten Geschnatter eines echten Schimpansen nicht mehr zu unterscheiden sein.
„Tjaaa, das kann man mal so sehn, hmmm“, äußerte Hit sich zaghaft und furzte laut.
„ABEL, ABEL, ABEL ...“
„Psst, Still!“ Hit hob seine Linke und runzelte die kaum vorhandene Stirn. „Da kommt gerade eine wichtige Durchsage im Radio.“
Natürlich war das nur ein Ablenkungsmanöver. Immerhin erfolgreich, denn Winston verstummte folgsam. Aber Hit hatte Recht. Es gab tatsächlich eine Verkehrsmeldung:
Piiiep. Achtung Autofahrer! Fünf Kilometer Stau auf der A Sieben Richtung Irgendhausen sowie in der Gegenrichtung – wegen mehrfachen Unfalls mit vielen Toten und Verletzten ...
„Das ist hiel bei uns“, sagte Winston.
„Pssssst!“, machte Hit.
... berichtigen: Das ist kein einfacher Unfall, sondern eine Massenkarambolage. Eine offenbar blinde junge Frau irrt orientierungslos über beide Fahrbahnen. An alle Einwohner des Stadtteils Süd: Wer kennt oder vermisst eine blinde junge Frau? Melden Sie sich bitte umgehend bei der nächsten Po ...
„So ne Massenkarambolage hatten wir hier vor zwei Jahren schon mal“, sagte Stavros mit tiefer, rauer und versoffener Stimme, „ich erinnere mich genau daran, weil nämlich gleich am nächsten Morgen unser Hausmeister bestialisch ermordet wurde. Er war doch so ein hilfsbereiter, netter Mann ...“
„Pssssssst!“ machte Hit.
... wir später, liebe Hörer, da kommt gerade eine neue Nachricht herein: Die junge Frau ist soeben von einem Tanklaster erfasst und gleich darauf zwischen zwei aufeinanderprallenden Fahrzeugen zerquetscht worden. Es hat mehrere große Explosionen gegeben, und es ist zu weiteren Unfällen gekommen. Löschfahrzeuge und Rettungswagen versuchen bislang vergeblich ins Krisenzentrum vorzudringen, aber Rettungshubschrauber sind unterwegs. Wir bitten alle Kraftfahrer, dieses Gebiet weiträumig zu umfahren ... piiiep ... und jetzt, liebe Hörer, spielen wir den neuesten Hit von ...
Hit grinste wie ein Honigkuchenpferd. Seine blauen Augen glitzerten wässrig, und seine Zahnlücken klafften wie schwarze Felsspalten. Er streckte Stavros sein Schnapsglas hin und sagte: „Darauf mach mir noch Einen. Einen von dem Guten. Aber einen Zweistöckigen.“
Stavros fiel die Kinnlade herunter. Seine Augen wurden zuerst groß, dann traurig. Mit seinem leichten Silberblick und diesem traurigen Gesicht hatte er eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jungen, bartlosen Mario Adorf. (Santer, kurz bevor er einen Unbewaffneten erschießt.) Der Schmerz dieser Welt war auf seine Stirn gemeißelt.
„Das Ganze scheint dir noch zu gefallen“, sagte er, „Hit, hast du denn gar kein Herz? Blutet es nicht mit all diesen Menschen?“
„Neee, wieso? Endlich maln richtiger Realo-Splatter. Scheiße bloß, dass ich nicht zugucken konnte. Jetzt lass mich wenigstens einen darauf feiern.“
Kopfschüttelnd füllte Stavros einen doppelten Tsibouro in Hits leeres Glas.
„Hit, mil glaut vol dil.“, sagte Winston mit gesenkter, bedeutungsschwangerer Stimme.
Hit kippte sich den Doppelten in einem Zug hinter die Binde. Dann beugte er sich wieder nach vorne. Seine Wangentaschen blähten sich für einen Moment auf. Seine Augen quollen aus ihren Höhlen und sahen aus wie Gletscher. Dann prustete er los. Er lachte wie ein Irrer. Seine Augen schienen Tränen hinauszusprühen, während er sich schüttelte.
Alle starrten ihn an.
