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Der Tanz
Sanft glitt der letzte Schleier zu Boden. Nur noch ein knapp sitzendes Hüfttuch verhüllte nunmehr den grazilen Körper der Tänzerin, die für einen Augenblick ganz ruhig stand, bevor sie mit ihrem Tanz fort fuhr. Mit weit ausholenden Schritten durchmaß sie das Rund der Zuschauer und wirbelte dann wieder zurück, in einer Geschwindigkeit, die Lero beinahe nicht für möglich gehalten hatte. Das meergrüne Tuch um ihre Hüften und ihr dunkler Körper verschwommen in dem flackernden Licht zu einem unbestimmten Schemen, einem tanzenden Teufel, gefangen von der Menge, die ihn umgab.
Die Männer im Publikum jubelten, manche pfiffen auch auf ihren Fingern. Angewidert verzog Lero das Gesicht. Barbaren aus dem Norden. Es geschah immer häufiger, dass sich solche ins Teehaus verirrten. Sie hatten keinen Sinn für die Kunst des Tanzens an sich, waren einzig und allein an den nackten Körpern der Schleiertänzerinnen interessiert, die ihr Können in den späten Nachtstunden zur Schau stellten. Zu den langsamen, getragenen Tänzen des frühen Abends fanden sie sich nie ein.
Die Musik, die die Bewegungen der Tänzerin getragen hatte, verebbte. Die junge Frau hatte die Kreismitte erreicht, verbeugte sich tief, ihr Körper glänzend von Schweiß, die Spitzen des langen Haars streiften über den Boden. Rauschender Beifall, durchmischt von einigen Stimmen: „Hey, Süße, willst du nicht das lästige Tuch auch noch ablegen?“, „Ich hab mein Zimmer gleich hier um die Ecke“, „Möchtest du nicht noch mal für mich alleine tanzen?“
Einige Münzen klimperten auf die Tanzfläche. Lero runzelte die Stirn. Manieren hatten sie auch keine, die Nordländer. Geld!
Die Tänzerin beachtete die Münzen genauso wenig wie die Zurufe, sammelte ihre farbigen Schleier ein und verließ den Kreis nach hinten hin, wo sie von einem der Wächter in Empfang genommen und zu den Zimmern geführt wurde. Ein kleiner Junge las schließlich das Geld in einen Korb und folgte der Tänzerin nach.
Lero erhob sich. Sie hatte genug gesehen.
***
Talitha ließ sich auf ihren Diwan sinken. Dankbar ergriff sie das Tuch, das ihr Ismar reichte, und begann, sich damit Gesicht und Körper abzureiben. Sie hörte, wie ein weiterer Diener im Nebenraum Wasser in den Zuber goss. Die Anstrengung des Tanzes fiel allmählich von ihr ab. Ein Bad wäre jetzt genau das Richtige.
Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie aufhorchen. Ismar neben ihr hob seinen Blick, legte die Hand an den Griff seines Säbels und stapfte mit weiten Schritten zur Tür.
Wahrscheinlich wieder einer dieser Nordländer, dachte Talitha, und griff rasch nach einem Überwurf aus leichtem Stoff. Auch wenn sie nicht glaubte, dass Ismar es zulassen würde, dass der Klopfer auch nur einen Blick auf sie warf, fühlte sie sich doch angezogen wohler. Diese Nordländer sind unberechenbar. Talitha schauderte.
Ismar zog die Tür auf. „Die Dame Talitha ist für …“ Er unterbrach sich, sog scharf die Luft ein und vollzog eine tiefe Verbeugung. Das sah nicht so aus, als wolle schon wieder ein Nordländer sie belästigen. Neugierig spähte Talitha an Ismar vorbei und erkannte eine gut gekleidete Frau in den mittleren Jahren.
Sie war wohl einmal wohlproportioniert und attraktiv gewesen, doch nun zeigten sich an ihrem Körper nur allzu deutlich die Spuren eines Lebens mit zu vielen Ausschweifungen. Um Bauch und Hüfte hatte sie Fett angesetzt, unter den Augen zeigten sich tiefe schwarze Ringe und ihre Wangen waren bereits so faltig wie die einer sehr alten Frau. Sie hatte versucht, durch Kohlestifte, Wangen- und Lippenrot ihrem Gesicht einiges von seinem alten Glanz zurück zu geben, doch die Farben verliehen ihren verlebten Zügen nur den Anschein von Hoffnungslosigkeit. Ein von vorneherein verlorener Kampf. Doch ihre Finger umklammerten das Abzeichen der Meistertänzerinnen, das sie Ismar entgegen streckte.
