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Der Sprungturm

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03.10.2020
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Der Sprungturm

Wir radelten barfuß aus dem Dorf. Ich fuhr einhändig, die Pedale schnitten in meine Sohlen, die Badehose zwickte im Schritt. Kurz nach Mitternacht erreichten wir unser Ziel, ließen die Räder stehen und kletterten über den Zaun. Der Beton war noch warm vom Tag. Zwischen Wolken glitzerten Stecknadelsterne. Jasmin sagte, sie könne unter Wasser Gedanken hören. Ich lachte.
Es roch nach Chlor und irgendetwas Modrigem. Unterwasserlampen warfen grünliches Licht durchs Becken. Das kommt von unsichtbaren Algen, behauptete Jasmin und sprang kopfüber ins Wasser. Ich sah ihre Beine verschwinden, weiß und verschwommen. Dann tauchte sie wieder auf.
Du denkst an deinen Vater, sagte sie. Dass du ihm ähnlich wirst.
Ich sagte nichts.
Vergiss den Streit mit deiner Mutter. Wir brauchen das Geld eh nicht.
Ich zuckte mit den Schultern.
Stark, wie du den Automaten aufgebrochen hast!
Wir schwiegen eine Weile und rauchten auf dem Dreimeterbrett. Ihr kurzes Haar glänzte und mein T-Shirt klebte mir am Rücken. In einem nahen Feld zirpten die Grillen.
Wollen wir Nacktbaden?, fragte sie.
Ich weiß nicht.
Komm schon!, ermunterte sie mich und begann, sich auszuziehen. Im diffusen Beckenlicht konnte ich ihren Körper sehen, die Narben am Bauch. Sie stand so dicht vor mir, dass ich mit meiner Zungenspitze über ihre Scham hätte fahren können. Schwerfällig stand ich auf. Das Brett wippte und einen Moment musste ich ums Gleichgewicht kämpfen.
Zieh dich aus! Ich schau auch weg, wenn du willst.
Du siehst doch eh nie richtig hin, sagte ich.
Sie lächelte müde und legte mir die Hände auf die Schultern. Ihr Haar roch nach Zitronenshampoo. Ihr Blick hielt mich fest. In diesem Moment fühlte ich, dass sie mich wirklich sah.
Du musst dich nicht schämen, sagte sie.
Schwül drückte die Nacht. Unsicher überlegte ich, ob ich sie küssen sollte.
Kommst du morgen zur Schule?, fragte ich stattdessen.
Vielleicht, sagte sie. Kommt drauf an. Vielleicht bleib ich einfach unter Wasser. Ist leiser da. Nur wir. Deine und meine Gedanken.
Ich wollte etwas erwidern, aber sie kam mir zuvor: Ich will einfach mal anhalten. Stehenbleiben.
Ich nickte, auch wenn ich nicht verstand. Widerstandslos ließ ich sie gewähren, als sie mir das T-Shirt über den Kopf und die Badehose auszog.
Bist ja ganz schön aufgeregt!, neckte sie mich und lachte leise. Ich spürte ihre warme Hand und schloss die Augen. Dann sprang sie vom Brett und das Letzte, was ich hörte, war das Klatschen ihres Körpers auf dem Wasser.

