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Der Stau - Ein deutsches Dramolett

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25.03.2021
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Der Stau - Ein deutsches Dramolett

„Nicht so schnell“, sage ich. „Hier ist 50, nicht 51!“

„Fahr doch nicht so dicht auf, der könnte bremsen, Herrgott!“

„Vorsicht! Siehst Du denn nicht den LKW, der aus der Einfahrt kommt?“

Meine Gattin lässt den Wagen der gehobenen Oberklasse langsam ausrollen. Etwa sechs Meter vor einer grünen Ampel, auf der mittleren Spur einer vielbefahrenen Hauptverkehrsader unserer lieblichen Metropole Niederaubach.
„Möchtest du fahren, Gisbert?“, fragt sie.
„Ich möchte schon“, gebe ich zu. Nach und nach fangen die anderen Verkehrsteilnehmer an zu hupen.
„Und, was hindert dich?“
Ich ziehe es vor, diese Frage zu ignorieren.
„Vielleicht die Tatsache, dass du keinen Führerschein besitzt?“
„Ich besitze einen Führerschein“, stelle ich richtig. „Nur eben nicht jetzt.“
„95 km/h innerhalb einer geschlossenen Ortschaft. Ich habe mir sagen lassen, das sei Rekord gewesen.“
„Es waren 93", korrigiere ich. „95 war das Alter des Mütterchens, das sich auf dem Zebrastreifen vor mein Auto schmeißen wollte.“
„Und die du um ein Haar überfahren hättest.“
„Keineswegs, Liebling. Ich bin nicht nur ein ausgezeichneter, sondern auch ein vorausschauender Fahrer. Zwischen meinen Kühlergrill und die alte Dame hätte mindestens noch ein Wälzer von Christine Wunnicke gepasst.“ (Meine Frau ist Präsidentin des kulturellen Förderkreises Worte & Taten e. V. in Niederaubach. Aussagen dieser Art stimmen sie in der Regel milde.)
„Christine Wunnicke schreibt ausgezeichnete Bücher“, bestätigt Renate. „Ausgezeichnete und sehr dünne Bücher!“
„Ja, sage ich, „das mag sein. Aber in meinem Lebensalter ergibt es keinen Sinn mehr, noch mit Krieg und Frieden anzufangen. Bis ich das gelesen habe, sitze ich vermutlich schon in der Ballsportgruppe des örtlichen Pflegeheims.“
Es klopft an meiner Scheibe. Ich betätige den Knopf, und die Scheibe fährt leise schnurrend in den sinnreich darunter belassenen Hohlraum. Draußen steht, in der Pracht seiner Jahre, ein rotgesichtiger Herr mittleren Alters, dessen Sprachfärbung ihn als einen Sohn der ehemaligen neuen Bundesländer ausweist (ich tippe mal auf den Großraum Dresden), und dessen kompakte Figur auf eine Vergangenheit als Mitglied im olympischen Ringerteam der Deutschen Demokratischen Republik schließen lässt.
„Haben Sie die Absicht, heute noch weiterzufahren?“, brüllt er mir ins Gesicht.
„Bitte“, sage ich, „ich muss sie bitten, sich Ihrer Gesichtsmaske zu bedienen, bevor sie mich anspeien. Nicht nur, dass wir immer noch eine Pandemie haben, auch ihr vom Bluthochdruck gezeichnetes Altherrengesicht bietet nicht eben Grund zur Freude.“
Renate lässt, so glaube ich aus den Augenwinkeln zu bemerken, den Kopf auf das Multifunktionslenkrad sinken.
„Was? Was hast du da gesagt, du Gnusbokopp?“, ruft der offenbar leicht erregbare Verkehrsteilnehmer, dessen Golf V hinter uns im Leerlauf tuckert. Dabei macht er Anstalten, sich die beige Windjacke vom Körper zu reißen und seiner hinter ihm wartenden Gattin in die Hand zu drücken. Vermutlich um die Arme für einen kleinen Ringkampf freizuhaben.
