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Der Tempel des Fünften Clearings
Ekstase. Das war es, was Kai Wiese gesucht hatte. Und hier, beim Tanzen mit den anderen Nackten im Tempel des Fünften Clearings, hatte er es gefunden. So glaubte er.
Er war zum Tempel gefahren, einer abgelegenen, ehemaligen LPG in Ostdeutschland, um sich das Fünfte Clearing einmal anzusehen.
Das war der Name einer Gruppe, die er im Internet entdeckt hatte. Angeblich öffneten sie einem Tore zum eigenen Unterbewusstsein und veränderten das Leben für immer. Nichts sei danach mehr so, wie es war. Das hatte Kai neugierig gemacht, denn er war auf spiritueller Suche und hatte sich schon einige Psychogruppen angesehen: Scientology, Hare Krishna, TM, Bhagwan. Davor hatte er verschiedene Drogen ausprobiert: Hasch, Acid, H, Koks, Magic Mushrooms und Angel Dust. Aber nichts hatte ihn auf Dauer befriedigt, alles ließ ihn mit einem Gefühl der Leere zurück.
Hier jedoch… hier schien es anders zu laufen. Nach seiner Ankunft hatte sich ein Mitglied der Gruppe – Kai vermied das Wort Sekte - ausgiebig Zeit für ihn genommen, ihn gefragt, was er sich wünsche, und ihm dann erklärt, wie das Fünfte Clearing funktioniere. Durch eine Art Tanz- und Atemtherapie versuchten sie, einen von inneren Zwängen und Ängsten jeder Art zu befreien, um dann in weiteren Stufen der Erleuchtung ( was eigentlich nur weitere Therapiestufen waren ) zur vollkommenen inneren und äußeren Freiheit zu führen. Ziel war das Fünfte Clearing, ein Zustand, bei dem das Individuum absolut Free wurde.
Stroboskoplichter, ohrenbetäubender Meditationssound, süßlicher Geruch von Räucherstäbchen und Unmengen von Tee aus Thermoskannen brachten die Aspiranten in Stimmung. Der Tee hatte Kai nicht geschmeckt, daher hatte er nur eine halbe Tasse getrunken. Aber sonst fand er das Aufnahmeverfahren recht angenehm.
Die Leute tanzten ausgelassen. Allmählich lud sich die Stimmung auf; die Musik wurde schneller, aufpeitschender. Mehrere Leute rissen sich die Kleider vom Körper, und tanzten wilder.
Auch Kai tanzte. Der Schweiß rann ihm in Strömen über den Körper. Ekstase.
Geil.
Die Brüste der Frauen hüpften beim Tanz. Er konnte nicht anders, als hinzusehen. Die Bewegung weiblicher Körper wirkte hypnotisch auf ihn. Bald waren fast alle der Tänzer vollkommen nackt. Kai dachte an Sex. Das hier, das Tanzen, war fast so gut. Vielleicht nicht ganz. Aber so, wie es hier abging, würde er hier auch Sex haben. Irgendwann, bald. Er hatte so ein Gefühl, dass er genau da war, wo er sein sollte. Er bekam eine Mörder-Erektion. Er hoffte, dass es niemand sonst bemerkte.
Ein paar schwarz gekleidete Leute aus der Gruppe traten auf das bühnenartige Podest, das an einer Seite der Halle aufgebaut war. Einer stellte sich vor den Mikrofonständer und rief: „Befreit euch! Lasst euch gehen! Tretet ein in den inneren Kreis!“ Jemand stellte die Musik noch lauter. Allmählich wurde sie hektischer, aufpeitschender. Die tanzende Menge war wie ein einziger Körper. Ein riesiges Ganzes, ein Organismus, ein wildes, geiles Tier, und er war ein Teil davon. Kai war berauscht. Er hatte die Augen geschlossen wie die meisten der anderen auch.
