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Der Sturm im Bild

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14.12.2003
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Der Sturm im Bild

Der Sturm im Bild


Als sie die letzten Zeilen aus dem Brief ihres Vaters las, war es, als würde sie über die Worte seine Stimme hören: "Komm nach Hause Kleines. Bitte!"

Was sollte sie nur tun? Julia schloß schwer atmend die Augen. Bilder drehten sich in ihrem Kopf. Berge, Sonne, Familie, Freunde, lachende Gesichter, unbeschwerte Kindheit.
Dann mit achtzehn Jahren. Neugierde auf die Welt, weg von zu Hause. Gelandet in Hamburg.
Wie anders war dort ihr Leben.
Lichter der Nacht, laut, ruhelos, Alkohol, Drogen, Reeperbahn.
Aber auch Jan, den sie liebte, für den sie ihren Körper verkaufte.
"Nur ein Jahr", hatte er gesagt, "für eine bessere Zukunft."
Drei Jahre waren nun schon vergangen. Drei Jahre Hoffnung. Lüge, alles nur Lüge. Die Hoffnung hatte sie aufgegeben, die Lüge erkannt. Warum hatte sie nicht den Mut einfach zu gehen? War es die Scham vor ihrem Vater, die Angst vor Jan?
Sie schaute auf das große Bild, das sie selber gemalt hatte. Den Bug eines Schiffes, gestrandet, festsitzend im groben Sand. Das rettende Meer hinter sich lassend.
Sie konnte den Blick nicht von dem Bild abwenden, wurde in seinen Bann gezogen.
Imaginäre Figuren tauchten auf. Eine Frau, ein kleines Mädchen, glücklich spielend am Strand. Noch eine Person erschien, auf der anderen Seite des Schiffes. Ein Mann, er rief ihren Namen. Julia erschrak, sie erkannte Jan.
Die Frau und das Kind erstarrten im Spiel, schauten sich um.
Julia nahm wahr, was ihr Herz schon wußte. Die Frau war sie selbst. Das Mädchen das Kind, das sie haben könnte. Sie sah wie die Mutter sich von der Kleinen löste, hörte, daß Jan böse und fordernd nach ihr schrie.
Mit jedem Schritt, den die Mutter sich von dem Kind entfernte, verblaßte die kleine Gestalt etwas mehr.
Julias Herz wollte explodieren.
Plötzlich verdunkelte sich das Bild. Ein Sturm heulte auf. Die See tobte. Entsetzt schaute Julia auf die Szene.
Alles in ihrem Inneren bebte. Panik, Atemnot. Eine riesige Welle hatte sich aufgebaut, schäumend, vernichtend.
"Nein!" schrie Julia.
Die Mutter lief zurück zu ihrem Kind, nahm es schützend in die Arme.
Jan tobte vor Wut.
Die Welle hatte den Strand erreicht. Meer und Schiff vereinten sich in gigantischer Urgewalt.
In dem Moment, wo Julia glaubte sterben zu müssen, war es vorbei.
Der Sturm legte sich, das Wasser wich zurück. Jan war verschwunden.
Das Meer hatte sich genommen, was es wollte. Mutter und Kind waren verschont geblieben.
Sie schauten auf die nun ruhige See, blickten dem Schiff hinterher, das von der Flut befreit worden war, mitgenommen auf eine neue Reise.
Die Vision war vorüber, der Entschluß gefaßt. Julia packte ihre Koffer, legte den Schlüssel auf die Anrichte und verließ die Wohnung.

Während sie die Treppe hinunter ging, veränderte sich das zurückgelassene Bild. Das Gemälde wurde auf seltsame Weise immer blasser.
Als die Haustür hinter ihr zufiel, waren die Farben kaum noch zu sehen.
Sie startete ihr kleines schwarzes Auto.
Die Leinwand strahlte in neuem Weiß.

 

Hi Angela,

schön das du meine Geschichte gefunden hast.
Freue mich, dass sie dir gefallen hat.
Ich male zwar nicht selber, doch gibt es einige um mich herum die es tuen.
Ich denke auch, dass die meisten Motive aus Emotionen
gemalt werden, genau so, wie auch viele Geschichten ein Spiegel der Seele sind.