„Steig aus, du Angeber, und ich zeige dir mal, wo der Barthel den Most holt.“
„Sehen Sie“, sage ich und schnalle mich ab, „das ist ein schönes Beispiel dafür, wie Worte oder ganze Sprichwörter durch Unkenntnis falsch benutzt werden. Wie Sie natürlich wissen, stammt die Sentenz vom Barthel, der den Most holt, aus dem Jiddischen. Nun ist aber Barthel keineswegs ein Name, wie oft behauptet wird. Etwa die Abkürzung von Bartholomäus. Nein, es handelt sich tatsächlich um eine Art Brechstange, demnach ein Werkzeug. Und bei dem Most, der dort geholt werden soll, handelt es sich auch keineswegs um gekelterten Fruchtsaft. Vielmehr ist Most ein Begriff für Geld. Also bedeutet, ich zeige dir, wo Barthel den Most holt: Ich zeige dir, wo man mit einer Brechstange Beute machen kann.“
Die Gattin des Mitbürgers aus den ehemaligen neuen Bundesländern beugt sich nun ebenfalls hinunter. „Sie reden so wunderbar geschwollen. Sind Sie Arzt oder sowas?“
„Nein“, erkläre ich, „aber einen Doktortitel besitze ich trotzdem. Wo tut’s denn weh?“
„Hier, in der Schulter“, erklärt sie und reibt die betroffene Stelle mit schmerzverzerrtem Gesicht.
„Was ist denn los? Warum geht’s denn nicht weiter?“, krakeelt ein Jungmanager im taubenblauen Maßanzug aus Rhinozeros-Nasenhaargewölle.
„Der Herr ist Arzt“, erklärt die Frau des Sachsen, und es klingt, als ob sie sagen wollte: „Der Herr ist Messias.“
„Ach so“, nickt der Jungmanager, „ach so“ - und wird gleich viel anschmiegsamer.
„Liegt bestimmt am Getriebe“, mutmaßt ein herbeigeeilter Brummi-Fahrer.
„Nein, nein“, wehre ich ab. „Entweder ist das eine Kalkschulter oder ein Rotatorenmanschettenriss. Eins von beiden.“
Der Kraftfahrer klatscht in die Hände. „Rotatorenmanschettenriss – dit isset!“
„Sind Sie auch Arzt?“, fragt die Dame aus Sachsen.
„Nein, aber mein Großvater mütterlicherseits hatte einen Opel Commodore. Da war auch mal ein Riss in der Rotatorenmanschette. Das wird teuer, sag‘ ich Ihnen, richtig teuer.“
Renate sieht mich an, wie das nur eine Frau vermag, die wirklich liebt, und die bereit ist, durch Liebe all die kleinen Lässlichkeiten des Objekts ihrer Begierde zu vergeben.
„Ich vertrete mir mal kurz die Beine“, sage ich. Immerhin: Um unseren PKW der gehobenen Oberklasse hat sich bereits eine beachtliche Menge Volkes versammelt. Die will unterhalten werden. Panem et circenses.
„Bitte mal die Eintrittskarten bereithalten“, rufe ich über die Köpfe der Schaulustigen hinweg. Und füge scherzhaft hinzu: „Außerdem benötigen wir heißes Wasser und saubere Laken.“
„Ist Ihre Begleiterin schwanger“, fragt eine Dame im verschwenderisch gepunkteten Kleid.
„Nein, ich habe einen Tee getrunken und will mir die Mundwinkel abtupfen. – Natürlich ist meine Gattin schwanger! Wozu sollte ich denn wohl sonst heißes Wasser und Laken benötigen? Haben Sie noch nie einen Western gesehen, gnädige Frau?“
„Was ist denn da vorne los?“, tönt es von den hinteren Rängen, die naturgemäß sichtbeeinträchtigt sind.
„Der Herr ist schwanger“, erläutert eine Frau im Regenmantel.
„Hier? Mitten auf der Straße?“
„Sind bestimmt Ausländer“, mutmaßt ein Türke und schnippt seine Kippe in den Gulli.