Da spürte er etwas an seinem Fuß. Er sah nach unten – eine Frau lag ihm zu Füßen. Sie zuckte. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr Gesicht drückte etwas aus, das überhaupt nicht zu Kais ekstatischen Hochgefühlen passte: Entsetzen. Überall in der Halle sah er nun Menschen, die in Anfällen von konvulsivischen Zuckungen auf dem Boden lagen. Nur noch Wenige tanzten und traten dabei auf die Leiber unter ihnen. Schreie und Stöhnen mischten sich in die Musik, die sich mittlerweile verändert hatte: harte Industrialklänge wummerten durch die Halle. Ein Schwindelgefühl erfasste Kai und zwang ihn, sich zu setzen, neben die Frau, aus deren Mund mittlerweile weißer Schaum gequollen war. Entsetzt wandte er sich ab und sah sich blinzelnd um. Schwarze Gestalten gingen umher und machten sich an den Liegenden zu schaffen. Kai bekam Angst. Er wollte aufstehen und wegrennen.
Mein Auto… wenn ich es zu meinem Auto schaffe, kann ich weg.
Aber er war nackt.
Wo sind meine Sachen?
Er konnte sich nicht erinnern.
Irgendwo...
Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren.
Der Tee. Da war etwas im Tee. Drogen.
Er hatte nur eine halbe Tasse getrunken.
Aber die anderen…
Abrupt trat Stille ein, als jemand die Musik abstellte. Das Echo der Schmerzensschreie verharrte in Kais Kopf. Die Menschen stöhnten nicht mehr, sondern lagen da wie Tote. Eine der schwarzen Gestalten kam schließlich zu der Frau, die neben Kai lag. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Typ ihren Arm hochriss und ihr eine Spritze in den Körper jagte. Kai biss sich auf die Lippe. Der Geschmack von Eisen verbreitete sich in seinem Mund. Der schwarze Mann… er kommt. Er bringt mich um, er bringt mich …
„Walter, kommst du mal?“, rief jemand. Der Kerl mit der Spritze sah hoch. „Was ist? Ich bin hier noch nicht fertig.“
„Komm mal. Hast du mit Sergej telefoniert?“
Der Typ stand auf und ging zu den anderen hinüber. Sie unterhielten sich lautstark, so dass Kai das meiste mitbekam.
„Was ist jetzt, hast du mit ihm geredet?“
„Klar doch. Er kommt heut Nacht.“
„Die Autos müssen weg. So schnell wie möglich.“
„Ich sag doch, er kommt heut Nacht. Früher geht’s nicht, sagt er. Gibt Probleme mit dem Zoll. Muss wohl noch mehr springen lassen.“
„Hat er genug Geld?“
„Denk schon.“
„So wie das letzte Mal? Dieser dämliche Russe. Irgendwas geht immer daneben, wenn der liebe Sergej sagt, dass alles okay ist. Will er die Weiber eigentlich auch gleich mitnehmen?“
„Ja, hat er jedenfalls gesagt.“
„Aber ich sag dir… er kriegt nur, was er cash bezahlt.“
Kai kam allmählich wieder zur Besinnung, wahrscheinlich, weil er nicht viel von dem Tee getrunken hatte – möglicherweise aber auch, weil er in einem Zustand von Panik war. Was ging hier vor? Ging es um Autos? Frauen? Er wagte kaum zu atmen, als er hörte, wie die Typen sich entfernten – ihre Stimmen wurden leiser, bis er sie nicht mehr hören konnte. Vorsichtig sah er sich um. Außer den Betäubten, die am Boden lagen, war niemand zu sehen. Er setzte sich auf. Ihm war schlecht und sein Kopf brummte, als sei er eine Woche auf Sauftour gewesen. Er kroch in eine Ecke, wo ein Tisch stand. Darunter lag ein Haufen Klamotten, in den er kroch, um sich zu verbergen. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Verdammte Scheiße. Wie konnte er bloß von hier verschwinden? Er erinnerte sich, dass er keinen anderen Ausgang in der Halle gesehen hatte als den, durch welchen man die Menschen hinausgetragen hatte. Da hörte er wieder die Stimmen der Mistkerle.
„Die Weiber auf eine Seite, die Kerle auf die andere. Ich sortier sie nachher noch genauer. Deckt sie zu, damit sie sich nicht erkälten, die Armen.“ Der Kerl lachte. Die anderen Schweine stimmten in sein Lachen ein. Sie trugen die reglosen Gestalten hinaus, eine nach der anderen. Als sie fertig waren, wurde das Licht ausgemacht.
