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Der Staatsfeind

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01.11.2004
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Der Staatsfeind

Vernunft ist der Wahnsinn Aller, Wahnsinn die Vernunft des Einzelnen

Spinoza


Der Staatsfeind


Der Mann der fluchend am Strand entlang torkelte, hatte, wenn alles nach Plan verlief, höchstens noch zwei Wochen zu leben.

Der Mann hieß Singh und kam gerade aus einem venezolanischen Dorfpuff, wo er sich von einer höchstens Vierzehnjährigen für fünf Dollar einen hatte blasen lassen. Er fand das ein faires Preisleistungsverhältnis, doch tröstete ihn dies nicht über den Umstand hinweg, daß er den kleinen Pfad der von den Dünen zu seinem Zelt führte, nicht mehr finden konnte.

Es war eine wolkenverhangene Nacht und nur ab und zu tauchte der Mond auf, dessen matter Schein von der stinkenden Karibik gelangweilt zurückgeworfen wurde. In dem fahlen Licht sah alles gleich aus, und nach einer Stunde vergeblichen Suchens gab Singh auf und legte sich in den Sand. Aus seinem Rucksack holte er eine Flasche Rum, betrachtete sie kurz, drehte den Verschluß ab und trank. Er wartete eine Weile, aber nichts passierte. Also trank er den Rest, rauchte noch eine Zigarette und schloß die Augen. Eine Ameise lief an seinem linken Fuß vorbei.

Von der einsetzenden Flut unsanft geweckt, stand Singh am nächsten Morgen auf. Er fühlte sich beschissen und fror, fand aber direkt den Weg, schleppte sich die Düne rauf zum Zelt, zog die nassen Sachen aus, machte Feuer, kochte sich einen Kaffee und dachte nach. Seit einem Monat kreisten seine Gedanken dabei um die eine Frage was sich noch lohnte getan zu werden, bevor er vielleicht heute die Flasche erwischen sollte. Von der Idee jemanden umzubringen, um zu wissen wie das ist, und diesen jemand dann zu verspeisen, um zu wissen wie das schmeckt, war er seit zwei Tagen abgekommen. Und das nicht etwa, weil er moralische Bedenken bekommen hätte, er befürchtete lediglich, daß so eine Tat immernoch zuviel Aufsehen erregen könnte, und er wollte unentdeckt bleiben. Denn solange er allein war, war er die Wahrheit, und das sollte so bleiben bis zum Schluß.

Die Wärme der Sonne auf seiner nackten Haut spürend, entschied Singh das zu tun, was letztendlich die beste Antwort auf seine Frage war. Er kroch ins Zelt und begann zu onanieren. Dabei klemmte er sich den Schwanz zwischen die glatt und weichen Oberschenkelinnenseiten seiner angewinkelten Beine und massierte ihn durch leichtes Aufundabbewegen seiner Knie. Parallel dazu hob er sein Becken soweit an, daß er sich den Mittelfinger seiner rechten Hand in den After einführen konnte.

Er stellte sich vor, wie er sich selbst in den Arsch fickte. Der lustvollste Gedanke der für ihn existierte, und gleichzeitig der tragischste. Denn praktisch war es unmöglich; man brach sich zwangsläufig das Genick. Diese tiefgreifende Erkenntnis in das menschliche Schicksal sich in einer der elementarsten Bereiche des Lebens nicht selbst genügen zu können, hatte Singh im Alter von dreizehn dazu veranlaßt, generell über den Sinn des Seins nachzudenken. Wie jeder vernunftbegabte Mensch kam er zu dem Schluß, daß es müßig war diesen Sinn außerhalb der menschlichen Existenz zu suchen. Denn soweit er das beurteilen konnte, waren wir dem Rest, also Allem, ziemlich scheißegal, und streng genommen nicht mal das. Blieb nur, beim Naheliegensten anzusetzen, bei sich selbst.

