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Der Tag

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26.08.2002
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Der Tag

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Als Karl am selben Tag, an dem er sich umbringen wollte, das Klingeln an seiner Wohnungstür hörte, ging er nachschauen, wer es war (was außergewöhnlich zu nennen ist, zumindest seit dem Vorfall mit der Rettungshubschrauberpilotin). Es war ein deutscher Sommertag, ein Montag, spätnachmittags, und der Mensch, der draußen stand, triefte vor Regen. In seinem Gesicht war Überraschung und Erstaunen zu erkennen, vermutlich ob der Tatsache, dass die Wohnungstüre Karls sich geöffnet hatte. Denn jahrelang bereits hatte der Mann versucht, herauszufinden, wer da wohnte (gemäß seinem Auftrag als Jehova-Zeuge), und aus diesem Grunde regelmäßig in Abständen von zwei Wochen Karls Wohnung aufgesucht und geklingelt.
Es ist daraus ersichtlich, dass es nicht zu Karls Gewohnheiten gehörte, die Wohnungstür zu öffnen, wenn es klingelte, und er nicht wusste, wer draußen stand. Dahinter stand Karls tiefe Überzeugung, dass nichts annähernd so Gutes dabei herauskommen konnte wie das, was er hatte, wenn er allein sich in der Wohnung befand: seine Ruhe (so dachte er). Ganz selten nur hatte er anders gehandelt, das letzte Mal ein halbes Jahr zuvor, als er im Überschwang (während des Frühstücks), nachdem er ein Klingeln vernommen hatte, zur Tür gegangen war und geöffnet hatte. Die in eine grell-orange Jacke gekleidete Frau forderte Karl ohne jedes Zögern (auch ohne sich vorzustellen oder in anderer Art einen Zusammenhang herzustellen) auf, Geld herauszurücken für die lebenswichtige Anschaffung eines neuen Rettungshubschraubers für das Rote Kreuz (dem sie anzugehören schien)... und zwar sofort. Als Karl nicht gleich einverstanden war und (gutmütig) sagte, dass er prinzipiell an der Wohnungstüre solche Dinge nicht entscheide, aber um Informationsmaterial und Bedenkzeit bat, machte sie ihm klar, dass er genug Bedenkzeit gehabt habe bis jetzt, dass es aber um Menschenleben gehe und nicht um Bedenkzeit und dass solche Ignoranten und Egoisten wie er in unerträglicher Weise am Tode vieler Unfallopfer schuld seien (die mit einem Rettungshubschrauber zu retten gewesen wären). Karl, der es bereute, die Wohnungstür geöffnet zu haben, weigerte sich weiter, so dass die Frau (und jetzt brüllte sie) ihm prophezeite, er würde an sie noch denken, wenn er selbst Opfer eines schweren Unfalls würde und dann winselnd auf einen Rettungshubschrauber angewiesen sein würde (der natürlich dann nicht kommen konnte, weil er nicht existierte). Sie war wutentbrannt gegangen (nur eineinhalb Minuten hatte es gedauert), und Karl hatte die Tür für eine lange Zeit wieder geschlossen, sogar von innen abgesperrt, um sicher zu gehen (und die Kette eingelegt).

