Der Stein
Der Stein
Wie zuckende Blitze schossen mir wieder und wieder die Bilder aus dem Frühjahr durch den Kopf und die Last dieses grausamen Schicksals lag auf meinen Schultern, begann unwiederuflich, mich zu erdrücken und zu zerquetschen.
Langsam öffnete sich die Tür und Schwester Doris erschien.
Gebrochen kauerte ich an dem vergitterten Fenster und betrachtete mit einer vollkommenen Gleichgültigkeit den schneebedeckten Innenhof, auf dem die glücklicheren ohne jegliche Zwänge ihrem Treiben nachgingen. Doch ich sah sie nicht wirklich. Jeden Tag seit neun Monaten versuchte ich, die Bilder aus meinem Gedächtnis zu verdrängen, sie auf immer zu verbannen. Es sollte mir nie wieder gelingen.
Vor meinem inneren Auge zog wieder die gleiche, gespenstische Szene vorüber, die mich in ihrem Bann gefangen hielt und die es nicht mehr zuließ, mich als Mensch zu fühlen. Nie wieder konnte ich diese regnerische Nacht vergessen, die in mir ein blankes Entsetzen hervor rief. Mit den Augen eines Unbeteiligten erkenne ich heute durch einen grauen Schleier, wie ich durchnässt auf diesem Koloss von einem Mann saß. Verkrampft hielt ich den kürbisgroßen Felsbrocken zwischen meinen Händen und ich zögerte nur kurz, bevor ich mit dem Stein in einem fieberhaften Wahn immer wieder auf das Gesicht meines Gegenübers einschlug. Ich hörte nicht auf, bis diese Bestie regungslos unter mir lag und aus seinem einstigen Antlitz nur noch ein blutverschmierter Klumpen zurückblieb, der entthront auf seinem Körper hing.
Das Klappern des Medikamentenwagens riss mich aus meinen Gedanken und die Schwester betrat schweigend mein Zimmer, ich sah sie mit meinen blutunterlaufenden Augen an, hinter denen ich meine Tränen gefangen hielt, während sie den Wagen neben mir abstellte und sich mir zuwandt. Ich began zu stammeln:
„Bitte Schwester, lassen sie mich zu ihr. Ich hatte das Recht, Schwester, verstehen sie mich doch, ich hatte das Recht, mein Gott, Maria, lassen sie mich zu ihr gehen. Ich ertrage dieses Leid nicht mehr, bitte Schwester, ich bitte Sie, lassen Sie mich gehen.“
Nun konnte ich meine Tränen nicht mehr verbergen, alles Flehen hatte keinen Sinn. Mit ihrer warmen, besänftigenden Stimme redete sie mir gut zu und versuchte mir mit einen Griff unter meinen Schultern beim Aufstehen behilflich zu sein. Ich hörte nicht, was sie sagte. Vollkommen leer stand ich neben ihr, mein starer Blick wanderte durch sie hindurch, verlor sich im Raum und fiel schließlich auf ihren Wagen, auf dem ich den funkelnden Generalschlüssel erblickte. Unachtsamkeit musste Schwester Doris dazu getrieben haben, ihn so offen dort liegen zu lassen. Es musste Schicksal gewesen sein, denn in dem Augenblick in dem mein Blick auf den Schlüssel fiel, gab ihr Pieper einen lauten Pfeifton von sich und sie wandte sich einen Augenblick von mir ab. Zeit genug, um geistesgegenwärtig meine zittrige, knochrige Hand dem Schlüssel entgegen zu strecken und ihn an mich zu nehmen. Schwester Doris konnte nur noch erkennen, wie ich mich in meiner Hose am Hintern kratze. Was sie allerdings nicht wissen konnte, war, das in diesem Augenblick der Schlüssel zwischen meine Pobacken wanderte und wohlbehütet von ihnen festgehalten wurde. Wiederstandslos lies ich mich ins Bett verfrachten und nahm die Medikamente zu mir, die mir die Schwester entgegen hielt. Sie bemerkte das Fehlen des Schlüssels nicht und verließ kurz darauf mein Zimmer, während ich in einen tiefen Schlaf viel.
Nach ein paar Stunden Schlaf, in denen ich weder träumte, noch an meine Tat denken musste, erwachte ich schweißgebadet. Die Uhr an meiner Wand deutete mir genug Zeit, um meinen Plan auszuführen. Langsam richtete ich mich auf, nahm den Schlüssel aus meinem Hintern und schlich an meine Tür, lauschte, versuchte herauszufinden, wo sich die Nachtschwester befand. Als ich eine Ewigkeit nichts hören konnte, drückte ich langsam die Türklinke nach unten, die ein leises Knarren von sich gab. Behutsam streckte ich meinen Kopf aus der Tür und sah in den dunklen Flur hinein. Ich konnte nichts erkennen und trat leisen Schrittes auf den Flur hinaus. Ich wandte mich nach links und schlich die zehn Meter bis zu der großen Glastür, die Nachts gewöhnlich abgeschlossen war, doch der Schlüssel ebnete mir meinen Weg Richtung Freiheit. Leise ging ich die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, blieb aber auf dem Treppenansatz stehen, um mich noch einmal zu vergewissern, das mich auch niemand bemerkt hatte. Ich musste nur noch den langen Flur entlangschleichen, an dessen Ende sich die Umrisse der schweren, braunen Tür abzeichneten. Ich bemerkte nicht mehr, wie ich immer schneller einen Fuß vor den anderen setzte, aufgeregt umklammerte meine Hand den Schlüssel, bereit, auch diese letzte Hürde zu überwinden. Keuchend ereichte ich die Tür, automatisch ging meine Hand Richung Schloss. Ich betrat den Raum und ging zielstrebig auf das kleine weiße Schränkchen auf der gegenüberliegenden Seite, öffnete es und entnahm mit einer unglaublichen Vorfreude meine Fahrkarte, die mich zu Maria führte.
Zurück in meinen Zimmer, ich saß an meinem Fenster und betrachte zum letzten Mal den Innenhof, den ich während meiner Zeit hier nur einmal betreten hatte, während der Mond still seine fahle Fackel hielt. Immer müder, immer weiter! Tief in mir konnte ich spüren, wie die Bilder langsam verschwanden, eine Last wurde von mir genommen. Anfangs versuchte ich dagegen anzukämpfen, doch irgendwann wurde es zu mächtig. Ich schloss meine Augen und spürte die Leere, die in meinem Körper herschte. Das letzte was ich sah, bevor ich in einem tiefen Schlaf fiel, aus dem ich nicht mehr aufwachen sollte, war der Stein, wie er friedfertig an meinen Füßen ruhte. Seit dem ich ein kleiner Junge war, lag dieser Stein zwischen den Wurzeln einer mächtigen Eiche. Ich fühlte nichts, meine Hände griffen nach ihm und ohne auch nur eine Sekunde lang nachzudenken, ging ich in Richtung des Mannes, der sich immer noch auf dem nackten, leblosen Körper meiner Frau bewegte.