„Das ist Sex!“, kicherte er wie eine alte Hexe. „das ist noch viel, viel besser als Sex. Nur schade, diesmal schon wieder keine Titten und gar kein Aufschlitzen dabei. Aufschlitzen ist von allem das Allergeilste, kann ich euch sagen!“
„Sag mal, Hit“, fragte Stavros – dem ein Licht aufzugehen schien – „hast du uns nicht schon mal erzählt von deiner jungen, blinden und außergewöhnlich hübschen Nachbarin?“
„Jau!“, feixte Hit und deutete mit dem Daumen hinter sich auf eine der Lautsprecher-Boxen. „Jau, jau. Das war sie. Kann man mal so sehn, hmmm.“
„Hit, mil glaut vol dil.“, wiederholte Winston.
Während des darauffolgenden Schweigens betrat ein seltsam aussehender, kleiner, älterer Herr die Kneipe. Die Kühle und das Klagen des spätherbstlichen Windes folgten ihm durch die Eingangstüre herein, überlagerten alles andere, selbst die Radiomusik, für den Zeitraum eines Augenaufschlags. Entfernte, zunehmend anschwellende, Tierlaute waren von draußen zu hören, und verstummten wieder, sobald die Türe ins Schloss zurückfiel.
Der Mann trug einen getigerten Safari-Anzug mit kurzen Hosen und Ärmeln, was ziemlich luftig war für die klamme Jahreszeit. Auf seinem Kopf saß ein runder, weißer Tropenhelm und auf seiner langen, spitzen Nase unglaublich dicke Augengläser. Die Brille weitete seine Augen derart, dass er aussah wie ein eindeutig zu groß geratener Ochsenfrosch. Auch sein Körperbau war krötenhaft. Nur seine Nase, die einem Storchenschnabel glich, bildete einen unpassenden Kontrapunkt zur sonstigen Erscheinung.
Mit wichtigtuerischem Beamtenblick fixierte er zuerst den Wirt, dann nacheinander alle Gäste, – bis seine Glupschaugen auf Winston haften blieben. Zielbewusst steuerte der kleine Mann auf den Sri-Lankesen zu. Die beiden waren etwa gleich groß, sodass sie sich genau in die Augen sehen konnten.
„Sind Sie Winston-Fernando-Ramirez?“
„Ja, del bin ish. Walum?“
„Pssst. Lassen Sie mich die Fragen stellen. Sind sie auf der Suche nach ihrem verschollenen Bruder, Antonio-Gaylord-Ramirez?“
„Ja, das ist lishtish, abel walum ...“
„Schweigen Sie. Hören Sie nur zu. Ich habe wichtige Informationen über das Verbleiben Ihres Bruders. Wenn Sie mir unauffällig nach draußen folgen, kann ich Sie in dieser Angelegenheit ein großes Stück voranbringen.“
„Moment mal, Moment mal.“, mischte sich jetzt Stavros ein. „Wer sind Sie überhaupt, dass Sie hier einfach so reinkommen und einen meiner Gäste anquatschen?“ Beinahe fassungslos betrachtete er den Mann nochmals von oben bis unten. „Also, auf mich wirken Sie nicht besonders vertrauenerweckend. Was meinst du dazu, Hit?“
„Nee, nicht gerade vertrauenerweckend, hmm.“, brummte Hit gelangweilt.
Der kleine Mann wandte sich von Winston ab und bedachte die beiden Männer mit strafenden Blicken. Hit setzte seine Unschuldsmiene auf.
„Sie zweifeln also beide an meiner Seriosität? Ich muss doch sehr bitten! Mein Name ist Siebert Laugenweck, und ich bin erster Vorsitzender des eingetragenen Vereins der kurzsichtigen Großwildjäger. Ich bin absolut vertrauenswürdig.“
„Fleunde, Fleunde“, meldete sich jetzt Winston wieder zu Wort, „lasst den guten Mann doch ausleden. Ish elwäge, mit ihm zu gehen. Ish habe in del Velgangenheit son zu viele Lückziehel gemasht. Das ist endlish mal ein Lishtstleif am Holizont.“
Stavros wollte etwas einwänden, aber Hit, dessen Ausdruck mit einem Male wieder lebhaft geworden war, ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. „Na, dann ist doch alles klar“, sagte er an den kleinen Sri-Lankesen gewandt, „er ist erster Vorsitzender des eingetragenen Vereins der kurzsichtigen Großwildjäger! Absolut vertrauenswürdig! Winston, du solltest ihn begleiten. Ich wünsche dir alles Gute und viel Glück.“
Winston nahm Hits Linke in seine beiden, pratzenhaften Hände. Seine großen, weißen Zähne blitzten. Seine kleinen, braunen Knopfaugen leuchteten, und eine kleine Träne rollte einsam über seine Wange.