Keiner hatte Kais Fehlen bemerkt. Ein Schluchzen kroch in ihm hoch. Aber er unterdrückte es, so gut es ging.
Was für eine Farce. Dies war ein Tempel des Horrors. Er musste weg von hier. Nur wie? Er war nackt und brauchte seine Klamotten. Inzwischen erinnerte er sich wieder: sie lagen hier irgendwo zwischen all den anderen Kleidungsstücken und in seiner Jacke steckte der Schlüssel seines Autos. Wahrscheinlich würden die Kerle bald zurückkehren. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Er kam unter dem Tisch hervor, durchwühlte die Haufen, zu denen man die Klamotten zusammengelegt hatte. Nach einer Weile hatte er alles zusammen: Hose, Pulli, Unterwäsche, Socken, Schuhe und Jacke. Seinen Schlüssel. Er zog sich an und schlich zur Tür. Er horchte daran. Kein Laut. Langsam öffnete er sie und spähte hinaus. Eine einzelne Glühbirne beleuchtete einen Gang. Sie schwankte im Luftzug, den er verursacht hatte und ließ Schatten über spinnwebenbedeckte Ziegelwände wandern, die im Licht der Glühbirne noch trister wirkten. Durch diesen Gang war er in die Halle gekommen - dies war der Ausgang. Auf beiden Seiten des Korridors waren weitere Türen, von denen er nicht wusste, wohin sie führten. Er betrat den Korridor und schlich sich voran. Jederzeit konnte sich eine der Türen öffnen und er wäre geliefert, doch dies war der einzige Weg.
Etwa nach halbem Weg durch den Gang näherte er sich einer Stahltür auf der linken Seite, deren blauer Lack von Rost überwuchert war. Ein kaum noch lesbares Schild war an ihr angebracht: Schlachtraum. Zutritt für Unbefugte verboten. Durch das Türblatt drangen Geräusche: Gelächter, panische Schreie, ein Geräusch, das sich anhörte wie eine Motorsäge, die einmal, zweimal aufheulte, ein tierisches Knurren, wie von einem riesigen Hund. Eine Kakophonie des Grauens. Er sah nicht, was dahinter vor sich ging, aber er hörte es. Er spürte, wie ihm heiß und kalt wurde. Was würde er sehen, wenn die Tür sich öffnete? Was? Da bemerkte er eine Bewegung am Boden. Ein Rinnsal kam unter der Tür durch. Im Kunstlicht wirkte es fast grau, aber Kai war sich sicher, dass es hellrot war. Blut. Da erst hastete er weiter. Seine Phantasie ging mit ihm durch und zeigte ihm Bilder – einen Folterkeller wie aus einem Horrorfilm: an Fleischerhaken aufgehängte Körper. Abgetrennte Gliedmaßen. Eingeweide. Schwarzvermummte Folterer. Und Pfützen von hellrotem Blut. Fontänen von Blut.
Er rannte bis zum Ausgang, der unverschlossen war.
Erst, als er im Freien stand, atmete er wieder tief ein. Es war mittlerweile dunkel und der Vollmond war aufgegangen. Alles schien ruhig und verlassen. Kai schlich weiter zum Parkplatz, wo er sein Auto abgestellt hatte. Dort standen die Autos der Besucher und darunter auch sein eigenes. Er hielt seinen Schlüssel umklammert, bewegte sich gebückt auf den heckenumsäumten Fußwegen auf die Autos zu und hoffte, dies sei das Ende des Alptraums. Er spürte seinen eigenen Herzschlag pochen, seine Hände zitterten. Nur noch wenige Meter trennten ihn von seinem Fahrzeug, da sah er im Dunkeln einen roten Lichtpunkt aufglühen. Kai ging in die Hocke, starrte hin. Da stand ein Kerl zwischen den Autos und rauchte. Kai zog sich langsam zurück und verließ den Parkplatz. Aus sicherer Entfernung sah er zurück. Der Kerl patrouillierte um die Autos. Kai sah auch sein Auto. Aber er konnte es nicht erreichen.