Ich freue mich übrigens sehr, dass du dich mal wieder meldest.

glg, coleratio

 

Hallo Coleratio, ich schließe mich dem Urteil der "frühen" Kritiker insofern an, dass auch ich die Geschichte sehr vereinfacht finde - allerdings stört mich das überhaupt nicht. Ich denke nicht, dass eine Geschichte immer alle Aspekte eines Geschehens erfassen muss. Im Gegenteil ist diese hier ein gutes Beispiel für den Einblick in einen kleinen Aspekt eines kurzen Momentes. Ich hatte beim Lesen das Gefühl, in Julias Gedanken einzutauchen, ein Teil von ihnen zu sein, und da galt es eben auch, mit diesen "visionären" Bildern fertig zu werden. Ich finde, Du hast das gut gelöst.
Sprachlich finde ich Dich ein wenig abgehackt und schließe ich mich Dreimeiers Aufruf nach etwas mehr "Stimmung" an. Gleichzeitig finde ich Deine Schreibe ganz charmant, und zumindest erspart sie Dir den Vorwurf der Überbilderung, der mich häufig ereilt ;O)

Liebe Grüße von Echoloch

 

Hi Echoloch,

ganz lieb das du meine Geschichte gelesen hast und das sie dir im großen und ganzem gefallen hat.

Zu der abgehackten Sprache: Es war ein Versuch von mir
und fand sie eigentlich ganz gut:rolleyes:
Naja???

zu mehr Stimmung: Jaaaa, könnte ich bestimmt. Aber wie, wenn ich die KG so kurz wie möglich halten möchte?

Kannst du mir mal einen Tipp geben?
Würde mich freuen.

lg, coleratio

 

Hallo coleratio.

Diese Geschichte fand ich beindruckend.

Die kurze abgehackte Sprache vermittelt Tempo Spannung.

Das gestrandete Schiff, eine Metapher für festgefahrenes Leben. Das tosende Meer eine Metapher für die Aufruhr, die das Leben mit sich bringt.

Mutter und Kind, die verborgenen Sehnsüchte der Prot.


Wirlkich gelungen, auch weil die Prot sich entschieden hat, neu anzufangen.

Liebe Grüße
Goldene Dame

 

Hi Goldene Dame,

es freut mich wirklich sehr, dass dir diese Geschichte gefallen hat und das du gleich den Sinn erkannt hast.

Leider kann man es nicht jedem Recht machen.
Aber das wäre auch uninteressant. Wo blieben dann die Diskussionen?
Habe heute eine deiner Kgs gelesen. Bin mal gespannt was du dazu sagst.

glg, coleratio

 

Servus coleratio!

Deine Geschichte beschreibt in klaren, ungeschnörkelten Worten, wie einer Frau durch eine spezielle Art der Selbsterkenntnis (selbst gemaltes Bild) das Verfahrene ihrer Situation vor Augen geführt wird, um ihr einen neuen, besseren Weg zu weisen.
Ein ganz wichtiger Satz hierbei:

In dem Moment, wo Julia glaubte sterben zu müssen, war es vorbei.
Die Prot. stellt sich ihrer Angst und besiegt sie dadurch.

Sehr gut gefallen mir dabei die von Goldene Dame bereits erwähnten Metaphern. Eine prima Auswahl! :thumbsup:


Ciao
Antonia

 

Hi Antonia,

auch dir danke ich für das Lesen meiner Geschichte.
Schön das du mit Goldene Dame übereinstimmst.

Irgendwie scheint die KG bei Frauen besser anzukommen und wird auch sofort verstanden.
Woran das wohl liegen mag???:rolleyes:

Vielen Dank und
ganz lieben Gruß
coleratio

 

Hallo Coleratio, also das war ja nur ein Vorschlag mit dem "mehr an Stimmung". Wenn Du die Geschichte so kurz wie möglich halten willst (wieso eigentlich?) ist es in der Tat kaum möglich (fällt mir zumindest nichts ein, um) sie "stimmungsvoller" zu halten. Da kommt Dir das Stakkato entgegen, mit dem Du ja tatsächlich auf kürzestem Raum die meisten Bilder erzeugen kannst.
Ich revidiere meine Aussage also dahingehend: Hättest Du Lust, die Geschichte weiter auszubauen/ ausführlicher darzustellen, würde ich mir ein Mehr an Stimmung wünschen.
;O)

LG Maja

 

Hi Jo,

genau so, wie du es empfunden hast, wollte ich es ausdrücken.