„Danke. Danke.“, sagte er. „ Mein gutel, liebel, blüdellishel Fleund! Das welde ish dil niemals velgessen!“
Nachdem Winston mit dem geheimnisvollen Fremden verschwunden war, sagte Hit zu Stavros: „Mach mir noch mal Einen. Einen von dem Guten. Aber Einen für Erwachsene.“
„Was gibts denn diesmal zu feiern?“, wollte Stavros wissen.
„Ich glaub, den Kleinen sind wir für ne Weile los. Seine weibisch-hysterischen Anfälle sind mir langsam ganz schön auf den Sack gegangen.“
Aus der Ferne war jetzt ein krachender Flintenschuss zu hören.
„Auf den Sack. So, so.“ Stavros musste sich (mit einem Blick auf Hits frontales Körperzentrum) ein Lachen sichtlich verkneifen.
Hit sollte jedoch Recht behalten. Nach diesem Abend wurde Winston-Fernando-Ramirez von keinem Menschen je lebendig wieder gesehen. Genau wie sein Zwilling sollte er für alle Zeiten spurlos verschwunden bleiben.
Etliche Jahre später erst sollte der Kneipenwirt Stavros Tsouros beim Besuch eines Amsterdamer Naturkundemuseums ein ausgestopftes Objekt hinter einer Glaswand erblicken, welches ihm erschreckend bekannt vorkam. Aber auch diese Entdeckung sollte nur Nahrung geben für eine von vielen Spekulationen, die langfristig allesamt ins Leere führten.
Als erstes, nachdem Maria die Kneipe betreten hatte, fiel ihr die fast schon malerische Schäbigkeit der Einrichtung auf. Gelbliche Tapeten, simple Holztische und -bänke, ohne Decken, Sitzkissen oder sonstiges Beiwerk. Stattdessen genügend Platz für überquellende Plastik-Aschenbecher und herumliegende, größtenteils flüssigkeitsgetränkte Bierdeckel. Dann die müden Gesichter der Gäste, die sich vor halbleeren Gläsern und Bierlachen über die blanken Tische duckten! – Sie war hier in einer echten Absacker-Spelunke gelandet. – Aber egal, wenigstens hatte sie sich vor Kälte und Regen in Sicherheit gebracht, (und nicht zu vergessen: Vor dem, was draußen in der finsteren Gasse noch auf sie lauern mochte.)
Als nächstes erkannte sie, hinter der Theke stehend, ihren Ex-Verlobten: Stavros!
Sie erfasste die eigentlich unfassbare Peinlichkeit der Situation völlig und augenblicklich, war aber nicht in der Lage entsprechend zu reagieren. Ihr Bewusstsein schaltete nun um auf Standbild-Modus. Tatsächlich verharrte sie mitten in der Bewegung, als hätte jemand im Besitz einer Fernbedienung für sie die Pause-Taste gedrückt. Ihr kognitiver Speicherplatz war in diesem Augenblick ungeschützt überladen und die Datenaufnahme unterbrochen worden.
Stavros erkannte seine Maria fast gleichzeitig, sogar noch etwas schneller; denn bereits beim Auf- und Zugehen der Eingangstüre hatte dieser derbe, vertraute Geruch nach ungewaschener, nasser Fotze deprimierende Erinnerungen in ihm geweckt.
Nun also stand sie da, mitten im Raum, reglos wie die Statue der Venus von Milo, zwar mit intakten Gliedmaßen, aber dennoch weitaus unschöner modelliert. Auch Hit hatte sofort Notiz von ihr genommen; deutlich interessiert nahm er schnüffelnd ihre Witterung auf.