Er wartete eine Weile, doch der Mistkerl rührte sich nicht von der Stelle. Da entschloss sich Kai, zu Fuß zu flüchten. Niemand hatte ihn gesehen, seit er auf der Flucht war. Sie schienen auch keines ihrer Opfer zu vermissen. Er konnte also entkommen, es war möglich. Er musste die nächste Stadt, das nächste Haus erreichen. Er musste es versuchen. Er wollte nicht an einem Fleischerhaken enden. Durch eine Motorsäge. Oder … Schlimmeres.
Als er das Gelände verließ, betrat er ein Maisfeld, das sich bis an den Horizont auszubreiten schien. Die Pflanzen raschelten im Nachtwind. Das Mondlicht warf den Schatten der Stauden auf den ausgedörrten Boden, der von der Sonne steinhart gebrannt war. Wie ein Netz bedeckten die Schatten die Erde. Noch einmal sah Kai sich um. Es war niemand zu sehen, aber ihm schien, als stehe eine Rauchwolke über dem Tempel des fünften Clearings. In der Luft hing ein eigenartiger Geruch. Süßlich. Wie der Duft von Schweinebraten. Sein Magen verkrampfte sich und er erbrach sich auf die Stauden. Dann rannte er los. Die scharfen Blätter der Maispflanzen schnitten ihm ins Gesicht. Es war ihm gleichgültig, er verdrängte alles außer dem einen Gedanken: Weg. Bald bekam er Seitenstechen, aber er wusste, daran würde er nicht sterben. Er rannte weiter, rannte bis seine Lungen brannten wie Feuer, bis seine Beine sich anfühlten wie Bleiklumpen und er ein Pochen in seinen Schläfen spürte. Doch selbst dann rannte er weiter. Immerzu dachte er an die blaue Stahltür im Tempel und an das, was sich dahinter abspielte.
Er verlor jegliches Zeitgefühl. So wusste er nicht, wie lange oder wie weit er schon gelaufen war, als ihm ein furchtbarer Gedanke durch den Kopf schoss. Er betastete seine Tasche, in der er seinen Schlüsselbund spürte. Diese perversen Schweine würden merken, dass ihnen für sein Auto die Schlüssel fehlten. Also würden sie wissen, dass einer entkommen war. Wie viel Zeit blieb ihm noch? Nicht viel. Dieser Sergej sollte noch in dieser Nacht kommen. Sie würden nach ihm suchen. Sicher würden sie das. Er wagte nicht, sich vorzustellen, was sie mit ihm machen würden.
Er musste weiter. Auf einmal stieg ihm ein Geruch in die Nase. Er kannte ihn; Erinnerungen aus seiner Kindheit stiegen in ihm hoch: Ein Wald. Eine Lichtung. Ein totes Reh. Verwesung. Gestank.
Wieder würgte Kai, aber sein Magen war leer. Als der Brechreiz abgeklungen war, stolperte er weiter. Plötzlich trat er ins Leere und fiel. Da war irgendein Loch und er stürzte hinein. Ein Gestank strömte ihm entgegen, der ihm den Atem raubte. Er landete weich, etwas raschelte unter ihm. Im Licht des Mondes sah er, dass er auf länglichen Bündeln aus Plastikfolie gelandet war. Aus einem reckte sich ihm eine dunkelgraue Hand entgegen, an der der Ringfinger fehlte. Er war mit einem sauberen Schnitt entfernt worden. In Panik sprang Kai auf und versuchte, hochzuklettern. Dabei trampelte er auf den Bündeln herum. Sie fühlten sich weich an unter seinen Füssen und mit jedem Tritt, den er machte, strömte mehr von diesem entsetzlichen Gestank zu ihm hoch. Schließlich schaffte er es und bekam eine Wurzel zu fassen, die am Rand der Grube aus dem Boden ragte. An ihr zog er sich hoch.