Ich freue mich, dass du die Geschichte gelesen hast. :)

Bis zum nächsten lesen,
lieben Gruß,
coleratio

 

Hi coleratio,
hier bekommt die Redewendung der bildreichen Sprache eine völlig neue Bedeutung...
Mir gefällt das Bild, dass DU malst auch sehr gut, aber auch ich hätte mir ein wenig mehr Inhalt gewünscht. Die Handlung ist zu vage und deine Prots erscheinen mir als Leser ein wenig blass. Ansonsten: Top.

Grüße...
morti

 

Hi morti,

freut mich das du meine KG gelesen hast.

Doch etwas hast du mich irritiert.
Du sagst, meine Personen sind zu fad, zu wenig Handlung, aber trotzdem Top. :confused:
Ähm, was in der Kürze der Geschichte findest du Top, wenn du doch (fast) alles kritisierst? :hmm:
Hoffe ja nicht, dass du mich auf den Arm nehmen willst ;)
Vielleicht stehe ich aber auch nur auf der Leitung.

Wäre schön, wenn du es mir erklären könntest.

Lieben Gruß
coleratio

 

Aber klar kann ich das ;)
Natürlich will ich dich nicht auf den Arm nehmen! Mir gefällt die Geschichte gut ;sie hätte aber noch besser sein können. Das war damit gemeint.
In Bezug auf die Charaktere. Ich hätte mir gewünscht, dass du ein wenig mehr auf sie eingegangen wärst. Das ist alles. Ich persönlich finde es einfach besser, wenn man die Personen einer Geschichte "anfassen" kann und sich in sie hineinversetzen kann, doch dazu braucht es ein wenig mehr an Informationen. Alles in Allem habe ich somit also kaum etwas kritisiert ;)

Liebe Grüße...
morti

 

Okay, alles klar. :)

Leider hab ich es noch nicht so drauf, bei einer kurzen Geschichte die Prots
besser hervorzuheben.
Aber das kann ich bestimmt bei dir lernen ;)
Also, werde ich mal was von dir lesen.
Hoffentlich sind deine KGs nicht so lang :dozey:

Bis dann,
glg, coleratio

 

Hallo coleratio,

das ist doch eine nette Kurzgeschichte, nach der ich jetzt ruhig und fröhlich ins Bett gehen kann!
Aber im Ernst: kurz, bündig und doch ausdrucksstark... hat mir gut gefallen.

LG
W Urach

 

Hallo coleratio!

Ich kann mich Urach nur anschließen. Eine nette kurze Geschichte, die trotzdem alles sagt, was gesagt werden muss.
Mir hat sie auch gefallen.

Gruß!
One

 

Hi Urach und one weak,

na das freut mich ja :)
Ist ja nicht immer ganz einfach eine "Kurze" ausdrucksstar zu schreiben.

Dafür euch Beiden vielen Dank.

lieben Gruß, coleratio

 

Hi plamsmachirurg,

freut mich dass du meine KG gelesen hast.

Danke für das gute Handwerk. :)

aber zu klischeehaft, das zu verlassen wollende Scheißleben.
Tja, das liebe Klischee. Wäre es besser gewesen, sie hätte das Scheißleben nicht verlassen wollen?
Vielleicht wäre es kein Klischee gewesen, wenn sie es nicht geschafft hätte?
Aber wo bleibt dann die Hoffnung?

Also, ich muß sagen, ich bin froh, dass meine Prot den Schritt getan hat. ;)

...über den Worten...
Huch, da muß ich noch mal nachsehen.