„Ich muss die Tänzerin sprechen, ich habe ihr einen wichtigen Vorschlag zu machen.“ Die Stimme der Frau hatte einen schleppenden Klang, als wäre sie es nicht gewohnt, zu sprechen.
„Lass die Dame herein, Ismar!“, wies Talitha an, während sie ihren Überwurf zuschnürte. Ein Vorschlag einer Meistertänzerin! Vielleicht eine Ausbildung in den höchsten Tänzen, das wäre großartig.
Unter einer weiteren tiefen Verbeugung trat Ismar zur Seite. Er hob seinen Blick nicht zum Gesicht der Meistertänzerin, als diese an ihm vorbei in den Raum trat. Diese beachtete ihn gar nicht, sondern eilte mit raschen Schritten auf Talithas Diwan zu.
„Darf ich mich setzen?“ Noch immer irritierte der schleppende Tonfall in ihrer Stimme Talitha, doch sie beschloss, ihn nicht weiter zu beachten.
„Ich bitte darum.“
Die Frau setzte sich auf das andere Ende des Diwans und blickte dann so bedeutungsvoll in Richtung Ismars, dass Talitha lächeln musste.
„Ismar, gehst du bitte mit Nhured nach draußen? Ich glaube nicht, dass mit in Gesellschaft der Dame etwas zustoßen wird.“
Ismar nickte ergeben, rief Nhured aus dem Badezimmer zu sich und schob ihn nach draußen, bevor er ihm unter einer weiteren Verbeugung folgte.
„Nun?“, wendete Talitha sich an ihre Besucherin. „Ihr wolltet mir einen Vorschlag machen?“
Die Frau deutete ein Lächeln an, was ihre überschminkten Züge zu einer grotesken Maske verzerrte. „Ja, in der Tat, das wollte ich.“ Sie rutschte etwas näher an Talitha heran. Ein unangenehmer Geruch schlug der jungen Tänzerin entgegen und vorsichtig rückte sie ein Stück ab.
„Mein Name ist Lero.“ Sie streckte eine Hand aus, die Talitha nur zögernd ergriff. Die Frau war ihr auf eine unerklärliche Weise unheimlich. Aber schließlich war sie eine Meistertänzerin, die wies man nicht einfach ab.
„Ich bin Talitha.“
„Sag mir, junge Talitha, wie lange tanzt du nun schon?“
„Vierzehn Jahre, Meisterin Lero.“
„Dann bist du jetzt, wie alt? Achtzehn?“
Sie nickte. Sie konnte sich die Fragen der Älteren zwar nicht ganz erklären, doch die Höflichkeit gebot ihr, zu antworten.
„Und Schleiertänze, seit wann…?“
„Seit vier Jahren lerne ich sie nun, Meisterin. Und ich glaube, dass ich sie ziemlich gut beherrsche.“
„Oh, das tust du, tatsächlich, mein Mädchen.“ Auf Talithas verwunderten Blick hin lachte Lero leise. „Ich hab dich vorhin beobachtet, Kind. Und – ich möchte ehrlich sein – dein Können in den Schleiertänzen hat mich jetzt zu dir geführt.“
Talitha senkte den Kopf, teils aus Ehrfurcht, teils, um ihr zufriedenes Gesicht zu verbergen. Wie lange schon hatte sie auf eine Gelegenheit wie diese gewartet. Nur die besten Schleiertänzerinnen wurden zu Meisterinnen ausgebildet. Jetzt war es für sie endlich soweit.
„Sag mir, Talitha, bist du glücklich?“
Diese Frage hatte sie nicht erwartet, verwundert blickte sie auf. In die Augen der Älteren war ein lauernder Ausdruck getreten. Eifer hatte ihre Wangen noch zusätzlich gerötet. Talitha zuckte mit den Schultern.
„Ich denke schon, warum?“
„Wirklich? Lebst du gerne hier im Teehaus?“
Talitha sah rasch in eine andere Richtung. Es war wohl besser, wenn Lero ihre Verlegenheit nicht sah.
„Ja, doch, natürlich.“
Wieder lachte die Ältere. „Oh, Mädchen, mach mir doch nichts vor! Du verachtetest es, hier zu leben. Du möchtest hinaus in die Welt, wo dein Leben nicht von einem Besitz ergreifenden Ehemann geprägt ist, wo du von jungen Männern umgeben bist, statt von den Veteranen der Garde, die dein treu sorgender Gatte zu deinem Schutz abgestellt hat. Wo du deinen Schleier ablegen kannst und leben, wie du möchtest. Vielleicht auch lieben, wen du möchtest.“ Sie lächelte anzüglich und Talitha spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Wie konnte die Alte von Yenus erfahren haben? Oder hatte sie vielleicht nur geraten.
