Der Tänzer im Feuer
Er war ein Freund von mir. Kein besonders angenehmer, aber auf eine ganz bestimmte Weise zog er mich magisch an. Leonard hielt nichts von Small-Talk oder Klatschgeschichten, sein Geist bewegte sich in höheren Sphären. Zumindest versuchte er, diesen Eindruck zu erwecken. Ich habe nie herausgefunden, was wirklich in dem Mann vorging.
Wir lernten uns an einem verregneten Novemberabend in einer Bar kennen. Ich war unglücklich weil meine Freundin sich von mir getrennt hatte und trank zu viel. Allerdings nicht so viel wie er. Er war wirklich sternhagelvoll und erzählte mir verworrene Geschichten über einen Feuervogel und einen Schwan. Es dauerte ungefähr eine Stunde bis ich begriff, dass er von einem Ballett redete. Leonard faszinierte mich auf seltsame Weise, anziehend und abstoßend zugleich. Er war Tänzer in einer mittelmäßigen Ballett-Truppe und lud mich ein, am nächsten Abend eine Vorstellung zu besuchen. Ich dachte, das könnte mich vielleicht ablenken. Deshalb sagte ich zu, obwohl ich mich noch nie sonderlich für Tanz interessiert hatte.
Die Kostüme und das Bühnenbild waren schrill und abstrakt. Mit klassischem Tanz hatte die Aufführung ziemlich wenig gemeinsam, die Zuschauer um mich herum wirkten enttäuscht.Doch dann kam Leonards Auftritt. Mit seinem Solo zog er alle in seinen Bann. Er war nicht mehr der betrunkene, schwermütige Exzentriker, den ich am Abend zuvor kennengelernt hatte, er war überhaupt kein menschliches Wesen mehr. Der Tänzer verwandelte sich in Musik, in einen Feuerball, ein seltsames, körperloses Etwas, das über die Bühne jagte, sich drehte, wirbelte, fliegen konnte. Auch wenn ich nicht besonders viel davon verstehe, wusste ich sofort: Dieser Mann hatte Talent.
Wir trafen uns hinterher noch oft. Meistens saßen wir in der Kneipe, in der wir uns kennengelernt hatten. Sie hieß „El Fuego“ und gefiel uns beiden, obwohl sie eher schäbig wirkte. Dafür waren die Getränke billig und die anderen Anwesenden ließen einen in Ruhe. In der Regel erzählte Leonard, und ich hörte zu. Ich konnte ihm nie so ganz folgen, aber das interessierte ihn nicht, und wenn ich genug getrunken hatte, fand ich alles was er sagte faszinierend. Er sprach über das Ballett und hielt Monologe über Nijinski, einen Tänzer, der offenbar nicht ganz richtig im Kopf gewesen war. „Aber er konnte springen wie nie jemand zuvor“, pflegte Leonard zu sagen, „er flog wie ein Vogel! Eines Tages werde ich so sein wie er.“ Es war eine Welt, von der ich keine Ahnung hatte, und ich weiß bis heute nicht, warum dieser Mann mich so gefangennahm. Ich nehme an ich war sein einziger Freund. Die meisten Menschen mieden ihn, weil sie seinen stechenden Blick und die endlosen Tiraden über den Vogelmann Nijinski fürchteten, nicht zu vergessen die heftigen Zornausbrüche, die immer grundlos und aus heiterem Himmel kamen. Deshalb hielt er sich an mich. Ich konnte sicher sein dass er mich, wenn er nur irgendwie Zeit hatte, mindestens einmal in der Woche anrief und um ein Treffen bat. Dann saßen wir stundenlang im „El Fuego“ und ich hörte ihm zu.