Derweil kommen einige Versprengte aus dem allfreitäglichen SKOLSTREJK FÖR KLIMATET des Wegs.
„Is‘ ja klar“, greint eine Jungmaid in malerisch aufgeschlitzter Designer-Jeans. „Opa fährt SUV! Schon mal darüber nachgedacht, dass deine Enkel auch noch auf diesem verschissenen Planeten existieren wollen?“
„Durchaus“, entgegne ich höflich. „Deswegen stehe ich ja hier.“
„Warum stehst du hier?“
„SITTSTREJK FÖR KLIMATET!“
„Und was heißt das?“
„Ja, mein Kind, wenn du dich gelegentlich entschließen würdest, freitags in die Schule zu gehen, wüsstest du das. Fremdsprachen sind wichtig. Du willst doch bestimmt auch mal im Aufsichtsrat von Daimler Benz die Fäden ziehen, oder?“
„Wichser!“
„Lassen Sie mich mal durch! Ich bin Arzt!“ Ein älterer Mann, der aussieht wie der junge Udo Jürgens, quetscht sich durch die 30, 40 Gaffer, die sich mittlerweile unserem Happening angeschlossen haben. „Ist jemand verletzt?“, ruft er.
„Ja, ich“, meldet sich die Frau des Ringers.
„Und was fehlt Ihnen?“
„Kalkschulter oder Rotatorenmanschettenriss“, erkläre ich.
„Was?“, fragt er.
„Soll ich’s Ihnen in Großbuchstaben notieren? Wo haben Sie überhaupt Ihren Abschluss erworben? Volkshochschule Entenhausen vermutlich!“
„Ich bin Tierarzt“, stottert er.
Derweil ist die Polizei eingetroffen. Unverhohlene Wiedersehensfreude entstellt das Gesicht des Polizeiobermeisters Müller („Mit Doppel-L hinter dem Überfall!“), der vorzeiten bereits das Vergnügen hatte, mich anlässlich einer Verkehrskontrolle zu drangsalieren.
„Herr Dr. Flötenzupfer, Sie! Das hätte ich mir denken können. Was um alles in der Welt ist hier los? Warum fährt diese Frau nicht weiter? Gehört das Auto Ihnen?“
„Allerdings“ bestätige ich. „Der Grund, warum wir nicht weiterfahren, ist der, dass es am Straßenrand zu einem akuten Notfall gekommen ist. Gefahr in Verzug. Compris?“
Müller legt die Stirn in Falten und zückt seinen Schreibblock. „Welche Art von Notfall?“
„Diese Frau“, sage ich, gehe zu der Frau des Ringers und lege ihr den Arm um die Schultern, „erleidet Schmerzen!“
„Gab es einen Unfall?“
„Nein. Ein Verbrechen!“
„Ein Verbrechen?“
„Ja, ein Verbrechen an der Volksgesundheit. Haben Sie schon mal vom Rotatorenmanschettenriss gehört?“
„Allerdings!“ Müller wirft sich in die Brust. „Mein Vater ist langjähriger Kassenwart des Opel-Commodore-Fanclubs.“
„Dann wissen Sie, wovon ich spreche.“
„Absolut.“
Jetzt mischt sich das ehemalige Mitglied der Ringer-Nationalmannschaft der Deutschen Demokratischen Republik in das Gespräch ein: „Der Herr“, ruft er, „hat die Farbe meines Gesichtes in beleidigender Weise herabgewürdigt, Herr Wachtmeister.“
„Und Sie sind?“, fragt Müller.
„Der Ehemann dieser Dame!“
Müller blickt erst ihn an, dann sie an, dann wieder ihn an, dann sie. „Wollen Sie Anzeige stellen?“, fragt er meine Patientin, die auf der Stelle erbleicht und in den Beinen nachgibt. Erst kommt nichts, dann flüstert sie: „Wenn’s der Wahrheitsfindung dient, Herr Major.“
„Gut. - Mitkommen!“ Ersteres zu der Frau, letzteres zu ihrem rechtmäßig angetrauten Gatten.
„Was?“, ruft der Ringer, während ihn Müller am Arm packt. „Wer ist denn hier …“, dann reißt er in einer unbedachten Anwandlung den Polizeiobermeister mit einem gekonnten Doppelnelson zu Boden.