Da ihn auch kaum Leute mit vorheriger Absprache aufsuchten, existierte er somit in einem nicht-sozialen Raum. Bis der Jehova-Zeuge auftauchte an dem Tag, der sein letzter sein sollte, und Karl in einer (was man seltsam finden könnte) gesprächigen Laune antraf. Dass es ein Jehova-Zeuge sein musste, hatte Karl sofort an dem glücksbringenden aber unsäglich hirnstromfreien Lächeln des Gastes erkannt und sich gleich gedacht: warum nicht die Gelegenheit nutzen und sich die Welt noch von einem kompetenten Mann erklären lassen, bevor man sie verlässt?
Allerdings rechnete Karl nicht im Ernst damit, die eine Information erhalten zu können, die zu den vielen Tausenden (oder in Wahrheit ungezählten) anderen Informationen hinzugefügt den Zusammenhang, die Kohärenz auf der Ebene der Wirklichkeit zweiter Ordnung herstellen würde (zumal jede Kommunikation darüber, also der Austausch überlappter Daten, eine Schnittmengenfrage dieser Ordnung wäre): den Sinn des Ganzen.
Es war mehr eine Laune, aber der Jehova-Zeuge war schnell überfordert. Karl war schon nach der Beantwortung seiner ersten (harmlosen) Frage enttäuscht.
„Woher wissen Sie, dass Gott existiert?“ fragte Karl, und der Zeuge (ein Herr Zwiebelberger) hatte die (nicht mehr weiter hinterfragbare) Antwort: „Weil er (also Gott) es gesagt hat.“
Bewiesen wurde das sogleich mit einer Bibelstelle. Die Authentizität der Aussage in der Bibel wurde bewiesen durch eine andere Bibelstelle (die Zwiebelberger aber nicht finden konnte, da sein gelber Bibelstellenmerker rausgefallen sein musste - was aber Zwiebelberger nicht lange irritierte, weil er gleich eine andere, so ähnliche Stelle fand).
„Wollen Sie noch Tee?“, fragte Karl.
„Gern“, sagte Zwiebelberger.
Aufgrund eines überwältigenden Bedürfnisses, alle theoretischen Fragen hinter sich zu lassen und endlich zum Kern des Seins zu gelangen, insistierte Karl schließlich auf der Frage, ob er, er selbst, zu den Guten oder zu den Schlechten gehöre, nur das interessierte ihn noch zu wissen, aber Zwiebelberger war auch in dieser Hinsicht nicht ergiebig. Stattdessen eröffnete er, dass er ein Abtrünniger wäre, der kritisch die Jehova-Lehre analysiert hätte, um plötzlich eine Wahrheit zu entdecken, die allen anderen (auch den anderen Jehova-Zeugen) verborgen geblieben wäre:
Außerirdische würden kommen, um die Auserwählten zu holen (zu denen er gehörte). Bald schon (sogar sehr bald) würde ein großes Raumschiff aus diesem Grund im Orbit sein, so besagte es offensichtlich der galaktische Ablaufplan, alle Auserwählten hochbeamen, und die Zurückgebliebenen waren (wie immer in solchen Fällen) dem Tode geweiht (dem ewigen, versteht sich). Warum die Außerirdischen so etwas tun sollten, da musste man schon den Kopf schütteln, aber dennoch wurde Karl neugierig, und fragte, wie man ein Auserwählter werden könne - jedoch Zwiebelberger schaute verwundert. „Was meinen Sie mit 'werden'? Man kann kein Auserwählter werden... entweder man ist auserwählt so wie ich, oder man ist nicht auserwählt, so wie Sie“, sagte er.
Das leuchtete Karl ein. Es war nicht ganz so verlogen wie die Geschichte, dass ein ewiger (also immer-währender) Gott darauf angeblich wartete, wie man sich so aufführte auf Erden, um anschließend dann über Paradies oder Hölle zu entscheiden (wieso sollte er da warten?).
Außerdem lächelte Zwiebelberger glücklich, also was konnten die Außerirdischen schon schaden? Zwar brachte Karl den Jehova-Zeugen noch ein klein bisschen in Verlegenheit, indem er ihn nach dem Zweck des Gesprächs fragte, wenn die Auserwählten eh schon feststünden, aber zum Glück war nicht allzu viel Raum für Hintergründigkeit in Zwiebelbergers Gehirn (falls es ihn tatsächlich irgendwie steuerte).
Sie aßen noch ein paar Kekse zusammen, und dann ging Zwiebelberger zurück zu seiner Familie; Karl schloss die Tür.

