- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
Der Test
Der rote VW-Käfer bog in die belebte Geschäftsstraße und verschwand in der nächsten Tiefgarage. Beatrice Kellermann lenkte den Wagen auf ihren Stellplatz. In dem Licht der Scheinwerfer wurde an der Wand ein Schild sichtbar: Praxis Dr. Kellermann, Psychologin.
Hohe Absätze klackten, als Beatrice auf den Lift zuging. Im fünften Stock stand die Tür zu ihrer Praxis halb offen. Mara, die Sprechstundenhilfe, hatte den Telefonhörer am Ohr und machte sich Notizen. Sie sah kurz auf und winkte Beatrice zu, die ins Sprechstundenzimmer ging. Auf ihrem Schreibtisch lagen Karteikarten für die Vormittagstermine. Beatrice zog ihren weißen Kittel über, studierte die erste Karte. Winfried Schmidt, 28 Jahre alt. Seine Firma schickte ihn vorbei. Beatrice sollte herausbekommen, ob er für eine Position als Vorarbeiter in der Strickwarenfabrik geeignet war.
Beatrice blickte aus dem Fenster. Keine einzige Wolke trübte den Himmel. Ein silbrig blinkendes Flugzeug zog einen Kondensstreifen hinter sich her. Das richtige Wetter, um mal wieder auszuspannen, dachte sie. Ich bin reif für den Urlaub.
Stimmen im Empfangsraum, dann öffnete sich die Tür. “Herr Schmidt, Frau Doktor.”
“Danke Mara. Bitte nehmen Sie Platz Herr Schmidt.”
Der Mann setzte sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch.
“Sie wissen, warum Sie hier sind, nicht wahr?” Sieht der Mann blendend aus. Beatrice rutschte unruhig in ihrem Sessel hin und her. Wie George Clooney, nur jünger. Athletische Figur, Schwarze Haare, fast quadratisches Gesicht, voller Mund und dann diese Augen, diese blauen Augen. Beatrice konnte ihren Blick nicht von ihnen lösen.
“Ich soll von Ihnen überprüft werden, ob ich als Vorarbeiter in der Strickwarenfabrik geeignet bin.”
“Ja, das stimmt. Ich möchte einige Tests durchführen, um Charakteristika Ihrer Persönlichkeit zu ermitteln.”
“Was sind das für Tests? Muss ich mich dabei ausziehen?”
“Um Gotteswillen,” lachte Beatrice. Leider nicht. Sie wurde gewahr, wie sie nervös mit den Fingern auf der Schreibtischplatte trommelte. “Ich bin kein Mediziner. Ich will Ihnen gleich sagen, was ich nicht mache. Z.B. graphologische Analyse. Das ist reiner Humbug.
Das, was ich mit Ihnen machen möchte, sind der Rorschach Test und der TAT, der Thematische Apperzeptionstest. Herr Schmidt, bitte legen Sie sich dort auf die Liege. Ich möchte, dass Sie sich vollständig entspannen.”
Beatrice deutete auf eine schwarze Lederliege, die auf einem chromblitzenden Gestell ruhte. Sie griff nach einem Stapel Papier mit Tintenklecksen, schob einen Stuhl dicht an die Liege heran, setzte sich und reichte Schmidt den ersten Zettel.
“Herr Schmidt, was sehen Sie in dieser Figur?”
Schmidt blickte unverwandt auf ihre Beine, auf ihren weißen Kittel, auf ihr Gesicht, dass sich unter seinem Blick leicht rötete. Er sah auf den Zettel, dann wieder auf ihre Beine.
“Ich sehe ein paar wunderschöne Frauenbeine, Doktor.”
“Blicken Sie auf Ihren Zettel, Herr Schmidt. Was sehen Sie da?”
“Ich sagte es bereits. Ein paar wunderschöne Frauenbeine, Doktor.”
Beatrice gab ihm den nächsten Zettel.
“Und hier?”
“Eine junge Frau in einem weißen Kittel. Der schwarze Klecks hier ist die Frau selbst, und das Weiße drumherum ist der weiße Kittel. Die Frau ist atemberaubend attraktiv. Und das hier unten, das sind ihre wunderschönen Beine, Doktor.”
“So, hier ist die nächste Figur. Was entnehmen Sie daraus, Herr Schmidt?”
“Das, was hier aussieht, wie ein einziger Klecks, Frau Doktor, sind wir beide in enger Umarmung. Sehen Sie, man kann uns nicht mehr auseinanderhalten.”
“Hören Sie auf, Herr Schmidt. Ich sehe schon, der Test hat bei Ihnen keine Aussagekraft.” Beatrice erhob sich verwirrt. Ihr war heiß geworden. Sie zog ihren Kittel aus und warf ihn auf den Schreibtisch.
“Ich ahnte, dass Sie attraktiv sind, Frau Doktor. Aber das übertrifft alle meine Erwartungen.”
Beatrice versuchte Haltung zu bewahren und griff nach einem Stapel Karten.
“Wir machen jetzt den Thematischen Apperzeptionstest. Ich zeige Ihnen Karten, die Figuren enthalten und Sie erzählen mir, was diese Figuren machen und denken.”
Die erste Karte, die Beatrice Schmidt gab, zeigte einen Jungen mit einer Violine.
“Das ist klar. Der Junge mit der Violine denkt, wäre die Violine doch eine Frau. Ich würde alle Saiten in ihr erklingen lassen.”
Wortlos reichte Beatrice Schmidt eine weitere Karte mit einer erregten Frau, deren Hand eine offene Tür umklammerte.
“Das sind Sie, Frau Doktor, nachdem ich gegangen bin.” Schmidt lächelte ihr zu und gab die Karte zurück.
“Und diese Karte?” fragte Beatrice mit zitternder Stimme.
Die Karte war vollkommen leer.
“Das sind wir beide in wilder Umarmung unter Ihrem weißen Kittel, Frau Doktor.”
Einige Tage später erhielt das Textilunternehmen einen Brief von Dr. Kellermann mit dem Untersuchungsergebnis. Winfried Schmidt war als Vorarbeiter ihrer Strickwarenfabrik ungeeignet. Die Personalabteilung versuchte Schmidt telefonisch zu erreichen, um ihn über das Ergebnis zu unterrichten. Es nahm niemand ab; er befand sich mit Frau Dr. Kellermann auf den Kanarischen Inseln und spielte Violine.