Er wischte sich das Gesicht ab. Seine Hand stank. Er roch an seiner Jacke. Sie auch. Allem entströmte dieser Geruch und der Brechreiz wurde übermächtig. Er ließ sich auf alle Viere fallen und würgte bittere Galle hoch. Krämpfe kneteten seine Eingeweide. Oh Gott, lass es vorbei sein! Schließlich verebbte das Würgen und er erhob sich matt. Da hörte er weit in der Ferne Stimmen. Rufe, Hundegebell. Er sah zurück. Taschenlampenlichter ragten wie Finger in die dunstige Nachtluft und zuckten hin und her. Sie kamen. Sie suchten.
Kai taumelte weiter, hetzte weiter, keuchte, hustete, der Schleim tropfte ihm von den Lippen, und der gallige Geschmack seiner Kotze vermischte sich mit dem scheußlichen Gestank, der seinen Kleidern entströmte. Werde ich jemals wieder schlafen können? Oder…
Er bemerkte, wie sie näher kamen. War er so langsam? Er fühlte sich nicht fit, er war ausgelaugt und schwach. Seine Beine zitterten. Sie waren vermutlich ausgeruht.
Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen. Im Pflanzendickicht des Mais glänzte etwas. Es bewegte sich. Ein Augenpaar. Aus derselben Richtung erklang ein Knurren, und das Geräusch war tief und voll.
Ein riesiges Vieh. Das musste es sein. Eine Bestie aus der Hölle. An diesem Ort konnte es gar nichts anderes sein. Unvermittelt sprang es ihn an. Der Schmerz in seinem Oberarm raubte ihm fast den Verstand, als sich ein kräftiges Gebiss in seinen Bizeps bohrte. Das Knurren war jetzt ganz nah an seinem Ohr und aus dem Maul des Angreifers strömte ihm der gleiche Geruch entgegen, dem er gerade begegnet war.
Da hörte Kai Maisblätter rascheln, und wie sich Schritte näherten. Gestalten brachen durch den Mais. Jemand rief: „Erich, aus! Is ja gut jetze!“ Sofort ließ der Hund seinen Arm los. Im Schein einer Taschenlampe erblickte Kai für einen Moment einen riesigen schwarzen Hund. Er sah aus wie eine Kreuzung aus Rottweiler, Bernhardiner und Dogge. Sein Schädel war übersät mit Narben, ebenso sein Körper. Das Vieh musste mindestens sechzig Kilo wiegen und bestand nur aus Muskeln. Blutiger Schaum tropfte ihm aus dem Maul.
Kai spürte einen Schlag am Hinterkopf und verlor das Bewusstsein.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf einem Bett mit weißen, sauberen Laken. Der Raum war hell und freundlich. Außer seinem standen noch drei weitere Betten darin, die aber nicht belegt waren. Auf dem Fensterbrett standen zwei Zimmerpflanzen, und vor dem Fenster hingen Figuren aus farbigem Glas: ein Flötenspieler und mehrere Kinder, die ihm folgten. Ihm stieg der Geruch von Desinfektionsmittel in die Nase, der ihm schließlich verriet, wo er war: Er lag in einem Krankenhaus.
Er wollte aufstehen, stellte aber fest, dass ihm sofort schwindlig wurde und blieb liegen. An seinem Oberarm fand er einen sauberen Verband.
Warum hatten ihn die Typen nicht beseitigt? Stattdessen hatten sie ihn ins Krankenhaus geschafft. Das passte überhaupt nicht ins Bild, das er mittlerweile vom Tempel hatte.
Da klopfte es. Wer war das? Sofort waren die Gefühle dieser Nacht wieder da: Angst und Schrecken. „Herein“, sagte er schließlich, und er hörte, wie seine Stimme zitterte.
Eine Krankenschwester betrat das Zimmer. „Wie geht es Ihnen denn heute, Herr Wiese?“ Sie lächelte freundlich.
„Es geht … Hören Sie, wie komm ich eigentlich hier her?“
Für einen Augenblick sah sie ihn mit Erstaunen an, dann lächelte sie wieder. „Das müssen schon Sie uns sagen. Man fand sie gestern Nacht vor dem Krankenhaus. In einem Zustand …“, sie rollte mit den Augen, „also wirklich … Sie sollten mit den Drogen aufhören. Was ist denn mit Ihrem Arm passiert? War das ein Hund?“
Kai nickte. „Ja, ich glaube schon.“
Am nächsten Tag entließ man ihn aus dem Krankenhaus. Auf eigene Verantwortung, wie es hieß, denn bei seiner Einlieferung hatte man in seinem Blut eine extrem hohe Konzentration von Halluzinogenen festgestellt.