Ich danke dir für deinen Kommentar.

lieben Gruß, coleratio

 

Hallo coleratio,


deine Protagonistin hat eine Erkenntnis:

„Drei Jahre waren nun schon vergangen. Drei Jahre Hoffnung. Lüge, alles nur Lüge. Die Hoffnung hatte sie aufgegeben, die Lüge erkannt.“

Diese Erkenntnis genügt nicht, um sich aus den Umständen zu befreien:


„Warum hatte sie nicht den Mut einfach zu gehen? War es die Scham vor ihrem Vater, die Angst vor Jan?““

Diese Überwinden der Scham, die Kraft Mut zu fassen, ist ein riesiges Problem, mir erscheint die Lösung - die ‚Vision durch das Bild’ zu einfach. Vielleicht ist sie mir auch zu esoterisch, jedenfalls denke ich, dass es einer anderen Hilfe bedürfte, um trotz intellektueller Erkenntnis der wahren Lebenslage einen befreienden Schritt zu tun.
(Die im Bild dargestellte Szene ist aber gut geschrieben, kann man sich als Vision vorstellen).
„Das Gemälde wurde auf seltsame Weise immer blasser.“

Das erinnert doch sehr an ‚Dorian Gray’.


Änderungsvorschlag:

“Als sie die letzten Zeilen aus dem Brief ihres Vaters las, war es, als würde sie über die Worte seine Stimme hören: "Komm nach Hause Kleines. Bitte!"“

- „über die Worte“ klingt für mich seltsam, würde ich weglassen.


„Julias Herz wollte explodieren.“

- Das ist doch ein ziemlich verbrauchter Ausdruck?


L G,

tschüß... Woltochinon

 

Hi Woltochinon,

da hast du eine meiner ersten KGs erwischt :D
Und da ich jetzt schon über ein Jahr in diesem Forum bin, denke ich, eine Menge gelernt zu haben. Und ständig lerne ich dazu.

Diese Erkenntnis genügt nicht, um sich aus den Umständen zu befreien:
Das mag schon sein. Ich habe mir vorgestellt, das meine Prot lange die Wahrheit nicht sehen wollte. Das sie Jan verfallen war, die Hoffnung hatte, dass er seine Verspreschungen wahr machen würde.
Diese Überwinden der Scham, die Kraft Mut zu fassen, ist ein riesiges Problem, mir erscheint die Lösung - die ‚Vision durch das Bild’ zu einfach. Vielleicht ist sie mir auch zu esoterisch
Das sehe ich etwas anders. Der Gedanke, ihn zu verlassen war schon länger da. Die Kraft und den Mut, hat sie durch die Vision bekommen.
Sozusagen, den letzten Anstoß.
Wäre sie nicht gleich darauf gegangen, hätte die Vision ihre Wirkung warscheinlich verloren und der Mut wäre vergangen.
Ich glaube schon, dass ein solches "Erlebnis", dass ja aus der Tiefe der Seele kommt, stark genug ist, einen entscheidenden Entschluß zu fassen.
Und das was du Esoterik nennst, (ich mag den Begriff nicht) ist für mich Mystik, und die gehört zu mir, wie mein Name. :shy:
Das erinnert doch sehr an ‚Dorian Gray’.
Hier muß ich gestehen, dass ich den Herrn nicht kenne.
Mit dem verblassen des Bildes wollte ich ausdrücken, dass die Vergangenheit ausgelöscht wird.

„Julias Herz wollte explodieren.“

- Das ist doch ein ziemlich verbrauchter Ausdruck?

Das ist richtig, würde ich auch heute so nicht mehr schreiben.

Ich freue mich, dass du mal wieder eine Geschichte von mir gelesen hast, wenn es auch eine alte ist. :)

ganz lieben Gruß, coleratio

 

Hi coleratio,

tolle Geschichte :thumbsup:

Hat mir sehr gut gefallen. Die Wachvision deiner Figur, die Symbolik des Wassers als allerfassendes und geradzu reinigendes Element.

Das Ende fand ich am Schönsten. Erinnerte mit ein bißchen an Dorian Grey.

lg, LE

ps: Ich bin jetzt 400 Postings alt :bounce:
Happy birthday to me!

 

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