Bis Leonard mit seiner Truppe auf Tournee ging. Als er wieder zurückkam wirkte er seltsam ruhelos, seine Augen irrten unstet umher, und alle zwei Minuten warf er einen ängstlichen Blick über die Schulter. Als wir uns am Abend seiner Rückkehr trafen, zitterte er. Auf seiner Stirn standen Schweißtropfen, keinen Moment lang konnte er ruhig sitzenbleiben. Nachdem er immer wieder vergeblich versucht hatte einen zusammenhängenden Satz hervorzubringen, beugte er sich plötzlich vor und packte mich mit hartem Griff am Arm. Nur mit Mühe konnte ich einen Aufschrei unterdrücken. Leonard wirkte wie ein Irrer. Mit heiserer Stimme flüsterte er: „Du musst mir helfen, Paul! Jemand will mich umbringen. Er ist hinter mir her!“ „Wie bitte?“ Eigentlich wollte ich es als einen Scherz abtun, aber ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme unsicher klang. „Wer denn?“ Er lockerte seinen Griff und setzte sich langsam wieder normal hin. „Ich weiß es nicht.“ „Ist denn irgendwas passiert?“, hakte ich nach. „Nein... nichts.“ Leonard schüttelte den Kopf. Ungläubig sah ich ihn an. „Woher weißt du dann dass dich jemand umbringen will?“ „Ich weiß es einfach.“ Er klang eigensinnig wie ein kleines Kind. Denn ganzen Abend war er nervös und gereizt, bis ich schließlich selbst unter Spannung stand, als habe es jemand auf mich abgesehen. Ich war froh, als er gehen wollte.
Sein Zustand besserte sich in den nächsten Wochen nicht. Ich riet ihm, einen Psychiater aufzusuchen, was er gekränkt ablehnte. Dann bekam ich eines Abends einen Anruf. Ein Arzt teilte mir mit, Leonard sei mit schweren Verletzungen und einer Rauchvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert worden, die Folgen eines Wohnungsbrandes. Man ging davon aus, dass das Feuer absichtlich gelegt worden war. Offenbar hatte jemand meine Telefonnummer in Leonards Brieftasche gefunden, der einzige Hinweis auf mögliche Angehörige.
Obwohl er lange im Krankenhaus bleiben musste, besuchte ich Leonard nicht ein einziges Mal. Er wurde mir langsam unheimlich und ich wollte nicht in seine Angelegenheiten hineingezogen werden. Vielleicht war ich wirklich sein einziger Freund, aber er stand mir trotzdem nicht so nahe, dass ich mich seinetwegen in Gefahr begeben wollte. Allerdings ließ mich der Gedanke an ihn nicht los. Wer konnte ein Interesse haben, den Tänzer umzubringen? Bestimmt niemand aus seiner Ballett-Truppe. Mit seiner Begabung war er der Einzige, der dieses eher zweitklassige Ensemble am Leben erhielt. Aber was für Feinde hatte er dann? Niemand, von dem ich wusste. Die ganze Zeit war ich davon ausgegangen dass Leonard an Wahnvorstellungen litt, aber offenbar hatte tatsächlich jemand versucht, ihn umzubringen.
Vier Wochen nach dem Brand traf ich ihn wieder. Er trug eine große Sonnenbrille, doch ich konnte sehen, dass sein Gesicht darunter grausam entstellt war. Die Flammen hatten ihn für immer gezeichnet. „Mit dem Tanzen ist es jetzt vorbei“, sagte er bitter, „So kann ich doch nicht vor ein Publikum treten!“ Mir fiel nichts ein, was ich zu ihm hätte sagen können. Natürlich gab ich mir Mühe mir nichts anmerken zu lassen, trotzdem kostete es mich große Überwindung, Leonard anzusehen. Er wartete nicht auf eine Antwort von mir sondern fuhr fort: „Tanzen ist mein Leben. Ich weiß nicht was ich jetzt machen soll.“ Für den Rest des Abends war er sehr schweigsam und auch ich wusste nichts zu sagen. Wir verließen die Bar früh.
Zwei Monate lang hörte ich nichts mehr von ihm. Fast war es mir gelungen ihn aus meinem Gedächtnis zu streichen, da fand ich eines Morgens einen Zettel im Briefkasten. Die komplizierten, geschwungenen Schriftzüge darauf stammten eindeutig von Leonard. „Ich muss dich unbedingt sprechen“ hatte er geschrieben, „bitte komm heute Abend um 22:00h zum alten Sägewerk.“ Warum hatte er mich nicht angerufen, so wie früher? Und warum wollte er mich am Sägewerk treffen, außerhalb der Stadt, und nicht im „El Fuego“? Vielleicht lag es daran, dass er sein Gesicht nicht in der Öffentlichkeit zeigen wollte, doch mir kam die Nachricht äußerst seltsam vor. Zuerst beschloss ich sie zu ignorieren, aber dann siegte meine Neugier.
