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Der Strudel
Vor langer Zeit wohnte in einer großen Stadt ein Ehepaar. Obwohl nach außen hin alles so war, wie es sich geziemte, fehlte doch seit geraumer Zeit etwas Wichtiges, das im Laufe der Zeit verloren gegangen war. Das war die Liebe. Still und heimlich, beinahe unbemerkt, hatte sie sich entfernt. Die Aufmerksamkeit, mit der Ehemann Kuno seine Gattin Kunigunde einst umwarb, war verschwunden, und die Zärtlichkeiten, die er ihr anfangs schenkte, waren hastiger Befriedigung gewichen.
So kam es, dass Kunigunde eine immer stärker werdende Sehnsucht spürte, über die sie nicht mehr reden konnte. Kuno verstand sie nicht, wenn sie darüber zu sprechen versuchte, und Fremde wollte sie nicht in ihr Herz schauen lassen.
Irgendwann hatte sie es sich angewöhnt, in stillen Abendstunden zum Fluss zu gehen, der durch die Stadt floss, und dort, in Gedanken versunken, ihren Träumen nachzuhängen. Sie lauschte dem fröhlichen Plätschern der Wellen und dem beruhigenden Rauschen des Windes in den Zweigen der Bäume.
„Wäre ich der Wind“, dachte sie, „so könnte ich das Gras streicheln und die Blumen umkosen, mich in den Zweigen der Bäume wiegen und mit den Blättern spielen, ihr geheimnisvolles Wispern hören“. Sah sie zum gestirnten Himmel hinauf, so wünschte sie sich sehnlichst, einer der zahllosen Sterne zu sein und zu strahlen vor Glücksseligkeit. Ohne dass sie es gewahr wurde, formten ihre Lippen zärtliche, sehnsüchtige Worte und schickten sie mit dem Wind in die Dunkelheit hinaus. Dann und wann konnte es passieren, dass der Fluss oder die Blätter ihr geheimnisvolle Botschaften zuraunten, die niemand verstehen konnte außer ihr.
Kam sie an solchen Abenden zurück in ihr Heim, dann war sie gelöst und heiter; die noch kaum zu bemerkenden Kummerfalten glätteten sich und ein Strahlen ging von ihr aus, so dass ihr eifersüchtiger Mann glaubte, sie hätte einen heimlichen Liebhaber. Er machte ihr Vorwürfe und hätte sie fast geschlagen, doch auf seine Vorhaltungen sagte sie nur, er könne sie gern abends begleiten, um ihren Geliebten zu sehen. Das aber wollte er nicht, und schließlich meinte er, sie sei wohl nicht ganz richtig im Kopf.
An einem Abend saß sie wieder am Fluss wie schon so oft. Und als sie wieder ganz sehnsüchtig den Himmel betrachtete, fiel ein Stern herab auf die Erde, direkt neben sie. Kaum hatte er die Erde berührt, verwandelte er sich in einen jungen Mann, der fast wie die anderen Männer aussah, wenn nicht seine Haut mit Sternenpünktchen übersät gewesen wäre. Der Sternenmann war ihr sofort vertraut und sie begrüßte ihn freudig, fragte ihn nach Woher und Wohin.
„Ich habe Dich schon so oft hier sitzen sehen und deinen leisen Worten der Sehnsucht gelauscht“, sagte der Stern. „Ich habe deine Schönheit bewundert und deine Worte haben mich berührt“, fuhr er zögernd fort, „und nun habe ich mich in dich verliebt und bin zu dir gekommen, um es dir zu sagen“. Während er zu ihr sprach, hatte er zärtlich einen Arm um sie gelegt und seine leuchtenden Augen in die ihren versenkt.
Heftig klopfte ihr Herz, als sie ihren Kopf an seine Schulter legte und ihr Mund all die Worte formte, die sie bisher nur leise dem Wind anvertraut hatte. So kam es, dass die Seele von Kunigunde all ihre Sehnsüchte preis gab, sich löste und zu dem Sternenprinzen flog, der sich ihr offenbart hatte. Viel zu kurz war die Zeit, als sie sich schon wieder trennen mussten, weil die Morgendämmerung den Nachthimmel auszulöschen begann. Bevor der Stern zurück flog, weihte er sie in sein Geheimnis ein:
„Liebste“, sagte er, „wisse, dass niemals ein Mensch von unserer Liebe etwas erfahren darf. Wenn das passiert, dann darf ich nie wieder die Erde betreten, und unsere Liebe wird sterben. Sobald ich die Erde berühre, muss ich verglühen“. Kunigunde schwor, das Geheimnis zu wahren.