Der Strom fiel aus. Kein Licht. Keine Pumpen. Selbst die Grillen verstummten. Die Wasseroberfläche blieb glatt, schwarz und still. Ich rief ihren Namen, aber sie antwortete nicht. Wie betäubt nahm ich meine Hose, das T-Shirt und ihr Badekleid, kletterte mit wackligen Beinen die Leiter vom Sprungturm hinab.
Ich sprang ins Becken. Tastete. Tauchte. Schwamm bis zum Grund. Ein Blubbern in meinen Ohren. Herzklopfen. Bis der Schmerz in meinen Lungen mich zum Auftauchen zwang. Sie war nicht mehr da. Nur ihr Fahrrad lehnte noch neben meinem am Zaun.
Erinnerungen fluteten mich. Wie wir im Dämmerlicht auf der Veranda saßen. Wie sie auf ihre Hände starrte und sagte: Manchmal hab ich das Gefühl, ich bin gar nicht richtig hier. Als ob ich langsam unsichtbar werde. Nicht für alle, nur für diejenigen, die mich nicht mehr sehen wollen. Damals hätte ich am liebsten protestiert, aber heute weiß ich es besser.
Oder ein paar Wochen vor unserem nächtlichen Ausflug: Wir lagen nebeneinander auf der Wiese und blickten in den Himmel. Weißt du, sagte sie, wir sind nur Schatten von dem, was wir einmal waren. Ich drehte meinen Kopf, wollte fragen, was sie damit meinte, aber sie schaute weg. Es gibt einen Ort hinter der Welt, einen Ort, wo niemand ist. Vielleicht bin ich schon halb dort und irgendwann springe ich komplett hinein.
Sie mochte Gewitter. Da hört man nichts außer Wasser und Wind, hatte sie gesagt, als wir im Schützenhaus saßen und die Blitze unsere Gesichter leichenblass, aber doch so lebendig wirken ließen.
Ich tauchte unter, mit offenen Augen, ignorierte das Brennen. Durchschwamm die Dunkelheit und das Gefühl des kühlenden Wassers, in dem ich mich auflöste, wurde mit jedem Beinschlag ohnmächtiger. Ich suchte nach ihren Gedanken, nach ihrer flüchtigen Stimme. Du wirst mich finden, selbst wenn ich verschwunden bin. Sie hatte es mir versprochen.

Ich erzählte nie jemandem, dass wir dort waren. Sie suchten den Fluss ab, das alte Industriegelände, die umliegenden Baggerseen. Nichts. Zwei Wochen später fand ein Fischer ihr Fahrrad unter einer Brücke. Kein Helm, kein Handy, nur das Rad. Sein Rahmen hatte bereits Rost angesetzt.
Ich wurde nie befragt. Niemand wusste, dass wir uns nahe standen. Ihre Eltern konnte man nicht fragen, weil sie längst tot oder über alle Berge waren. Aber die Heimleitung bekam es mit der Polizei zu tun. Heute ist das Gelände eine überwucherte Brache, Unkraut und Dornengestrüpp.
Manchmal träume ich von ihr. Dass sie noch da ist, irgendwo in den Rohren, in der Filteranlage. Dass sie bei Gewitter zurückkommt, die unsichtbaren Algen im Haar und mit offenen Augen, mit denen sie mich ansieht wie damals auf dem Dreimeterbrett. Oder dass sie unter Wasser lebt, in der Stille, meine Gedanken sie erreichen, und dass sie so subtil antwortet, dass ich Mühe habe, die Zeichen zu verstehen.
Ich denke an sie, wenn ich trinke, am Fluss entlang spaziere und mich wasche. Am intensivsten ist es, wenn ich meine Armprothese abnehme und den Stumpf einseife. Dann spüre ich sie, oder das, was von ihr geblieben ist. Und wenn auch meine körperlichen Narben nie heilen, so zumindest die seelischen.
Mein Vater ist im Gefängnis gestorben, Mutter steckten sie ins Pflegeheim. Manchmal radle ich barfuß und in Badehose durch die umliegenden Wälder und überlege, ob ich sie hätte besuchen sollen. Heute habe ich meine Arbeit verloren, weil das Postamt im Dorf dichtgemacht hat. Ich werde die Chance ergreifen und wegziehen.
Am Tag bin ich nie mehr ins Freibad gegangen. Nur nachts ein paar Mal. Setzte mich ans Beckenrandgitter und hielt die Füße ins Wasser. Den Sprungturm haben sie irgendwann wegen eines Unfalls abgerissen.
Ich erinnere mich oft daran, wie sie sagte, wir seien nur noch Schatten unserer selbst. Wenn wir damals Schatten waren – was bin ich dann heute? Wenn es still ist, so wie in jener Nacht, und die Grillen für einen Augenblick innehalten, dann meine ich Jasmin sagen zu hören, ganz nah bei meinem Ohr: Danke, dass du immer noch an mich denkst.

 

Hallo @deserted-monkey

und Glückwunsch zu dieser feinfühligen Geschichte. Ein poetischer Stil und eine mysteriöse Protagonistin , die dann einfach so verschwindet...

Irgendwie schade , da sich ja zuvor beinahe eine Liebesgeschichte entwickelt hätte...

Mir persönlich ist deine Geschichte etwas zu melancholisch und ihr Verschwinden etwas zu "vorprogrammiert"aber trotzdem grosses Lob für deinen ausgereiften Stil!

N

 

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