„Nanu, wen haben wir denn da?“
„Mach jetzt keine Witze, Hit. Das ist meine Ex.“
„Und warum steht sie so komisch da rum?“
„Sie ist für einen Moment weggetreten.“, flüsterte Stavros. „Ich kenne das schon von ihr. Passiert ihr jedes Mal, wenn sie völlig unvorbereitet in eine überraschende Sache reinstolpert. Und das geschieht ihr nicht gerade selten. Dauert eine, höchstens zwei Minuten, bis sie wieder bei sich ist.“
„Das ist also deine Ex?“, feixte Hit. „Dazu kann ich nur eins sagen: Stavlos, mil glaut vol dil!“
„He, jetzt hör aber auf! Das ist wirklich nicht witzig.“ Ein leichtes Zucken um Stavros‘ Mundwinkel strafte jedoch seine Worte Lügen. – „Eins kann ich dir aber auch sagen“, fügte er kopfschüttelnd hinzu, „du hast schon nen seltsamen Sinn für Humor.“
Marias Gesicht begann langsam wieder Farbe anzunehmen. Ihr auf Stavros fixierter Blick flackerte gelegentlich. Diverse Gesichtsmuskeln zuckten in unwillkürlichen Kontraktionen.
„Oh, Scheiße!“, ächzte Stavros. „Was mach ich jetzt bloß?“
„Wie viel ist es dir wert, wenn ich dir aus der Patsche helfe?“, fragte Hit, sein Kinn nachdenklich auf einen offenen Handteller gestützt.
„Nächsten Freitag-Abend umsonst saufen, soviel du magst.“
„Ein Mann ein Wort.“, bekräftigte Hit den Handel lakonisch, versuchte aber gleich noch etwas mehr herauszuholen: „Was, wenn ich sie dazu bringe, dich nie wieder zu belästigen?“
„Dasselbe. Jeden Freitag-Abend. Solange ich hier der Wirt bin.“
„Gebongt“, schloss Hit auch diesen Handel wieder zufriedenstellend ab.
„Uff!“, machte Stavros, und sah erleichtert aus, wenn auch nicht ohne einen Anteil von Skepsis in seinem stets von wechselnden Regungen bewegten Antlitz.
Maria heizte sich langsam auf wie ein Toaster. Das Szenario vor ihren Augen begann wieder feste Konturen anzunehmen: Rechts hinter der Theke stand ihr, zum Schmuddelwirt mutierter, Ex-Verlobter Stavros. Links, auf der anderen Seite der Theke, saß ein großer, haarloser, weißer Neandertaler auf einem Bar-Hocker. (Der Neandertaler hatte, deutlich sichtbar, mal so richtig was in der Hose.) Stavros schaute schuldbewusst drein.
Maria wurden mehrere Dinge gleichzeitig klar: Diese Situation glich wieder einmal genau einer Szene aus ihrer Lieblings-Seifenoper Wirbelsturm der Liebe. Dieser Umstand verschaffte ihr eine gewisse Genugtuung. Sie verspürte aber auch – erstmalig – einen ungeheuren, beißenden Zorn auf Stavros, der sie so schmählich hatte sitzen lassen.
Maria zeigte jetzt ihr zweites Gesicht: Ihre Augen glänzten nun nicht mehr verklärt und trübe, sondern blitzten böse, wütend und hellwach. Ihr ansonsten kindlicher Schmollmund verzerrte sich zu einer hässlichen Grimasse. Hektische, rote Flecken sprossen auf ihren Wangen.
„Yassu, Stavros! Calaise?“, quäkte sie mit kreischender Stimme, die durch Mark und Bein ging, „Tanzt du immer noch den Sorbas?“
„Maria, meine liebliche Honigmelone ...“, begann Stavros.
„Welch ungewohnt zauberhafter Glanz in unserer Hütte!“, intervenierte Hit sogleich und grinste unverfroren animalisch. „Mit wem haben wir denn hier das Vergnügen?“
„Nur mit Maria. Das ist mein Name. Und wie nennt man dich großen, weißen Affen? Vielleicht Rulaman?“ Ihr Tonfall blieb unverändert durchdringend, schrill und aggressiv.
