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Der Sturm im Bild
Der Sturm im Bild
Als sie die letzten Zeilen aus dem Brief ihres Vaters las, war es, als würde sie über die Worte seine Stimme hören: "Komm nach Hause Kleines. Bitte!"
Was sollte sie nur tun? Julia schloß schwer atmend die Augen. Bilder drehten sich in ihrem Kopf. Berge, Sonne, Familie, Freunde, lachende Gesichter, unbeschwerte Kindheit.
Dann mit achtzehn Jahren. Neugierde auf die Welt, weg von zu Hause. Gelandet in Hamburg.
Wie anders war dort ihr Leben.
Lichter der Nacht, laut, ruhelos, Alkohol, Drogen, Reeperbahn.
Aber auch Jan, den sie liebte, für den sie ihren Körper verkaufte.
"Nur ein Jahr", hatte er gesagt, "für eine bessere Zukunft."
Drei Jahre waren nun schon vergangen. Drei Jahre Hoffnung. Lüge, alles nur Lüge. Die Hoffnung hatte sie aufgegeben, die Lüge erkannt. Warum hatte sie nicht den Mut einfach zu gehen? War es die Scham vor ihrem Vater, die Angst vor Jan?
Sie schaute auf das große Bild, das sie selber gemalt hatte. Den Bug eines Schiffes, gestrandet, festsitzend im groben Sand. Das rettende Meer hinter sich lassend.
Sie konnte den Blick nicht von dem Bild abwenden, wurde in seinen Bann gezogen.
Imaginäre Figuren tauchten auf. Eine Frau, ein kleines Mädchen, glücklich spielend am Strand. Noch eine Person erschien, auf der anderen Seite des Schiffes. Ein Mann, er rief ihren Namen. Julia erschrak, sie erkannte Jan.
Die Frau und das Kind erstarrten im Spiel, schauten sich um.
Julia nahm wahr, was ihr Herz schon wußte. Die Frau war sie selbst. Das Mädchen das Kind, das sie haben könnte. Sie sah wie die Mutter sich von der Kleinen löste, hörte, daß Jan böse und fordernd nach ihr schrie.
Mit jedem Schritt, den die Mutter sich von dem Kind entfernte, verblaßte die kleine Gestalt etwas mehr.
Julias Herz wollte explodieren.
Plötzlich verdunkelte sich das Bild. Ein Sturm heulte auf. Die See tobte. Entsetzt schaute Julia auf die Szene.
Alles in ihrem Inneren bebte. Panik, Atemnot. Eine riesige Welle hatte sich aufgebaut, schäumend, vernichtend.
"Nein!" schrie Julia.
Die Mutter lief zurück zu ihrem Kind, nahm es schützend in die Arme.
Jan tobte vor Wut.
Die Welle hatte den Strand erreicht. Meer und Schiff vereinten sich in gigantischer Urgewalt.
In dem Moment, wo Julia glaubte sterben zu müssen, war es vorbei.
Der Sturm legte sich, das Wasser wich zurück. Jan war verschwunden.
Das Meer hatte sich genommen, was es wollte. Mutter und Kind waren verschont geblieben.
Sie schauten auf die nun ruhige See, blickten dem Schiff hinterher, das von der Flut befreit worden war, mitgenommen auf eine neue Reise.
Die Vision war vorüber, der Entschluß gefaßt. Julia packte ihre Koffer, legte den Schlüssel auf die Anrichte und verließ die Wohnung.
Während sie die Treppe hinunter ging, veränderte sich das zurückgelassene Bild. Das Gemälde wurde auf seltsame Weise immer blasser.
Als die Haustür hinter ihr zufiel, waren die Farben kaum noch zu sehen.
Sie startete ihr kleines schwarzes Auto.
Die Leinwand strahlte in neuem Weiß.