- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Der Sprung
Wäre doch heute nur übermorgen, dann hätte ein Freitag der Dreizehnte dem Ganzen hier vielleicht sogar einen mystischen Hauch verliehen, aber wie ein guter Freund von mir immer zu sagen pflegte, schert sich das Schicksal einen Dreck drum, was du erwartest.
Abgesehen von einigen wenigen Schicksalsereignissen unbedeutender Natur, die mir in meinem Leben widerfahren waren, hatte ich eigentlich nie etwas vorzuweisen, mit dem ich in einer gemütlichen Kneipenrunde hätte selbst für die Dauer einer Zigarette was erzählen können, was irgendeinen Passivraucher wirklich interessiert hätte.
Irgendwann glaubte ich auch nicht, dass das Schicksal irgendwelche Pläne ausgerechnet für mich, den es bislang so komplett vernachlässigte, schmiedete.
Aber das Schicksal hätte seinen Namen nicht verdient, wenn es nicht genau das täte.
Das stimmt, was die Leute sagen. Ich hatte ja keine Ahnung, wie wahr das ist. Man sagt doch immer, dass wenn einem die letzte Stunde oder Sekunde schlägt, sich das ganze Leben nochmal vor dem geistigen Auge im Zeitraffer abspielt.
Von einigen wenigen Schönheitskorrekturen mal abgesehen, muss ich sagen, dass das ziemlich zutreffend beschrieben wurde. Wie zutreffend das ist, verblüfft sogar mich.
Vermutlich hatte ich davon in einer dieser nachmittäglichen Fernsehreportagen erfahren, wo die Opfer irgendwelcher schweren Verkehrsunfällen oder Verbrechen von ihrem Kampf mit dem Sensenmann berichteten, den sie ja offensichtlich überlebt hatten.
So faszinierend die Vorstellung auch auf mich wirkte, hatte ich immer meine Zweifel, ob die Geschichten auch stimmen. Wie kann es überhaupt möglich sein, dass so viele Erlebnisse binnen so kurzer Zeit wieder erlebt werden können. Ich hatte einfach ein logisches Problem damit und konnte es einfach nicht glauben.
Jetzt, gerade in diesem Augenblick kann ich das allerdings sehr gut erkennen. Es ist einfach eine Frage der Perspektive. Man muss nur zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein, denke ich.
Hier bin ich nun. Im freien Fall und wenn ich mich nicht irre, befinde ich mich in diesem Augenblick irgendwo auf der Höhe der 24ten oder 23ten Etage und nehme doch alles ganz deutlich wahr.
Die Tatsache, dass ich mein ganzes Leben binnen eines kurzen Moments vorgeführt bekommen habe, hat dieses Mal ausnahmsweise nichts damit zu tun, dass es in meinem Leben nicht viel zu erleben gab. Um ehrlich zu sein, habe ich mich ein Großteil des letzten Augenblicks ziemlich gelangweilt. Ich denke, dass das, was in diesen Trailern abgespielt wird einfach eine Zusammenfassung des vorhandenen Filmmaterials ist. Wenn man was Spannendes findet, dann wird eben das gezeigt und wenn nicht, dann halt das, was man so findet, wie in meinem Fall.
Auch einer dieser Gerüchte vermute ich mal. Denn irgendwann hatte ich gehört, und wenn ich mich recht erinnere, war es sogar mein Vater, der es mir erzählte, dass nämlich der angenehmste aller Selbstmord-Varianten wohl der Sprung aus einem möglichst hohen Gebäude oder Brücke sei, denn vor lauter Panik und Aufregung würde das Herz wohl deutlich vor dem Aufprall zum Stillstand kommen. Dadurch würde der Selbstmörder quasi schon tot auf den Boden aufschlagen und folglich natürlich keinerlei Schmerz verspüren.
Im Gegensatz zu der zweifelhaften Aussage, das ganze Leben spiele sich nochmal ab, war diese Darstellung wiederum ganz akzeptabel und löste keinerlei Skepsis in mir aus.
Doch auch hier muss ich feststellen, dass der von meinem Vater so glaubhaft begründeter Zustand wohl auch eher eine Frage der Perspektive ist, denn im Augenblick verspüre ich nicht die leiseste Empfindung von Panik, ganz im Gegenteil, ich würde sogar behaupten, dass mein Herz ganz ruhig und regelmäßig schlägt.
Abgesehen davon, darf man natürlich nicht vergessen, dass das erstgenannte Erlebnis ja nur von Überlebenden berichtet werden konnte, während für die, von meinem Vater dargebrachte These ja keine glaubwürdigen Zeugen geben könnte. Denn selbst wenn diese nicht durch die Herzattacke hinübergingen, dann auf jeden Fall durch den Aufschlag und demzufolge hätten sie später wohl kaum davon berichten können.
Es ist schon seltsam, wie sehr man doch dazu neigt, ohne einen plausiblen Grund die eine Geschichte zu glauben und die andere nicht.
Ich muss gestehen, dass ich noch nie zuvor in einer solche Situation gesteckt habe. Daher kann ich auch keinerlei Spekulationen zu dem weiteren Verlauf des Prozesses des Absturzes anstellen. Physikalisch betrachtet, müsste ich wohl der Schwerkraft folgend in den kommenden Augenblicken aufprallen, und wie es dann weitergeht, werde ich wohl eher nicht berichten können. Doch gerade habe ich das Gefühl, dass ich Zeit habe. Viel mehr sogar, als ich zu haben glaubte, als ich mich vor Augenblicken entschied zu springen.
Aber ich komme wieder von der eigentlichen Geschichte ab. Ich habe es auch nur deswegen dazwischen geschoben, weil mir das augenblicklich bewusst geworden ist und ich erst einmal meine Empfindungen und Eindrücke ausdrücken wollte, bevor ich sie dann möglicherweise später noch vergesse.
Also gut. Der elfte März also. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Ich hatte mir so einiges ausgedacht, oder besser gesagt ausgemalt, wie mein Leben sich entwickeln sollte.
Ich kann so ziemlich mit allem bieten, was man sich für sein Leben ausmalt. Auch wenn man überzeugt ist, dass all das nie eintreten wird, hängt man doch an den Träumen und Vorstellungen und will sie nicht aufgeben, bis man sie zumindest zu Ende geträumt hat.
Durch gewisse Umstände, auf die ich noch später näher eingehen werde, hatte ich dieses eine Mal das Gefühl, dass das keiner dieser Träume war, den ich ausgeträumt wie ein gelesenes Buch ins überfüllte Regal meiner unerfüllten Träume stellte, bis sie verstaubten.
Es ist soweit.