„Gut gebrüllt, Löwin!“, lachte Hit ungewohnt nachsichtig. „Aber au contraire, Mademoiselle. Ich sehe nur so aus wie ein großer, weißer Affe. Und das ist sogar ausnehmend praktisch, denn so merkt niemand, wie smart und gewitzt ich eigentlich bin. Deshalb nennt man mich auch den Hit.“
Stavros begann sich indessen – unauffällig, wie er selbst glaubte – aus dem Vordergrund davonzustehlen, machte sich daran, einige (saubere) Gläser zu spülen. Maria freilich durchschaute sein Manöver. Aber sie war einfach nicht imstande, ihren Blick von dieser unglaublich vielversprechenden Ausbuchtung in Hits Hosen abzuwenden. (Wie konnte sie auch ahnen, dass es sich dabei nur um dessen Albino-Kokosnuss handelte?)
„Darf ich sie vielleicht zu einem Gläschen einladen?“, fragte Hit, seinerseits gleichbleibend freundlich und in, für seine Verhältnisse, sehr gestelzter Weise. Aber genau dies schien den richtigen Eindruck auf die fette Griechin zu machen.
„Du bist, wie es scheint, wenigstens ein Mann mit Manieren.“, sagte sie, nun mit deutlich sanfterer Stimme. – ‚ ... und ein Mann mit, wie es scheint, noch viel wichtigeren Attributen, fügte sie für sich in Gedanken hinzu.
Hit war derweil nicht entgangen, worauf die ganze Zeit das Augenmerk der Griechin wie festgeklebt war. Deshalb wagte er auch jetzt schon den nächsten Schritt: „Natürlich könnten wir ein Gläschen bei mir zuhause in viel gemütlicherer Atmosphäre genießen.“
Maria blickte nun zuerst in Stavros‘ Richtung, der sich heftig – und nur scheinbar erschrocken – von ihr abwandte. Maria missdeutete sein neues Manöver als Akt der Eifersucht, und ihr Gehirn begann zu arbeiten: Hier hatte sie Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Sie konnte Rache an ihrem treulosen Stavros nehmen, sie konnte ihn dadurch, auf lange Sicht gesehen, sogar zurückgewinnen, ihn irgendwann wieder in ihre Arme schließen – aber zu ihren Bedingungen. Außerdem hatte sie sich heute zu einem bestimmten Zweck auf freie Wildbahn begeben. Und dieser große, weiße Affe schien nicht der schlechteste Fang zu sein, nach allem, was ihr an diesem Abend bisher widerfahren war.
„Sehr gerne.“, sagte sie. „Dies hier ist wohl kaum die richtige Umgebung für zwei kultivierte Menschen wie uns.“ Ihr zweites Gesicht war mit einem Male wie weggeblasen, als hätte es nie existiert. Sie lächelte und zwinkerte Hit treuherzig zu, wiegte sich kindlich schamhaft in ihren ausladenden Hüften.
„Ich bin entzückt.“, sagte Hit, vor Freude Zahn-lückig strahlend. Dann, an Stavros gewandt: „Wir zwei Hübschen machen uns jetzt erstmal vom Acker. Schreib mir vorläufig nen Deckel. Du und ich können dann morgen miteinander abrechnen. Du weißt schon ... Aber vorher mach mir und meiner Begleitung noch jeweils Einen. Einen von dem Guten. Aber Einen mit nem Häufchen obendrauf. Ausnahmsweise feiern wir mal im Voraus, hmmmm.“
Beflissen tat Stavros, wie ihm geheißen.
Beim Hinausgehen, mit der untergehakten Maria, tastete Hit noch prüfend nach seinem langen Schnappmesser in der linken Gesäßtasche. Schließlich waren ja Titties und Aufschlitzen von allem das Allergeilste – und somit die Krönung der heutigen Freitag-Nacht. Der sich aufdrängende Vergleich mit der Venus von Milo hatte ihn von Anfang an auf entsprechende – und weiterführende – Gedanken gebracht ...
Während Maria auf dem Nachhauseweg irgendwelches blödsinniges Zeugs auf ihn einplapperte, erwog Hit in aller Ruhe, welche Musik er hören wollte, während er später Marias schlaffen und wabbeligen Körper in der Badewanne zersägen würde. Er entschied, dass die sanften Klänge des Titels Virtual Insanity von Jamiroquai am besten mit dem monotonen, friedvollen Ricke-Racke der Säge harmonieren würden. Musik war nun mal, wie eingangs schon erwähnt, die einzig wahre, große Liebe des Soziopathen Hit.
März 03, N.H.