All das hatte sowieso keinen Einfluss auf Karls Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, soviel steht fest; es ist nichts und ist ohne Grund, dachte er, und ersäufte sich gegen neunzehn Uhr (etwa zwei Stunden nach dem Gespräch mit Zwiebelberger) in einem nahe gelegenen Baggersee. Immerhin ersparte er es sich, von einem Raumschiff voll winkender Außerirdischer und Zwiebelbergers auf einem zum Untergang geweihten Planeten zurückgelassen zu werden.
(c) 2003

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Hallo FlicFlac

der Stil Deiner Sprache gefällt mir gut, er verstärkt den Eindruck, den man von dem Protagonisten hat: es handelt sich um einen desillusionierten, die harte Wahrheit über das Dasein nicht scheuenden, auf sich selbst bezogenen Menschen.

„warum nicht die Gelegenheit nutzen und sich die Welt noch von einem kompetenten Mann erklären lassen, bevor man sie verlässt?“

Schön ausgedrückt - doch auch wenn er es „Gelegenheit“ nennt: ich glaube, er sucht nur nach einer erneuten (finalen) Bestätigung, dass es diese Erklärung nicht gibt.

„dem Tode geweiht (dem ewigen, versteht sich).“

Passende Ironie und ich finde die Klammern durchaus angemessen: Gedanken (früher gedachte, versteht sich) innerhalb der Gedanken...

Philosophisches Fazit: Wenn man nicht zu den Auserwählten gehört, spielt es auch keine Rolle, ob es sie gibt oder nicht (man mag für „Außerirdische“ andere Begriffe einsetzen).
Genauso ist es unwesentlich ob man weiter lebt oder nicht, wenn man das Leben nicht erlebt.

Hier kann man noch etwas `feilen´:

„wenn er allein sich in der Wohnung befand“ - sich allein

„er würde an sie noch denken, wenn er selbst Opfer eines schweren Unfalls würde und dann winselnd auf einen Rettungshubschrauber angewiesen sein würde“ - würdelose Wiederholung von „würde“


„Es war mehr eine Laune, aber der Jehova-Zeuge war schnell überfordert“ - was war eine Laune? Seine Überforderung?


„so ähnliche Stelle fand“ - ähnliche


Warum die Außerirdischen so etwas tun sollten, da musste man schon den Kopf schütteln - Warum sollten die Außerirdischen so etwas tun

„Gott darauf angeblich wartete“ - angeblich darauf; beobachtete anstelle von wartete (ohne „darauf“, natürlich).

Interessante Geschichte, auch wenn der philosophische Anteil etwas einfach gehalten ist.

Tschüß... Woltochinon

 

Hallo Woltochinon,

danke für die Kritik, die mir gezeigt hat, dass du meinen 'Karl' gut orten konntest. Im Einzelnen zu deinen Anmerkungen:


Passende Ironie und ich finde die Klammern durchaus angemessen: Gedanken (früher gedachte, versteht sich) innerhalb der Gedanken...

Endlich jemand, der den 'Klang' dieser Klammern hören kann; ich dachte schon, ich müsste es tatsächlich ganz lassen. Aber die Klammern sind etwas anderes als die Interpunktierung mit Kommata.


„wenn er allein sich in der Wohnung befand“ - sich allein

Klar; allerdings sollen die umgestellten Wortreihenfolgen hier und an anderer Stelle die verquere, holpernde, leicht kindmäßige Denkweise des Protagonisten anklingen lassen. "Und dann sind wir gegangen zu Tante Frieda."

„er würde an sie noch denken, wenn er selbst Opfer eines schweren Unfalls würde und dann winselnd auf einen Rettungshubschrauber angewiesen sein würde“ - würdelose Wiederholung von „würde“

Ja, ist mir entgangen, da muss man was machen…


„Es war mehr eine Laune, aber der Jehova-Zeuge war schnell überfordert“ - was war eine Laune?

Die vorher gestellte Frage war die Laune, unklarer Bezug?

Warum die Außerirdischen so etwas tun sollten, da musste man schon den Kopf schütteln - Warum sollten die Außerirdischen so etwas tun
Interessante Geschichte, auch wenn der philosophische Anteil etwas einfach gehalten ist.