So trafen sie sich viele Male und ihre Liebe wurde größer und stärker, als es Kunigunde jemals bisher erfahren und zu träumen gewagt hatte. Doch die Eifersucht Kunos war wieder erwacht und er beschloss, ihr nachzustellen. Heimlich war er ihr nachgeschlichen, jedoch war der Stern für die anderen Menschen nicht zu sehen, so dass Kunos Bemühungen zunächst ohne Erfolg blieben. Da ersann er eine List, und er wandte sich an eine bösartige Nachbarin, der er goldene Berge versprach, wenn sie das Geheimnis lüften könne.
Die Nachbarin legte sich auf die Lauer und passte Kunigunde ab, als sie gerade wieder von einem Stelldichein mit ihrem Sternenprinzen kam. Die Worte, mit denen die Nachbarin das glückliche Aussehen Kunigundes pries, waren honigsüß, doch bitter wie Galle, als sie von dem Unglück in ihrer eigenen Ehe sprach. „Ach“, klagte sie, „wüsste ich doch nur, wie du es schaffst, so glücklich zu sein bei einem Gatten wie deinem, der nichts als Verachtung und Hohn für dich übrig hat. Mein Mann gleicht deinem aufs Haar, wenn er mich beschimpft, weil ich ihm nichts recht machen kann. Am liebsten ginge ich mit dir zum Fluss, um mich zu ertränken, auf dass meine Seele endlich ihre wohl verdiente Ruhe fände!“.
Voller Angst versuchte Kunigunde, ihrem Schwur getreu zu schweigen, doch das schlimme Los der Nachbarin dauerte sie so sehr, dass sie ihr schließlich von ihrer Liebe zu dem Sternenprinzen erzählte.
Als Kunigunde am nächsten Abend am Fluss saß und wartete, kam ihr Prinz nicht wie sonst zu ihr. Da wurde ihr bewusst, dass die Prophezeiung sich erfüllt hatte und der Stern niemals wieder zu ihr kommen würde, um nicht verglühen zu müssen. Bittere Tränen weinte sie nun Abend für Abend, flehte die Gräser und Blumen, die Bäume, den Wind, die Wellen und schließlich den Himmel an, ihr in ihrem Elend zu helfen.
Unmittelbar am Ufer des Flusses wuchs eine mächtige Trauerweide, deren Zweige sich unter der Last des vernommenen Schicksalsschlages so weit senkten, dass die Blätter tief in den Fluss hinein hingen.
Dort aber, im Wurzelgeflecht der Trauerweide, wohnte eine Najade, die schon vor ewigen Zeiten von der Quelle stromab gewandert war und sich bei der Weide ein Heim geschaffen hatte. Oft hatte sie dem Fest der Elfen beiwohnen dürfen, die in lauen Sommernächten unter der Weide ausgelassen tanzten und musizierten. Als die Najade die Blätter der Trauerweide über das Ungemach reden hörte, welches Kunigunde widerfahren war, fiel ihr ein, dass ein Gevatter der Elfenkönigin Amor, der Gott der Liebe, war. Also sprach sie mit der Elfenkönigin über das Gehörte und beschwor sie bei der Freundschaft aller Geister und Jenseitigen, Gott Amor zu bitten, der verzweifelten Kunigunde zu helfen.
Amor kannte seine Macht und wusste, dass nichts der Liebe widerstehen kann, wenn sie rein ist wie frisch gefallener Schnee, lauter wie ein Diamant und heiß und heftig wie die glühende Lava eines Vulkans. Er unterzog Kunigunde einer Prüfung und befand sie der Sternenliebe für würdig. Doch stellte er eine Bedingung, weil er die Schwäche der Menschen kannte und weil er wusste, dass sie oft fehl gingen, weil sie nicht stark genug waren und den irdischen Anfechtungen unterlagen. Er bestimmte, dass Kunigunde und ihr Sternenprinz im Fluss wieder vereint sein dürfen, denn das Wasser schadete dem Stern nicht.
Als am nächsten Abend der Stern wieder vom Himmel fiel, direkt in die Mitte des Flusses, sprang auch Kunigunde in das Wasser. Dort umarmten sie sich und tanzten vor Freude einen so wilden Tanz, dass sich genau an der Stelle ein Strudel bildete, der noch heute zu sehen ist.
Kommen nachts verliebte Paare an den Fluss, so können sie vom Grunde her ein schwaches Leuchten sehen und darüber den Trichter des sich wild drehenden Strudels. Auch gibt es seitdem den Brauch, dass Liebende, wenn sie wissen wollen, ob ihr Schatz bald kommt, einen Holzspan in den Fluss werfen. Wird er in den Strudel gesogen, so dauert es nicht mehr lange. Schwimmt jedoch der Span am Strudel vorbei, so ist es bis zum Wiedersehen noch weit.
Was aber das Verschwinden Kunigundes betrifft, so ranken sich unzählige Geschichten um dieses Rätsel. Doch niemand kennt es wirklich, denn ob diese Geschichte hier stimmt, ist auch nicht gewiss. Fest steht nur, dass Kunigunde fortan nie wieder gesehen wurde. Man sagt, sie ging dort hin, wo sie die Liebe fand.