Ja, so geht das. Unsere verwöhnte Jugend. Geht auf die Straße, um gegen den Klimawandel zu demonstrieren, und was ist die Konsequenz? Anarchie!

Fazit: Ein leicht verletzter Polizist, eine Frau, die mit Rotatorenmanschettenriss in eine Tierklinik eingeliefert wurde, und ein Zeuge, der glücklicherweise die Nerven behielt und Schlimmeres verhüten half.
Renate musste gestern ihren Führerschein abgegeben. Wegen massiver Behinderung des Verkehrs und Anstiftung zum Landfriedensbruch. Soll keiner sagen, ich hätte sie nicht gewarnt.

Nachsatz: Christine Wunnicke hat für ihren Roman „Die Dame mit der bemalten Hand“ völlig zurecht den Wilhelm-Raabe-Preis 2020 erhalten. Das Buch ist 165 Seiten dünn. „Krieg und Frieden“ dagegen bekommen Sie nicht unter 1.500 Seiten. Beachten Sie: Der Weg zum Friedhof ist kürzer, als man denkt.

 

Na, das fängt ja lustig an!
Ich lese tatsächlich:

Nicht so schnell“, sage ich. „Hier ist 50, nicht 51!“
So beginnt Deine Satire,
lieber @LaFong – Hola!

Dem ersten Satz wird – berechtigt oder nicht – größere Bedeutung beigemessen: Er würde den Leser bannen oder abstoßen, ihn animieren, weiterzulesen – oder nicht.
Ich lese natürlich weiter. Wundere mich jedoch, was für ein nicht ganz so frischer Humor mir entgegenschlägt:

zu ihrem rechtmäßig angetrauten Gatten ...
Wie bitte? Wie mir scheint, liegt dieser Text schon etwas länger. Aber nein – friday for future ist neueren Datums. Vielleicht hast Du ihn überarbeitet, auf jeden Fall steckt eine Heidenarbeit drin! Du spannst den Bogen weit – und schreiben kannste wirklich.

Solides Handwerk muss gewürdigt werden, und da ist es doppelt schade, dass mir das Satire-Schmunzeln nicht so recht gelingen will.
Zu viele Erinnerungen an frühere Zeiten werden da wachgekitzelt.

„Was ist denn los? Warum geht’s denn nicht weiter?“
So spricht heutzutage doch niemand mehr.

... , krakeelt ein Jungmanager im taubenblauen Maßanzug aus Rhinozeros-Nasenhaargewölle.
Ich denke an Peter Frankenfeld. Sei mir nicht bös, aber das wirkt wirklich wie aus der Zeit gefallen.

Sicherlich wird‘s eine Menge Leute geben, die sich kaputtlachen. Die, und ihre begeisterten Kommentare, gönne ich Dir von Herzen. Dann vergiss mein griesgrämiges Genörgel und feiere den Tag!
Nichts für ungut, aber alles für gut, mein Lieber – und fröhliche Ostern!

José

PS: … „ich muss sie bitten, sich Ihrer Gesichtsmaske zu bedienen, bevor sie mich anspeien. Nicht nur, dass wir immer noch eine Pandemie haben, auch ihr vom Bluthochdruck gezeichnetes Altherrengesicht ...

 

Ich finde die Geschichte an sich gut lesbar. Die Formulierungen sind natürlich nicht zum Überfliegen gemacht. Was mich etwas irritiert, ist der Anfang.

Meine Gattin lässt den Wagen der gehobenen Oberklasse langsam ausrollen. Etwa sechs Meter vor einer grünen Ampel, auf der mittleren Spur einer vielbefahrenen Hauptverkehrsader unserer lieblichen Metropole Niederaubach.

„Christine Wunnicke schreibt ausgezeichnete Bücher“, bestätigt Renate. „Ausgezeichnete und sehr dünne Bücher!“
Auf der Straße ist viel los, das Auto kommt jedoch nicht voran und trotzdem gibt es Zeit für ein Gespräch über eine Autorin. Irgendwie habe ich nicht kapiert, was die Ehefrau zum Stehen zwingt. Alles andere danach passt für mich besser zur Geschichte.

Renate musste gestern ihren Führerschein abgegeben.
Meintest du "abgeben"?

 

Hab mich amüsiert! Das ist so abstrus, es muss auf einer wahren Begebenheit beruhen, stimmt's?

 

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