Wollte: kindlich sehen.


Philosophisches Fazit: Wenn man nicht zu den Auserwählten gehört, spielt es auch keine Rolle, ob es sie gibt oder nicht (man mag für „Außerirdische“ andere Begriffe einsetzen).
Genauso ist es unwesentlich ob man weiter lebt oder nicht, wenn man das Leben nicht erlebt.

Ja, genau. Deshalb ist der Suizid auch nichts dramatisches mehr, sondern etwas, das keinen Unterschied macht. Statt

"...dachte er, und ersäufte sich gegen neunzehn Uhr (etwa zwei Stunden nach dem Gespräch mit Zwiebelberger) in einem nahe gelegenen Baggersee."

hätte ich in diesem Ton auch schreiben können:

"dachte er, packte seine Badesachen ein und schwamm gegen neunzehn Uhr (etwa zwei Stunden nach dem Gespräch mit Zwiebelberger) in einem nahe gelegenen Baggersee ein paar Runden."


MfG

 

Hallo FlicFlac,

danke für Deine Rückmeldung.

Zitat:
„Dass es ein Jehova-Zeuge sein musste, hatte Karl sofort an dem glücksbringenden aber unsäglich hirnstromfreien Lächeln des Gastes erkannt und sich gleich gedacht: warum nicht die Gelegenheit nutzen und sich die Welt noch von einem kompetenten Mann erklären lassen, bevor man sie verlässt?
Allerdings rechnete Karl nicht im Ernst damit, die eine Information erhalten zu können, die zu den vielen Tausenden (oder in Wahrheit ungezählten) anderen Informationen hinzugefügt den Zusammenhang, die Kohärenz auf der Ebene der Wirklichkeit zweiter Ordnung herstellen würde (zumal jede Kommunikation darüber, also der Austausch überlappter Daten, eine Schnittmengenfrage dieser Ordnung wäre): den Sinn des Ganzen.
Es war mehr eine Laune, aber der Jehova-Zeuge war schnell überfordert. Karl war schon nach der Beantwortung seiner ersten (harmlosen) Frage enttäuscht.“

Du sagst, Laune bezieht sich auf die vorangegangene Frage. Dem Zeugen wird aber keine Frage gestellt, es gibt nur eine gedachte Frage an sich selbst „warum nicht die Gelegenheit ...“ und eine Feststellung: „Allerdings rechnete Karl ...“.
Zu „Allerdings rechnete Karl nicht ... damit“ passt ein `trotzdem´: Trotzdem fragte Karl den Zeugen Jehovas nach dem allumfassenden Sinn (Sinn des Lebens finde ich zu abgedroschen), aber der Besucher war schnell überfordert.
Oder: Aus einer Laune heraus fragte Karl den Zeugen Jehovas trotzdem ...
(Man darf sich halt nicht an den vielen „Karls“ stören oder Du mußt noch einen Ersatznamen einführen).

Du sagst: Wollte: kindlich sehen. Ist o.k., aber natürlich ein wenig konträr zu den wissenschaftlichen Aussagen im Format „der Wirklichkeit zweiter Ordnung“.

Zitat:
"dachte er, packte seine Badesachen ein und schwamm gegen neunzehn Uhr (etwa zwei Stunden nach dem Gespräch mit Zwiebelberger) in einem nahe gelegenen Baggersee ein paar Runden."

Genau. Aber es macht nur dann keinen Unterschied, wenn Karl nicht liebt oder geliebt wird. (Das hast Du ja mit der sozialen Isolation schon abgesichert).

Tschüß... Woltochinon

 

re

Hallo Woltochinon!