Ficken, schrie Singh und beugte sich über seinen schmerzenden linken Hoden. Von einem kleinen roten Punkt auf der Haut breitete sich in kurzen Intervallen ein brennendes Jucken aus. Singh schaute sich suchend um, und entdeckte eine winzige Ameise die zwischen seiner üppigen Beinbehaarung herumkrabbelte. Er fing sie mit einem Plastikbecher ein, kramte aus seiner Verbandstasche eine Pinzette, ein Pflaster und eine Lupe hervor, zündete eine Kerze an und wartete. Als das Wachs geschmolzen war, nahm er die Ameise und drückte sie vorsichtig gegen den Klebestreifen des Pflasters. Durch die Lupe das häßliche Wesen betrachtend, begann Singh dem Insekt das rechte oberste Beinchen abzutrennen. Glied für Glied. Die Pinzette war gut, es klappte hervorragend. Er wiederholte die Prozedur noch fünf Mal, genau darauf achtend wie sein Opfer reagierte. Zu seinem Bedauern konnte er außer einem heftigen Zappeln der Fühler nichts weiter feststellen, worauf er auf den Schmerz des Tieres hätte schließen können. Er ließ die Fühler am Kopf und begnügte sich damit, noch das schwarze Hinterteil vom Rest des Körpers abzureißen. Schließlich tauchte er Kopf und Rumpf ins flüssige Wachs und lauschte verzückt dem leisen kurzen Brutzeln. Nun mit der Welt im Reinen, machte Singh eine Flasche Rum auf, während dessen aus einem kleinen Erdloch in unmittelbarer Nähe seines Zeltes eine Amazonenameise kroch. Sie verströmte einen seltsamen Duft.

Zuerst hatte er den Sinn in Büchern gesucht, dann aber schnell festgestellt, daß das was er darin für sich als Wahrheit herauszog im Alltag nicht die geringste Rolle spielte. Zumal er in einer Zeit aufwuchs, in der eine ominöserweise als Gesellschaft bezeichnete Zusammenrottung von Egoisten kollektiv beschloß, vormals maßgebliche Autoren, vormals maßgeblicher Bücher, für anachronistisch zu erklären. So entstand eine neue Utopie, nämlich die, keine mehr zu brauchen. Und im Grunde genommen kam Singh dies sehr entgegen, mochte er auch anfänglich ein gewisses Bedauern darüber empfunden haben. Zwar teilte er außer dem Egoismus in keinster Weise die Motive die zu diesem Denken geführt hatten, aber der Tod der Ideale lieferte ihm die Basis den Ursinn dem sie dienten, und den er immer mehr zu verachten begann, vehement zu bekämpfen; die Selbsterhaltung. Aber wie? Das Problem war nicht die biologische, ein paar Tropfen Zyankali in einer Flasche Rum genügten. Das Problem lag tiefer. Wie ließ sich die ungleiche Bewertung schöner Empfindungen und Erlebnisse mit der proportional wesentlich bedeutsameren Restpaarung, Scheiße und Sinnlosigkeit, bei einem auch fühlenden Wesen aus dem Kopf kriegen. Drei Jahre in der vagen Hoffnung fickend und saufend, daß er sich und damit die Frage von selbst erledigen könnten, wurde ihm eines Tages schlagartig klar, daß das Dilemma eben darin bestand, daß allein schon das Nachdenken über die absurden Gründe der Selbsterhaltung eine unbewußt selbsterhaltende Maßnahme war, und damit ebenfalls sinnlos. Daraufhin besorgte Singh sich eine ordentliche Menge Heroin und fuhr zum Friedhof, um sich unter einer schattigen Kastanie den Goldenen Schuß zu setzen. Gerade als er sich etwas theatralisch die Nadel durchs Auge jagen wollte, spürte er an seiner Kehle die kalte Klinge eines Messers; dies als Alternative in Erwägung zu ziehen blieb ihm keine Zeit. Blitzschnell gefesselt und geknebelt, bekam er noch mit wie ihm die Hose aufgeschnitten wurde. Dann begann das Martyrium.

Hätte Singh etwas von Ameisen verstanden und zufällig die Amazonenameise beobachtet, wäre ihm aufgefallen, daß sie eine ungewöhnliche, da für sie normalerweise tödliche, Verhaltensweise an den Tag legte. Sie krabbelte im Umkreis von fünfzig Metern in jeden Ameisenbau, kehrte nach einer Weile wieder hervor und wanderte endlich, nach Absolvierung einiger hundert Staatsbesuche, zurück zu ihrem eigenen. Aber davon bekam der im Zelt vor sich hindösende Singh nichts mit.