Es war genau zehn Uhr, als ich mein Auto an diesem Abend in einem Feldweg abstellte und zu Fuß auf das Sägewerk zuging. Es war vor einigen Jahren stillgelegt worden und heute nur noch eine Ruine. Wie ein schwarzer Scherenschnitt zeichneten sich die Umrisse der ehemaligen Maschinenhalle gegen den immer dunkler werdenden Himmel ab. Es war Mitte Juli und immer noch ziemlich warm, aber trotzdem fröstelte ich, als ich auf das Gebäude zuschritt. Vielleicht war es eine Vorahnung, vielleicht auch nur der Gedanke an das, was bereits geschehen war. Zögernd trat ich in den Schatten der Ruine, als sich plötzlich eine helle Gestalt von der Wand löste. Es war Leonard. Eine Maske verdeckte sein entstelltes Gesicht, aber trotzdem erkannte ich ihn sofort. „Komm mit“, sagte er nur. Wie hypnotisiert folgte ich ihm in das Innere der Maschinenhalle. Sie war kein geschlossenes Gebäude, es gab nur zwei Wände. Im Osten konnte ich noch einen Schimmer des Sonnenuntergangs sehen. In der Luft lag Benzingeruch. Leonard trug ein weißes Trikot, das Haar hatte er im Nacken zusammengebunden. Die weiße Maske mit den starren Gesichtszügen verlieh ihm etwas Gespenstisches. „Heute Abend wird es geschehen“, rief er auf einmal. Seine Stimme klang fremd, in seiner ganzen Haltung lag etwas Seltsames, Unbekanntes. „Es hat keinen Sinn mehr gegen ihn zu kämpfen, er wird mich nie verlassen“, sprach er weiter, wie zu sich selbst. Ich verstand den Sinn seiner Worte nicht, aber sie machten mir Angst. „Du warst der einzige Mensch der mir zugehört hat“, fuhr er fort, „du sollst ein Abschiedsgeschenk erhalten: Meinen letzten Tanz. Der Kampf zwischen Schwan und Feuervogel.“ So ironisch und bitter, wie er dies sagte, musste auch sein Gesicht unter der Maske aussehen. Gleich darauf begann er, wie ein Irrsinniger zu lachen. Ich wollte etwas sagen, aber meine Stimme gehorchte mir nicht. Wahrscheinlich wäre ich sowieso nicht bis zu ihm durchgedrungen, er war weiter von mir entfernt als je zuvor.
Leonard tanzte. Anfangs langsam und bedächtig, mit graziösen, klaren Bewegungen, dann wurde er schneller. Kraftvolle Sprünge nach Drehungen, von denen mir schwindelig wurde, seltsame, komplizierte Figuren, all das ging fließend ineinander über. Er steigerte sich zu einem wilden Inferno, nach einer Musik, die nur in seinem Kopf existierte. Ich stand wie erstarrt. Doch ich verstand die Geschichte, die er tanzte. Ich wusste, dass der Feuervogel den Kampf gewann und Besitz von ihm ergriff, etwas Starkes, Unheimliches, das auf seine Weise schön und grauenvoll war. Der Abend unserer ersten Begegnung kam mir in den Sinn das Ballett von dem er mir damals erzählt hatte, mit einer Zunge, die schwer vom Alkohol war.
Leonard schien zu verschwinden, ich sah nur noch einen undefinierbaren weißen Körper der durch die Luft flog, mit den Füßen kaum den Boden berührte, sich immer mehr in eine Besessenheit hineinsteigerte. Eine Stichflamme schoss zur Decke empor und trennte uns. Ich wich vor ihrer tödlichen Hitze zurück. Der Benzingeruch! Das Feuer fraß sich in seine Richtung, schloss ihn ein und verschluckte ihn schließlich. Bis zum Schluss hörte er nicht auf, seinen wilden, verzweifelten Tanz zu tanzen. Es war sein Meisterstück. Erst als von ihm nichts mehr zu sehen war, drehte ich mich um und stürzte aus der Halle, fort von dem sengenden Feuer, das das Holzgebäude zum Einsturz brachte.
Später erfuhr ich, dass Leonard an einer psychischen Erkrankung gelitten hatte: Schizophrenie im fortgeschrittenen Stadium.
Einige Tage später kehrte ich noch einmal zu den verkohlten Resten der Maschinenhalle zurück. Ein Stück abseits im Gras glänzte etwas. Ich bückte mich danach und hob zwei Dinge auf: Leonards Armbanduhr und ein Streichholzheftchen mit dem Werbeaufdruck des „El Fuego“.