Du sagst, Laune bezieht sich auf die vorangegangene Frage. Dem Zeugen wird aber keine Frage gestellt, es gibt nur eine gedachte Frage an sich selbst „warum nicht die Gelegenheit ...“ und eine Feststellung: „Allerdings rechnete Karl ...“.
Zu „Allerdings rechnete Karl nicht ... damit“ passt ein `trotzdem´: Trotzdem fragte Karl den Zeugen Jehovas nach dem allumfassenden Sinn (Sinn des Lebens finde ich zu abgedroschen), aber der Besucher war schnell überfordert.
Oder: Aus einer Laune heraus fragte Karl den Zeugen Jehovas trotzdem ...
(Man darf sich halt nicht an den vielen „Karls“ stören oder Du mußt noch einen Ersatznamen einführen).

Stimmt, ich sehe es. Ich DACHTE mir aber, dass er aufgrund dieser Überlegung dann auch fragt (die Frage ist also implizit). Das DACHTE ich mir so sehr, dass mir gar nicht auffiel, dass die Frage nicht explizit gestellt wurde ;-))).

Du sagst: Wollte: kindlich sehen. Ist o.k., aber natürlich ein wenig konträr zu den wissenschaftlichen Aussagen im Format „der Wirklichkeit zweiter Ordnung“.

Den Satz werde ich wahrscheinlich rausnehmen - das sollte nur den Elfenbeinturm anklingen lassen, den Elfenbeinkerker, in welchem Karl gleichzeitig Wärter und Gefangener ist.

Zitat:
"dachte er, packte seine Badesachen ein und schwamm gegen neunzehn Uhr (etwa zwei Stunden nach dem Gespräch mit Zwiebelberger) in einem nahe gelegenen Baggersee ein paar Runden."

Genau. Aber es macht nur dann keinen Unterschied, wenn Karl nicht liebt oder geliebt wird. (Das hast Du ja mit der sozialen Isolation schon abgesichert).

Ich würde sagen, es macht zum Beispiel keinen Unterschied, wenn Karl nicht liebt oder geliebt wird.


Viele Grüße,
Flic

 

Hallo FlicFlac,

für Karl (falls er ein hundertprozent nur nach intellektueller Berechnung `fühlender´ Mensch ist) mag dies zutreffen (oder einen außenstehenden, `kalten´ Beobachter). Für eine außenstehende, liebende Person nicht.
Immerhin zeigt Karl das Gefühl der Enttäuschung.

Tschüß... Woltochinon

 

Ein Widerspruch, deshalb habe ich es in Anführungszeichen gesetzt. Ich meine damit, dass auch ganz intellektuell-logisches Berechnen (analysieren von Situationen) nicht ganz gefühllos abläuft, da es Kreativität voraussetzt, diese aber einen gefühlsmäßigen Anteil hat (aber das ist jetzt eigentlich schon ein neues Thema, oder?).

Tschüß... Woltochinon

 

ganz intellektuell-logisches Berechnen (analysieren von Situationen) nicht ganz gefühllos abläuft

Gut! Da gehe ich sogar einen Schritt weiter: TROTZ rationalem Denken werden Handlungen im Keller der Persönlichkeit motiviert. R.D. dient oftmals dazu, sich selbst Handlungen zu erklären, die man ausgeführt hat, ohne währendessen zu wissen, warum man es tut. Als solche sind diese Erklärungen im Übrigen nett für zwischenmenschliche Kommunikation, aber unerheblich für das Verstehen menschlichen Handelns.

Aber, das führt jetzt natürlich endgültig weg von der Story ;-)).

Grüße von Flic

 

Volltreffer!

Hallo Flic,

nach meinem Quasi-Versprechen, ein paar von Deinen Geschichten genauer anzuschauen, habe ich auf gut Glück diese herausgesucht - und finde sie sehr gut! Das liegt schon am Thema: All die scheinheiligen Dummköpfe, die nur sich selber retten wollen, verdienen es, von einem kompetenten Existenzialisten zerlegt zu werden :thumbsup:

Noch besser als die Aussage finde ich den Stil. Hier meine Lieblingsstellen:

Dahinter stand Karls tiefe Überzeugung, dass nichts annähernd so Gutes dabei herauskommen konnte wie das, was er hatte, wenn er allein sich in der Wohnung befand: seine Ruhe

warum nicht die Gelegenheit nutzen und sich die Welt noch von einem kompetenten Mann erklären lassen, bevor man sie verlässt?
Für mich der beste Satz im ganzen Text! Er trifft auch auf die Geschichte selbst zu.