In der Krankenhausverwaltung sagte man ihm, sein Auto stehe auf dem Parkplatz.
„Wie kommt es dahin?“, fragte Kai.
„Woher soll ich das wissen? Man hat einen Zettel bei Ihnen gefunden, zusammen mit Ihren Papieren. Darauf stand, Ihr Auto sei auf unserem Parkplatz. Mehr weiß ich leider auch nicht“, antwortete die Sekretärin in der Verwaltung.
„Wissen Sie etwas von den anderen?“ fragte Kai.
„Welchen anderen?“, entgegnete sie.
„Den anderen Leuten … aus dem Tempel.“
„Tempel? Davon weiß ich nichts.“
Kai nickte und ging.
Niemand wusste etwas über die anderen. Auch über den Tempel wusste niemand etwas, zumindest gab es keiner zu.
Aber vielleicht hatte er sich ja wirklich alles nur eingebildet.
Er unternahm einen letzten Versuch und ging zur Polizei. Nachdem der Beamte mit dem Krankenhaus telefoniert hatte, wies man ihm höflich, aber bestimmt die Tür.
Tempel? Hier gibt`s so was nicht. Auf der alten LPG? Die steht seit Jahren leer. Wird nur von Junkies benutzt, sagte der Polizist.
So, wie Sie einer sind, Herr Wiese, dachte der Polizist wahrscheinlich, sprach es jedoch nicht aus. Sein Gesicht verriet es Kai trotzdem.
Restlos entmutigt beschloss er schließlich, nach Hause zu fahren. Wahrscheinlich hatte er zu viele Drogen konsumiert, zuviel meditiert, zu viele Psychos getroffen. Sicher hatte er Wirklichkeit und drogenvernebelte Phantasien vermengt und so was wie einen Horrortrip gehabt. Er hatte keinerlei Beweise, dass es nicht so war.
Zwei Stunden später war er auf der Autobahn. Er wollte nur noch nach Hause, diesen ganzen Horror vergessen.
Nach einer Weile verspürte er das Bedürfnis nach einer Toilette, und fuhr bei der nächsten Raststätte runter.
Als er das Gebäude verließ und zu seinem Auto zurückgehen wollte, fuhr ein Autotransporter auf den Parkplatz. Kai ließ ihn vorbei und las dabei die Aufschrift auf dem Führerhaus: Sergejs Auto Im- u. Export. Russland, Deutschland, Ukraine.
Kai fühlte einen Bleiklumpen in seinen Eingeweiden und musste sich zwingen, langsam und unauffällig zu seinem Auto zu gehen. Er stieg ein und beobachtete den LKW. Zwei Typen stiegen aus, und gingen in die Raststätte. Nichts Auffälliges war an ihnen.
Es gab also wirklich einen Sergej, der mit Autos handelte. Aber was bewies das? Gar nichts. Andererseits, wenn …
Kai musste immer an die anderen denken. Wenn es stimmte …
Er fuhr los. Nicht nach Hause.
Zurück.
Zum Tempel.
Gegen ein Uhr Mittags kam er an. Alles schien auf den ersten Blick unverändert. Die Gebäude wirkten genauso schäbig und heruntergekommen wie beim ersten Mal.
Kai stellte sein Auto auf dem Parkplatz ab. Seines war das einzige Auto. Er stieg aus und ging zur Halle, wo er sich angemeldet hatte und wo alles passiert war. Als er die Halle betrat, sah er zuerst überhaupt nichts, so dunkel war es drinnen. Aber als sich seine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, sah er vor sich den Gang mit der blau lackierten Tür. Alles war ruhig. Er zwang sich dazu, weiter zu gehen. Nichts geschah und er erreichte die Halle.