Zwölf Wochen dauerte es, bis er wieder einigermaßen schmerzfrei kacken konnte. In der Zeit lernte er Mel, die Nachtschwester auf seiner Station, kennen. Mel hatte schon viele kommen und gehen sehen, aber Singh begann sie zu interessieren. Er war der erste der ihrem Blick stand hielt, und der erste der in ihr dabei das diffuse Gefühl von Panik hervorrief. Trotzdem mochte sie ihn, und als Patient war er ein Glücksfall. Singh beschwerte sich über nichts und ließ alle notwendigen Prozeduren klaglos über sich ergehen. Dabei hatte Mel niemals das Gefühl es mit einem resignierten Aphatiker zu tun zu haben; seine Ruhe imponierte ihr. Umso mehr schockierte es sie, als er eines Abends derart heftig zu weinen und zu zittern begann, daß man ihm eine Beruhigungsspritze geben mußte; sie hatte ihm lediglich ein paar Minuten den Kopf gestreichelt. Aber Singh war in dem Moment klar geworden, daß er vorerst den Kampf gegen sich selbst verloren hatte. Er hatte sich verliebt.

Um die Mittagszeit, als die Hitze im Zelt unerträglich wurde, packte Singh sein Angelzeug zusammen, verschloß penibel den Zelteingang und ging runter zum Strand. Kaum war er in den Dünen verschwunden, kamen aus allen möglichen Löchern einzelne Ameisen hervor, krabbelten unter den Zeltboden und machten sich ans Werk.

Wie von Singh befürchtet, hielt die narkotisierende Wirkung ihrer Verliebtheit nicht lange an. Mel begann zu merken, daß er sich immer mehr von ihr zurückzog. Gesprächen wich er aus, und als sie ihn einmal, ihren ganzen Stolz außer Acht lassend, fragte , ob er sie überhaupt liebe, sagte er ihr ins Gesicht, daß sie austauschbar sei. Und er dachte das wirklich. Ihm war noch niemand begegnet der tatsächlich einer Person nachtrauerte, als vielmehr das Scheitern einer Idee beklagte. Die Idee blieb, aber Körper und Name den man ihr gegeben hatte, verblaßten. Und verblaßte der Name nicht, so war es nunmehr der Name für eine Katastrophe oder, den Ausdruck benutzte Singh in dem Zusammenhang am liebsten, für eine Geisteskrankheit. Mel war dafür der beste Beweis. Quälte er sie anfänglich mit Worten, begann er irgendwann sie zu schlagen oder auf andere Art und Weise zu demütigen. Er tat dies einzig und allein aus dem Grund, weil er wissen wollte, in wie weit Mel bereit war ihren großartigen Verstand einer bloßen Illusion zu opfern. Er legte das Experiment auf ein Jahr an und führte über ihren Verfall Tagebuch um es ihr am Ende geben zu können und dann zu gehen. Aber soweit kam es nicht mehr. Eines Tages eröffnete Mel ihm, daß sie schwanger sei, und egal wie er dazu stehe, das Kind behalten wolle. Neun Monate redete Singh kein Wort mehr mit ihr, um ihr unmittelbar nach der Geburt des Kindes mitzuteilen, daß er sie jetzt verlassen werde. Zwei Wochen später trug er in das Tagebuch ein: Erweiteter Suizid; Gefühl von Bewunderung.

Singh hatte kein Glück beim Angeln und ging nach einigem Zögern schwimmen. Er fürchtete sich vor der Brandung, aber erstmal im Wasser fand er es herrlich. Die Wellen umschlangen ihn, wirbelten ihn herum, zogen ihn auf den Grund, schleuderten ihn an die Oberfläche und warfen ihn immer wieder zurück ans flache Ufer. Schließlich blieb er glücklich und atemlos liegen und pißte eine Fontaine in die Sonne.

Nach Erledigung der Beerdigungsformalitäten hatte Singh sich auf eine sehr lange Reise begeben. Jahre später saß er in einem Café und begann einen Aufruf zu verfassen über dessen Inhalt er unterwegs die ganze Zeit gegrübelt hatte: Wir, die Unterzeichner, rufen hiermit die Menschheit auf, sich bis Ende der Dekade das Leben zu nehmen! Wir sind uns der Ungeheuerlichkeit dieser Forderung bewußt, doch sehen wir darin die einzige, endgültige, Lösung unseres größten Problems; der Hoffnung! Seit Anbeginn gaukelt sie uns vor, jenseits von ihr existiere etwas, was sie überflüssig machte; das Glück! Wir richten unser ganzes Leben danach aus, zeugen neues Leben, vererben ihm diese Idee an die wir selbst kaum noch glauben und die wir dennoch nicht verlieren mögen. Aus Hoffnung.
Die Unterzeichner leugnen nicht die unermeßliche Kraft die in ihr steckt, die ihr Segen ist, und doch sogleich ihr größter Fluch. Unerbittlich treibt sie uns voran, hat uns uns Selbstzweck werden lassen der nicht mehr hinterfragt. Am Ende stehen wir dem Jenseits gegenüber und erahnen den grauenhaften Selbstbetrug. Kein Glück; sondern Nichts und für die Freiheit zu spät!
Die Unterzeichner schätzen die Freiheit als ihr höchstes Gut...