Allerdings rechnete Karl nicht im Ernst damit, die eine Information erhalten zu können, die zu den vielen Tausenden (oder in Wahrheit ungezählten) anderen Informationen hinzugefügt den Zusammenhang, die Kohärenz auf der Ebene der Wirklichkeit zweiter Ordnung herstellen würde (zumal jede Kommunikation darüber, also der Austausch überlappter Daten, eine Schnittmengenfrage dieser Ordnung wäre): den Sinn des Ganzen.

Gehört hinter "hinzugefügt" nicht ein Beistrich? Schön unverständlich, und daher authentisch. Übersetzt in Mongo-Bongo-Deutsch heißt das wohl: Hab viel gesehen und nichts verstanden. Werd auch nichts verstehen, weils gleich aus ist.

„Woher wissen Sie, dass Gott existiert?“ fragte Karl, und der Zeuge (ein Herr Zwiebelberger) hatte die (nicht mehr weiter hinterfragbare) Antwort: „Weil er (also Gott) es gesagt hat.“
Die geben wirklich solche Antworten! :shy:

Karl will wissen, ob er ein böser Mensch ist,

aber Zwiebelberger war auch in dieser Hinsicht nicht ergiebig.
Toll formuliert!

Zwiebelbergers Enthüllung:

dass er ein Abtrünniger wäre, der kritisch die Jehova-Lehre analysiert hätte, um plötzlich eine Wahrheit zu entdecken, die allen anderen (auch den anderen Jehova-Zeugen) verborgen geblieben wäre:
Außerirdische würden kommen, um die Auserwählten zu holen
Eine kritische Analyse ist wohl das letzte, was man den Zeugen gemeinhin zutrauen würde. Schon weil sie immer zu zweit auftreten. Daher eine lustige Pointe! Die ungebildeten, verklemmten und konformistischen Zeugen Jehovas treten tatsächlich mit dem Anspruch auf, die Welt Theologie zu lehren.

Vorletzter Satz: lustig! Die Bedeutung des letzten Satzes für diese Geschichte habe ich nicht verstanden.

Die Einteilung der Menschen in von vorheherein Auserwählte und Nicht Auserwählte führt uns wieder zur Diskussion im Thread von Nauts Geschichte Der freie Würfel: Was kann ich noch tun, wenn mein Schicksal ohnehin feststeht? Die Antwort der Mystiker lautet: vertrauen! Karls Antwort lautet: sich umbringen! Aber auch das war bei der Erschaffung der Welt schon beschlossene Sache :) Der Autor dieser Geschichte glaubt nämlich an ein vorherbestimmtes Schicksal ;)

Fazit: Eine ergiebige Geschichte!

Freundliche Grüße,

Fritz

 

Wo diese Geschichte gerade oben schwimmt, kann ich ja auch noch meine Meinung dazu schreiben: Ich finde sie wunderbar.

Die Klammern haben durchaus ihre Berechtigung in diesem Text. Eine Klammerkonstruktion bewirkt, dass man einen Satz in Variationen lesen kann. Man kann die Satzteile in Klammern zunächst ganz weglassen. Dann kann man einen Satzteil dazunehmen und den Satz erneut lesen. Dann einen weiteren, usw. Immer wieder ergeben sich neue Varianten des Satzes mit neuen Sinnvariationen. Würde man das mit Kommata versuchen, wäre es wesentlich schwieriger.
Warum ist das nun hier so passend? Weil der Protagonist genau so denkt. Immer wieder versucht er die Welt durch hinzunehmen und weglassen einzelner Aspekte neu zu sehen. Immer wieder ergibt sich so ein etwas anderes Bild, ein anderer Sinn (oder auch nicht). Kein Bild gefällt ihm. Er nimmt einen Zwiebelberger dazu, aber es ergibt sich keine substantielle Verbesserung.