Sie war komplett leer geräumt. Alle Transparente, Poster und Plakate waren entfernt, die Einrichtung war verschwunden und Müll lag herum. Alles schien, als sei das Gebäude seit Jahren verlassen. Die Lampen waren zerschlagen und Graffitis bedeckten die Wände, die vor wenigen Tagen noch weiß gewesen waren. Er sah sich genau um, doch er fand nicht ein einziges Anzeichen dafür, dass hier vor wenigen Tagen eine Versammlung stattgefunden hatte.
Hatte sie stattgefunden?
Er verließ die Halle. Diesmal ging er nicht an der blauen Tür vorbei, sondern blieb vor ihr stehen. Er erinnerte sich noch genau daran, wie er einige Tage zuvor an derselben Stelle gestanden und furchtbare Dinge gehört hatte … oder scheinbar gehört hatte? Er zögerte, legte die Hand dann doch auf den Türgriff und drückte ihn nach unten. Was hatte er nur erwartet? Eine Folterkammer? Zerstückelte Leichen? Gestalten in Masken, die sich an wehrlosen Frauen vergingen? Nichts von alledem fand er vor. Es war ein schäbiger Raum, der vielleicht einmal als Schlachtraum gedient haben mochte, aber allem Anschein nach war dies schon Jahre her. Spinnweben und Staub bedeckten alles in diesem Raum in dicken Schichten.
„Alles Quatsch!“, sagte er halblaut vor sich hin und schmiss die Tür zu. Er ging wieder nach draußen und sog gierig die frische Luft ein. Er war erleichtert. Nichts war real gewesen. Blödsinn, alles Blödsinn. Aber er war doch hierher gefahren … er war auch einige Tage zuvor hier gewesen, woher hätte er den Ort denn sonst kennen sollen? Alles in seinem Kopf ging wirr durcheinander. Was war real, was nicht? Die Grube im Maisacker, wenn es die nicht gibt, dann …
Er rannte in den Mais hinein, und je weiter er in das Feld vordrang, desto mehr erinnerte er sich an Einzelheiten seiner Flucht. Den Mond, das Rascheln der Maispflanzen, den vertrockneten, steinharten Boden.
Er war hier gerannt in jener Nacht. Dessen war er sich sicher.
Schließlich erreichte er die Stelle, wo sich die Grube befinden musste.
Sie war nicht da.
Doch sie war da gewesen.
Dunkle Erde voller Traktorspuren bedeckte die Stelle. Der Geruch von Erde und Dieselabgas hing in der Luft. Die Traktorspur führte von dieser Stelle mitten durch das Feld.
Er folgte ihr durch die Maispflanzen. Es ging kein Lüftchen, nur er raschelte an den Blättern der mannshohen Stauden. Schließlich erreichte die Spur den Rand des Ackers. Eine Landstraße bildete die Grenze und verschluckte die Traktorspur. Ein paar Meter noch sah man Bröckchen von Erde auf dem Asphalt, dann nichts mehr.
Kai folgte der Straße – es war die, die zum Tempel führte.
Als er dort ankam, setzte er sich auf die Motorhaube seines Golfs und rieb sich über die kurzen blonden Haare. Er fühlte, wie sich sein Brustkorb zusammenzog und ein Schluchzen seine Kehle zittern ließ. Tränen rannen ihm über die Wangen. Er sah sich noch einmal um, sah die alte Maschinenhalle, sah die zerborstenen Fenster und die verrosteten Tore. Er rutschte von der Haube und trat mit dem Fuß gegen ein Vorderrad seines Autos. „Aaaaaah!“, schrie er wie ein Wahnsinniger. „Es ist nicht … wahr, nicht wahr, nicht wahr“, murmelte er vor sich hin wie ein Mantra, als er einstieg und losfuhr.
Nicht wahr, nicht wahr, nicht wahr …
Einen Kilometer vom Tempel entfernt versperrte ihm ein Traktor den Weg. Kai sah mehrere Männer davor stehen. Mit quietschenden Reifen blieb er stehen – in sicherem Abstand. Er öffnete die Autotür nur halb und lehnte sich nur ein Stück hinaus.
