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Der Sturm
Der Sturm
Sie sitzt am Fenster und bläst den Rauch hinaus in die graue Dämmerung. Die Schlieren werden vom Wind ergriffen und zerstreut, nicht mehr als vergehende Schatten, vor den Silhouetten der Bäume. Sie lässt die Zigarette fallen und die Dunkelheit verlöscht das Glühen sofort. Es war ihre letzte, neben ihr, auf dem Fensterbrett, liegt die leere Schachtel. Ruhig lauscht sie in die Stille hinein. Nach einem Auto, dem Zuschlagen einer Tür und Schritten auf der Treppe. Doch außer dem leisen Rauschen des Windes, der verheißungsvoll durch die Baumwipfel fährt, ist nichts zu hören.
Ihr zartes, blasses Gesicht ist ausdruckslos, verrät nicht, was in ihr vorgeht. Die aufgeschäumten Wogen, die gegen ihren Brustkorb klatschen, immer und immer wieder. Das Heulen des Sturmes, der in ihr tobt.
Ihre braunen Augen sind in die Ferne gerichtet. Wartend. Auf ihren Anfang, ihr Ende. Einer Puppe gleich, sitzt sie und wartet. Auf ein Geräusch, das die drückende Stille durchbricht. Und endlich vernimmt sie das Knattern eines Motors. Das Zuschlagen einer Autotür, Schritte auf der Treppe. Dann ein Schlüssel in der Haustür. Unnatürlich laut sind die Geräusche in der sonst so vollkommenen Ruhe zu hören.
„Ich bin wieder da.“
Die Worte fliegen durch den Raum, setzen sich auf ihre Schulter und verharren dort. Mit einer kleinen Handbewegung wischt sie sie fort.
„Wie war eure Besprechung?“
Sie würdigt ihn keines Blickes. Immer noch sieht sie aus dem Fenster. Betrachtet die ihn den Himmel gereckten Äste der Bäume, flehend, als würden sie beten, dass alles gut wird. Aber der Himmel versteckt sich vor ihnen hinter einer grauen Wolkenschicht. Schenkt ihnen keine Beachtung, erbarmt sich ihrer nicht.
„Gut. Sie hat etwas länger gedauert.“
Der Mann tritt hinter sie, fährt mit seiner Hand durch ihre braunen Locken. Ihr Körper will vor seiner liebevollen Berührung zurückschrecken, aber sie ist zu schwach, erliegt ihrer Sehnsucht.
„Waren alle da?“
„Ja, alle fünf. Deswegen hat es ja auch so lange gedauert.“
Seine raue Stimme fährt in ihren Kopf, bläst all die Worte fort, die der Sturm ihr zuflüsterte. Sie waren nur zu zweit, deswegen hat es so lange gedauert. Deswegen ist seine Hand so feucht, so warm. Ihr Rücken verbrennt unter seiner Berührung. Der Sturm in ihr weitet sich, zerdrückt ihr Herz, ihre Lunge. Das Atmen fällt ihr schwer. Er will frei sein, seiner Gefangenschaft entfliehen. Ihre Hände zucken, doch sonst ist sie ruhig.
„Soll ich dir Abendessen machen?“
„Nein. Du siehst so müde aus. Ich werde uns etwas machen. Dann kannst du dich ausruhen.“
Seine Schritte entfernen sich. Ihr Herz windet sich, versucht sich aus der Umklammerung des Sturmes zu befreien. Die Wogen zu glätten, sie ruhen zu lassen. Sie hat nur braune Augen, braune Locken. Sie schimmern nicht golden, wenn Sonnenstrahlen auf ihnen tanzen. Und sie sprüht keine Funken, wenn sie lacht. Sie ist das Wasser, kein Feuer.
Auch draußen beginnt der Wind die Bäume immer heftiger zu peitschen. Sie ducken sich unter seinen wilden Schlägen, doch entkommen können sie ihm nicht. Zusammen vereinen sie sich, zu einem zuckenden Tanz. Wie Marionetten heben die Bäume ihre Äste und der Wind ist ihr wahnsinniger Puppenspieler. Ein Blitz lässt den grotesken Tanz erstrahlen, der Donner ist das Orchester, das den wilden Marsch spielt. Und sie beobachtet das Schauspiel, ist das gefesselte Publikum, während der Sturm in ihr beifällig rauscht. Wie die tobende Nacht, so ist ihr innerster Kern, der sich verzweifelt aufbäumt. Doch sie ist die Meisterin, die ihn zurückhält, sich seiner zerstörerischen Kraft wohl bewusst, die ihr alles nehmen würde. Auch die Verzweiflung. Inzwischen strömt der Regen, verdeckt die Bühne wie ein Vorhang, lässt alles verschwinden. Das Schauspiel ist beendet und sie erhebt sich von ihrem Ehrenplatz. Durch das Halbdunkel der Wohnung läuft sie bis zur hell erleuchteten Küche. Er steht dort, schneidet Gemüse. Aus dem Topf steigt Dampf aus, vernebelt den Raum, vernebelt die Sinne. Der Regen prasselt gegen das Fenster, untermalt alles mit einem dramatischen Trommelsolo. In einer der Schubladen liegt ein scharfes Messer. Mit zarten Fingern streicht sie über den Griff. Ihr Mann beachtet sie nicht, sie ist seiner kaum noch wert. Nur eine abgelegte Puppe, das weiß sie. In der Ecke liegt sie, mit gebrochenen Glieder, zerbrochenen Träumen, die Augen ein Spiegel der strahlenden Vergangenheit.
Zitternde Finger schließen sich um den Griff, sie tritt hinter ihn. Der Sturm tobt, bäumt sich auf. Nicht mal eine Armlänge von ihm entfernt steht sie da. Sein Geruch steigt ihr in die Nase, bleibt dort hängen. Langsam hebt sie das Messer, legt ihm eine Hand auf den Rücken.
Er dreht sich um, seine Augen weiten sich. Sein Mund öffnet sich, um stumme Worte zu formen, während er versucht einen Schritt zurückzuweichen. Der Sturm hält den Atem an.
„Soll ich dir helfen?“, fragt sie.
Besorgt legt er seine Hand an ihre Wange.
„Hast du geweint?“
„Ich mag Stürme nicht.“
Vorsichtig nimmt er ihr das Messer aus der Hand und legt seine Arme um sie. Ihre Hände krallen sich in seinen Rücken. Ihn verlieren. Es gibt nichts, das sie mehr fürchtet. Sie zieht ihn fester an sich, als könnte sie ihn so halten. Der Sturm in ihrem Inneren schüttelt sie. Flüstert ihr leere Versprechungen ins Ohr. Sie lehnt den Kopf an seine Brust. Versucht alles andere auszublenden, so dass nur die Berührung bleibt.
„Bitte verlass mich nicht.“
Ihre Worte sind leise, verlieren sich sofort.
„Niemals.“
Seine raue Stimme streicht beruhigend über ihren Rücken und gebietet dem Sturm Einhalt. Für einen Moment können sie beide der süßen Lüge glauben.