Ohne aufzusehen, nickte Talitha schüchtern. Der Meistertänzerin konnte sie offensichtlich nichts vorlügen. Diese grinste breit und rückte wieder näher an sie heran. Ihre knallroten Lippen berührten nun beinahe das Ohr der Tänzerin, als sie sehr leise weitersprach.
„Sag mir, Talitha, wenn du deinen Schleier fortwirfst, bevor du den Teufelwirbel ausführst, was siehst du, wenn er zu Boden gleitet?“
Talitha zögerte. Sie hatte noch nie zu jemandem davon gesprochen, was sie während ihrer Tänze wahrnahm.
„Komm schon, vertrau mir, Mädchen.“
„Er … er segelt einen Moment, und durch ihn hindurch sehe ich … einen Torbogen.“ Ihre Stimme war immer leiser geworden, die letzten Worte hauchte sie nur noch.
Lero kicherte. „Also hast du ihn gesehen. Das ist gut, denn es heißt, dass die alten Kräfte stark in dir sind.“
“Die alten Kräfte?“
„Dieser Tanz, den du jeden Abend aufführst, ist schon sehr alt. Er gehört zu den Ritualen der Nuna, der weisen Frauen früherer Zeiten. Durch ihn war es ihnen möglich, schnell von einem Ort zum anderen zu gelangen. Natürlich ist der eigentliche Zauber inzwischen vergessen worden, und der Tanz verfälscht, aber seine Grundzüge sind immer noch erhalten. Und wenn es dir gelänge, die richtigen Schritte zu erlernen, dann könntest du im Tanz jeden Ort erreichen, den du möchtest.“
„Jeden Ort?“ Talitha spürte, wie sich Aufregung in ihrem Körper ausbreitete.
„Jeden, wenn du weißt, wie du ihn herbei rufen kannst. Wenn du die Schrittfolge kennst, die dir das Tor zu dem gewünschten Ort öffnet.“
Talithas Herz schlug schneller. Ich kann hier heraus, es braucht nur einige Tanzschritte. Niemand könnte mich aufhalten. Sie spürte, wie ihre Kehle trocken wurde. Sie schluckte ein-, zweimal, bevor es ihr gelang, weiter zu sprechen.
„Könntet Ihr mir… diesen Tanz beibringen?“
Wieder das leise Lachen der Alten. „Dafür bin ich zu dir gekommen, mein Mädchen. Bald wirst du frei sein.“
***
Lero wartete. Geduldig wie eine Spinne kauerte sie neben dem Torbogen. Durch den grauen Schleier darin konnte sie das Teehaus erkennen, schemenhaft wirbelte Talitha durch das Rund der Zuschauer. Schicht um Schicht ihrer Kleidung fiel von ihr ab, während ihre Bewegungen immer schneller, immer angespannter wurden. Geräusche konnte Lero keine vernehmen, sie reichten nicht durch den Schleier hindurch.
Talithas rasche Schritte trugen sie auf den Torbogen zu. Es hatte Lero ziemlich viel Kraft gekostet, den Durchgang für das Mädchen zu öffnen. Nun musste die Tänzerin nur noch die entscheidenden Schritte tun, die Kombination, die sie durch den Schleier tragen würde. Lero hoffte, dass sie keinen Fehler machen würde. Ein Fehler konnte sie weit von der Meistertänzerin fortreißen, vielleicht sogar ihr Leben kosten. Sie hatte dem Mädchen nichts davon gesagt, wollte sie nicht beunruhigen, vertraute auf die Trittsicherheit der Tänzerin. Lero hoffte nur, dass ihr jetzt noch genug Macht blieb, den letzten Schritt zu tun.
Talitha hinter dem Schleier warf das letzte Tuch von sich. Flammendes Rot schwebte am Torbogen vorbei. Einen Moment stand Talitha nur da und starrte.
Mach schon, Mädchen! Leros Hände begannen zu zittern. Hoffentlich hatte das Mädchen nicht der Mut verlassen.
Da, die entscheidenden Schritte. Eine Drehung, die Arme dabei hoch erhoben, ein Sprung, und Talitha stolperte durch das Tor. Noch bevor sich die junge Tänzerin ihrer Umgebung bewusst werden konnte, sprang Lero an ihre Seite, umschloss die zarten Handgelenke mit ihrer eigenen kräftigen Hand, und presste mit der anderen ein feuchtes Tuch auf Talithas Gesicht.