Einer der Typen trat vor. Er war etwa Mitte Vierzig, hatte eine Stirnglatze, sehr kurzes graues Haar, und trug einen feinen Anzug. Auf seiner Nase saß eine altmodische Hornbrille mit dicken Gläsern.
„Guten Tag. So lernen wir uns also kennen. Wenn ich mich kurz vorstellen darf: Dr. Heinz Schabowski. Ich dachte mir schon, dass Sie keine Ruhe geben werden …“
„Sie Mistschweine … es ist alles wahr … oder etwa nicht?“, schrie Kai.
Dieser Doktor lächelte. „Sehen Sie … Herr Wiese, hätten Sie sich von Acker gemacht, wäre alles in Ordnung gewesen … Wer glaubt schon einem wie Ihnen, einem Drogenkonsumenten … jemand, der an Ufos glaubt und Reinkarnation und all diesen Scheiß, wer sollte Ihnen glauben, häh? Aber der Herr Wiese muss natürlich weiter rumschnüffeln. Es reicht ihm nicht, dass er davon gekommen ist, denkt wohl, er ist was Besonderes …“ Schabowskis Stimme klang in Kais Ohren wie Glassplitter, die über einen Spiegel kratzen. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. „Aber er ist nichts Besonderes, der Herr Wiese. Er ist ein Nichts, ein Niemand. Ein kleiner Wixer, der in der Scheiße von anderen Leuten rumrühren muss, weil er selbst nichts gebacken kriegt. Ist es nicht so? Die Typen, die zu unseren Meetings kamen, die waren alle so. Schlaffis, die gern mal wieder gefickt hätten … aber keinen hochkriegten.“ Schabowski sah sich zu seinen beiden Leuten um und nickte ihnen zu.
Kai sah, dass sie ihren Hund dabei hatten.
Der Doktor wandte sich wieder in Kais Richtung. „Tja. Pech gehabt. Wir, das heißt ich, Erich und meine Leute hier, wir machen dich jetzt fertig. Du wolltest es ja nicht anders. Wir lassen dich verschwinden … wie die anderen kleinen Arschlöcher.“
„Das werden Sie nicht!“, schrie Kai. Er zog den Kopf ins Wageninnere, schlug die Tür zu und fuhr los. Die Reifen quietschten. Der Geruch verbrannten Gummis stieg ihm in die Nase. Auf Schabowskis Gesicht zeigte sich Erstaunen. Keiner der drei bewegte sich. Offenbar hatte er sie so überrascht, dass sie unfähig waren, zu reagieren. Lediglich Erich, der Hund, verkroch sich unter den Traktor.
Und dann krachte sein Golf in die Kerle. Die Front des Autos traf Schabowski als ersten und schleuderte ihn von der Straße. Die anderen beiden wurden zwischen Auto und Traktor eingeklemmt. Blut spritzte auf die Windschutzscheibe.
Kai setzte seinen Wagen zurück. Einer der Vorderreifen schrammte am Blech des Kotflügels und erzeugte ein schabendes Geräusch. Der Hund jaulte, war aber unverletzt.
Kai lehnte sich aus der Seitenscheibe. Die beiden Typen waren zu Boden gesackt und rührten sich nicht mehr. Die Motorhaube des Traktors war blutverschmiert.
„Du kleine Mistratte … du hast mich erwischt … du hast mich tatsächlich erwischt.“ Schabowski kroch auf die Straße. Seine Brille war zerbrochen, eines der Gläser fehlte ganz, das andere hatte einen Sprung. Langsam stand er auf. Er blutete aus Schürfwunden an den Händen und aus einer tiefen Platzwunde an der Stirn. Er starrte durch die Autoscheibe. „Du Drecksack … das war dein Todesurteil … ich habe Freunde, die machen …“
Kai gab noch einmal Gas. Schabowski prallte auf die Motorhaube, rollte über die Scheibe und über das Autodach, und fiel hinten auf die Straße.
Kai fuhr weiter. Er sah noch einmal in den Rückspiegel. Schabowski rührte sich nicht.
Diesmal musste man ihm glauben. Er hatte Beweise. Sie klebten überall an seinem Auto.