Alles in Allem umfaßte der Text mehrere hundert Seiten und der allegorische Roman, den Singh unter einem Pseudonym dazu veröffentlichte, sollte eines der letzten Bücher werden die noch gedruckt wurden. Nach und nach setzte es eine Selbsttötungswelle in Gang deren Opferzahl nur noch von einer übertroffen wurde: Die meisten Menschen kamen dabei ums Leben, ihr grundlegenstes Freiheitsrecht gegen die Truppen der ausnahmslos ratlosen Regierungen zu verteidigen, die keine andere Möglichkeit sahen als dieser Massenbewegung mit Gewalt beizukommen. Ein zynischer Effekt dessen Effizienz selbst den Autor etwas erschreckte, obwohl er ihn hatte kommen sehen.

Mit ein paar Krebsen als Beute machte Singh sich auf den Rückweg zu seinem Lager. Auf dem Dünenkamm blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. Vor ihm lag das offene Meer, der Zauber einer Kindheit, und am westlichen Horizont begann der Himmel sich allmählich rot zu verfärben. Ich bin lange geblieben, dachte Singh, und ging weiter.

Der Mann, der am nächsten Morgen zwischen Millionen zerquetschter Ameisen in seinem Zelt lag, war tot.

 

Hallo Paror,

ich hatte gestern schon angefangen, deine Geschichte zu lesen, hatte aber abgebrochen, nach dem die Hauptfigur seinen Finger in den After steckte. Heute habe ich mich durchgerungen, die Geschichte durchzulesen.
Ich mag vielleicht konservativ sein, aber dennoch bin ich der Meinung, dass eine gute Geschichte ohne Wörter wie "Ficken", "Blasen" und "Arsch" usw auskommen kann. Es ist dem Stil des Schreibers überlassen, ob er dafür Umschreibungen finden möchte. Es ist keine Herausforderung angewiderte Stimmung mit "verbotenen" Wörtern dem Leser zu vermitteln.

Der Staatsfeind ist eine Figur, die in sich selbst kontrovers ist. Wenn ein Mensch ungeformt und seelenlos ist, dann ist er so, wie Du ihn beschreibst. Er ist widerlich und Menschen verachtend. Ich habe nicht erlesen können, ob er auch wirklich widerlich handelt. Ich hatte den Eindruck, dass es nur seine Gedanken sind. Es waren nur seine Gedanken, die den sexuellen Kontakt mit der Minderjährigen erfanden. Denn alles das, wie auch die Massenselbstmorde, sind jenseits von der Vorstellung, die der Leser mitbringt.

Vielleicht muss der Leser das Gelesene und Verstandene, die Zeit des Geschehens, auf einen Moment reduzieren. Der Staatsfeind wird am Penis operiert. Die Ameise ist das Jucken. Das Herausreissen der Beine vielleicht die Enthaarung. Dann wäre die Schlussfolgerung, dass die Beziehung zur Krankenschwester auch nur Produkt seiner Fantasie war. Die Entlassung aus dem Krankenhaus macht er zu einem Verlassen der Frau.

Ich muss ehrlich sagen, ich ziele ins Ungenaue. Der Text lässt mich unangenehm und unbefriedigt zurück. Das Einzige, das ich positiv anmerken möchte, ist der saubere Schreibstil. Dazu habe ich nur einen Punkt, den ich nennen möchte:

"Denn soweit er das beurteilen konnte, waren wir dem Rest, also Allem, ziemlich scheißegal,"

„wir“ wäre hier ein Erzählerwechsel. Ich weiss natürlich, dass es schwierig ist, statt „wir“ „sie“ zu nehmen. Vielleicht solltest du hier auf Pronomisierung verzichten. Oder du fügst untypisch für Deine Geschichte eine wörtliche Rede ein.: „Wir sind allen scheißegal“.

Fazit: Diese Geschichte provoziert mit ihrem Erzählstil. Mit ihren speziellen Ausdrücken durchbricht sie den erzählstilistischen Rahmen, womit der grösste Teil der Leserschaft ausgeschlossen wird. Der Inhalt ist unbedeutend und schwer! Keine angenehme Geschichte.

Sorry

Barde

 

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