Das Mädchen sackte zusammen wie eine leblose Puppe.
***
Talitha erwachte von dem leisen Klang einer Schellentrommel. Ihre Hand- und Fußgelenke schmerzten furchtbar, und als sie sich zu bewegen versuchte, gelang es ihr nicht. Bin ich gestürzt? Vielleicht habe ich mir etwas gebrochen. Der Gedanke machte ihr Angst. Sollte ihre Zeit als Tänzerin so bald zu Ende sein?
Ihre Lider waren schwer, es kostete sie alle Kraft, sie zu heben. In ihrem Mund hatte sich ein scheußlicher Geschmack breit gemacht. Ich werde Ismar bitten, mir einen Tee zu kochen, dachte sie, bevor sie erkannte, dass sie nicht in ihrem eigenen Zimmer aufgewacht war.
Sie blickte in einen kleinen schmuddeligen Raum, karge Lehmwände, ein einfacher Holztisch, an die Wand gerückt, um etwas mehr Platz zu schaffen. Sie selber lag auf einem harten Holzbett, an Händen und Füßen gefesselt. Sie spürte den kühlen Schweißfilm auf ihrem Körper und schauderte etwas. Sie war immer noch halbnackt und es war ziemlich kühl.
In der Mitte des Raumes bewegte sich die Meisterin Lero rhythmisch zu den Klängen einer kleinen Schellentrommel, die sie selber trug. Sie summte eine wortlose Melodie, ab und zu sang sie ein paar Silben, die Talitha jedoch nicht verstand. Ein weiterer Schauer ergriff sie. Die alte Frau sah nun gar nicht mehr harmlos aus. Ihrem Tanz haftete etwas Unheimliches und Kaltes an.
„Was macht Ihr da? Lasst mich sofort frei!“ Talithas Stimme klang heiser, und Lero achtete gar nicht auf sie. Schritt für Schritt führte sie ihren Tanz weiter aus, langsame, bedächtige Bewegungen, halbe Drehungen, weite Armschwünge.
Talitha versuchte, sich aufzusetzen, doch ihr Körper wollte ihr nicht so recht gehorchen. Sie zerrte an den Fesseln um ihr Handgelenk, doch die Knoten saßen zu fest. So ließ sie sich wieder auf das harte Bett zurück sinken und betrachtete stumm Leros seltsamen Tanz.
Eine unheimliche Faszination ging von den Bewegungen der Älteren aus, eine Anziehungskraft, die Talithas Blick fesselte, sie zwang, jeder Geste, jedem Schritt mit den Augen zu folgen. Und je länger sie zusah, desto stärker fühlte sie die Kälte, die sich nun in ihrem Körper ausbreitete. Es konnte nicht mehr nur der erkaltete Schweiß sein, sie konnte spüren, wie die Kälte in ihre Knochen drang, wie ihr Blut zu Eiswasser wurden, wie das Leben aus ihren Lippen wich. Ihr Blick trübte sich, sie konnte Lero nur noch schemenhaft wahrnehmen. Doch immer lauter drangen nun die sinnlosen Silben an ihr Ohr, fraßen sich in ihren Geist und fesselten ihn.
Dann, als die Kälte beinahe unerträglich wurde, befiel sie auf einmal wieder eine bleierne Müdigkeit. Ihre Augen fielen zu und Talithas Geist driftete in eine graue Welt davon.
***
Lero betrachtete den schlafenden Körper, der einmal der ihre gewesen war. Nun, eigentlich nicht tatsächlich ihrer, nur eine Leihgabe, eine Heimat für die letzten drei Jahre, die sie mit der Suche nach dem Tanz verbracht hatte.
Arme Talitha. Aber ich werde dich rächen, dich und mich. Sie machte einige Schritte und bewunderte die Spannkraft von Talithas jungem, geschmeidigen Körper. So hatte sie sich seit drei Jahren nicht mehr gefühlt. Nicht mehr, seit die Diebin Jelike ihren eigenen kräftigen Leib gestohlen hatte, mit dem selben Tanz, mit dem sie nun Talitha beraubt hatte.
Nun bin ich wieder stark genug, dich zu suchen, Jelike. Und ich werde dich finden. Ich werde meinen Körper von dir zurück fordern, den Körper einer Meistertänzerin. Nicht so ein junges mageres Ding wie das hier.
Sie lächelte. Bald, bald würde sie wieder sie selber sein.