Am Schluss tut mir der Protagonist leid. Er ist so zynisch, dann nimmt er sich das Leben. Wie schön wäre es für ihn gewesen, all die Zwiebelberger in ihrem Raumschiff auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu sehen! Dieses Schauspiels hat er sich beraubt.
Natürlich hat mir diese letzte Wendung am Schluss besonders gefallen.

:thumbsup: Naut

 

Hallo, Naut und Fritz,

danke für die Kritik!

@fritz

Der Autor dieser Geschichte glaubt nämlich an ein vorherbestimmtes Schicksal.
Das tut der Autor nicht. Der Autor sagt lediglich, die Vorbestimmtheit sei irrelevant, wenn man die Zukunft, also die Ergebisse, nicht vorneweg berechnen/erfahren könne; solange man in Nachhinein sagt: "Es hat so kommen müssen" - beantwortet es die Frage nicht, und ich kann sagen: "Naja, dann sag mir doch was als Nächstes kommen muss!"
Wahrscheinlich ist alle Zukunft durch den Urknall vorbestimmt, nur, was soll's? Die eigentliche Frage fragt nach der Vorhersagbarkeit.
Mein Protagonist entscheidet sich für das "Nicht-mehr-handeln".


@Naut
Wegen der Klammern war ich zwischendrin unschlüssig. Doch dann gab es doch zwei, drei Leute, die den Klang dieser speziellen Klammern "lesen/hören" konnten. Und es ist anders als mit Beistrichen, es sind parallele Hinzufügungen, Einschränkungen, Hinwegnahmen - und ich kann sie gut so vorlesen, wie sie sind, sie stören also den Fluss nicht eigentlich, sondern vermutlich nur, weil es ungewohnt ist, sie zu verwenden.


Dass euch die Geschichte gefallen hat, freut mich. Ist eienr der eher ernsten Texte, die ich machte, davon gibt es mehr, aber meist längeres, und ich dachte gerade, es gäbe für diese Art Text eher weniger Publikum oder/und Zuspruch.

 
Zuletzt bearbeitet:

@Flic: Stimmt eigentlich: Diese Position hattest Du auch in einem Beitrag zu "Der freie Würfel" dargelegt. In der Frage sind wir einer Meinung, denke ich, und Du hast das auch klug formuliert.

Wie wäre es mit: "Der Autor dieser Geschichte glaubt an Moleküle"? :)

BESONDERS diese ernsten Texte sind geil, weil sie so rabenschwarz sind und nichts beschönigen! Der dumme August bekommt die meisten Lacher, wenn er zusammen mit dem Weißen Clown auftritt, und der Humor in den Romanen von Charles Dickens verliert kein bisschen, weil ein paar Seiten weiter so schlimme Dinge vorkommen, dass einem der Atem stockt. Gegensätze bringen einander besser zur Geltung. Dein drastischer Humor (für den Du bei Gelegenheit einen Waffenschein beantragen musst) wirkt am besten, wenn die Geschichten von selbstmordgefährdeten und depressiven Randexistenzen handeln, die in dieser bösen Welt unbeholfen in irgendwelche Fallen laufen.

meint der schwarze Rollkragenpullover tragende

Fritz

 

spontan

Hallo Fritz,

den Satz

Der Autor dieser Geschichte glaubt an Moleküle.
fand ich sofort zutreffend und nehme ihn in mein Profil auf.

 

Es gibt Leute, die glauben ERNSTHAFT daran, der Papst sei der Stellvertreter GOTTES hier auf Erden, und ich glaube, dass Mozarts Sinfonien in Wirklichkeit von Kohlenwasserstoffmolekülen geschrieben wurden {die sich als Mozart ausgaben}.

:sealed: Hätt ich's bloß nicht verraten!

 

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