Der Spaziergang
Als Konrad am frühen Morgen seinen Spaziergang antrat, wusste er noch nicht, wem er alles begegnen würde.
Seine Runde folgte stets der gleichen Strecke. Von seiner Heimatstadt aus auf dem Deich entlang, über die Landzunge im Meer in das kleine Nachbardorf und durch den Wald schließlich zurück. Schon als er die Tür verließ begann die chaotische Gemütlichkeit. Ein kleiner kränklich wirkender Mann stand auf der Straße und blickte auf seine Uhr. Folgend verglich dieser seine Zeigerstellung mit der Kirchturmuhr und erbleichte augenblicklich. „Da hatte wohl jemand die Sommerzeit nicht eingestellt“ dachte sich Konrad. Doch es kam noch besser. Der Mann schlurfte auf Konrad zu und fragte, wo es zum Bahnhof gehe. Konrad erklärte gelassen den schnellsten Weg. Die Wegbeschreibung gab Konrad drei Mal ab, jedoch ohne Erfolg, da der Mann offenbar nicht gewillt war zuzuhören. Entnervt wandte sich Konrad mit dem Satz: „Gib ´s auf“ ab und beschleunigte sein Tempo in Richtung Deich. Auf der halben Länge des Deiches kam ihm ein dunkler Reiter mit brennenden Augen auf einem Schimmel entgegen. So schnell wie dieser kam, war er auch wieder vorbeigeritten. Konrads Gedanke wurde sogleich bestätigt, als ein berittener Polizist hinterhergehetzt kam und unablässig schrie: „Haltet den Dieb!“ Nach dem Deich zog ihn sein Weg weiter über die Landzunge im Meer auf der nur eine rustikale Fischerhütte stand. Heute war er jedoch auf diesem romantischen und abgelegenen Ort nicht allein. Eine betörend schöne Frau saß einem Mann im scharlachrotem Umhang und strahlender Ritterrüstung gegenüber. Konrad war leicht irritiert, da Karneval doch schon längst vorüber war. Trotzdem wollte er nicht stören und ging munter weiter zum Dorf. Jedoch warteten dort ebenfalls kuriose Überraschungen.
Eine geistig verwirrte Frau schien aus der Pathologie der Stadt ihren Bruder entwendet zu haben, um ihn endlich beerdigen zu können. Nun verhandelte die Polizei mit ihr, das Corpus Delicti bitte ordnungsgemäß für weitere Untersuchungen zur Fallaufklärung rauszurücken. Später habe sie auch genügend Möglichkeiten ihren Bruder nach Herzenslust zu verschachern. Andernfalls müsse sie eben eine Auszeit im Gefängnis nehmen. Im Nachbarhaus der freiberuflichen Hobby–Totengräberin sah Konrad eine relativ junge Frau, welche die Szene mit einer absolut rationalen Miene betrachte. Sie schien keinerlei Verständnis für die arme Bruder- Witwe zu haben und blickte verächtlich auf das emotionale Drama. „Pass mal auf, wenn du in eine solche Situation kommst“ dachte sich Konrad beim Vorübergehen. Noch in Gedanken versunken, wäre er fast von einem egozentrischen und kontinuierlich nörgelnden Jungen im Rollstuhl überfahren worden. Beim Ausweichen stolperte Konrad aus der Rollbahn des Rollstuhls und schnappte dabei monologische Gesprächsfetzen wie „Mutter einfach mein Tagebuch gelesen“ und „ich bin ein Krüppel“ auf. Weniger Selbstmitleid und Mut zum Gespräch statt Monologe verzeichnete Konrad gedanklich auf der kurzfristig angelegten Patientenkartei des Jungen. Da die andere Seite des Dorfes an einen Bach grenzte, musste Konrad eine Brücke überqueren. Dabei kam ihm ein kränklich, blasser aber bis zum Eichstrich gefüllter Lehrling entgegen. Dieser steuerte mit vollständig fehlender Koordination auf die Brücke zu, und stürzte an ebendieser vorbei kopfüber in den Bach. „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“ meinte Konrad und überquerte den Bach mit dem unfreiwilligen Badegast. Endlich im Wald und damit der Endetappe angekommen, entspannte sich Konrad. Aber schon nach wenigen Schritten ertönten Flüsterstimmen im Gebüsch. Konrad lauschte: „Du trinkst aus dieser Phiole und für vierundzwanzig Stunden wirst du tief schlafen und man wird dich in die Familiengruft tragen. Ein jeder wird von deinem plötzlichen Ableben überzeugt sein. Vorher jedoch informiere ich deinen Gemahl. Er wird kommen und führt dich nach deinem Erwachen fort von hier und euren zänkischen Elternhäusern.“ Da musste Konrad kurz lächeln und gab schmunzelnd seinen Kommentar zu diesem todsicheren Plan: „Das kann ja heiter werden!“ Somit setzte er seinen Weg fort und kam alsbald an einer Höhle vorbei. Normalerweise war dieser Ort menschenleer, doch heute stand vor dem dunklen Eingang ein alter Greis in anrüchigen Gedankenexperimenten versunken. Erst als ein rothäutiger, schwarzgelockter Mann mit Pferdefuß den in Professorenkleidung gehüllten Philosophen zum Gehen aufforderte, unterbrach der Greis seine freudschen Träume. Beide verschwanden im Dickicht und auch Konrad entschloss sich, seinem begegnungsreichen Spaziergang ein Ende zu setzen. Als es Abend wurde, stand er erschöpft auf der Türschwelle seines Hauses. Zuletzt begrüßte ihn ein äußerst fein gekleideter Herr, der wie ein Magnet eine Horde von Bewunderern nach sich zog. „Das war doch der Schneider aus dem Nachbardorf.“ Dachte sich Konrad, beschloss dann aber aufgrund diverser komischer Zwischenfälle am heutigen Tag, keine weiteren Überlegungen anzustellen und einfach alles so hinzunehmen. Dann legte er sich ins Bett.
Früh am Morgen erwachte Konrad. Für ihn war die Lehre dieses Traumes absolut verständlich: Mit solchen Leuten möchte ich niemals in Kontakt treten!