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Der Test
Ich wartete schon fast eine Stunde in dieser dunklen Kneipe auf Luigi. Wir sind Brüder, doch so verschieden, wie Geschwister überhaupt sein können. Er, der kraftvolle Machtmensch, ich, der arme Autor und Verleger. Nie war es mir gelungen, mich gegen ihn durchzusetzen, oder ihm gar meine Meinung über sein Verhalten auch nur in Andeutungen zu sagen. Endlich - Luigi war gekommen und ging geradewegs auf mich zu: „Was willst du?“ Wahrscheinlich dachte er an Geld, schon oft hatte ich bei ihm Schulden gemacht. Nein, diesmal nicht. „Ich habe dir etwas mitzuteilen.“ Mein Bruder runzelte die Stirn, sein linker Mundwinkel zuckte, war es Spott? Schweren Herzens reichte ich ihm ein Blatt Papier. „Hier, bitte, lies.“
Er setzte sich zu mir an den abgenutzten Holztisch, der Stuhl knarrte bedrohlich. Nachdem Luigi die Tischlampe auf seine Seite geschoben hatte, begann er fast lautlos die Lippen zu bewegen:
„Der Raum war lediglich spärlich beleuchtet, deshalb konnte man die wertvolle Renaissanceeinrichtung kaum sehen. Ein Gemälde von Masaccio jedoch war schwach zu erkennen. In einem schweren, reich ornamentierten Sessel saß ein gebrechlich wirkender Mann, mit auffallend selbstbewussten Gesichtszügen.
Der betagte Herr sprach mit rauer Stimme, es blieb verborgen, an wen er seine Rede richtete.
‚Trauert nicht um mich, wenn ich bald sterbe. Mir bleibt dadurch manches erspart. Ob mich meine Krankheit oder das Alter letztlich besiegt, ist egal. Natürlich hätte ich den Nachwuchs unserer Familie gerne weiterhin betreut, ihm vermittelt, was Unrecht und was Recht ist. Unser Recht. Nun - ohne Regeln kommt keine Gesellschaft aus, aber warum bilden sich die Mächtigen ein, dass ausschließlich sie Richtlinien festlegen können? Waren die Führenden nicht trotz allem bereit, mit mir zu kooperieren, wenn es der Stärkung ihrer Stellung diente?
Wer würde wagen, mir Vorwürfe zu machen? Ein Priester vielleicht? Ich habe keine Angst vor dem Tod, werde zu dem Gott beten, an den ich nicht glaube. Muss er mir nicht vergeben? Seht meinen Wohlstand, meine große Macht. Bin ich nicht gesegnet? Ich habe nie getötet. Dafür hatte ich willfährige Leute, die nie ‚Nein’ sagten. Die wussten, was Treue ist. Gut - ich habe meine Frau betrogen, entgegen meinem Gelöbnis. Sie hätte mich nicht ausspionieren sollen, dann wäre sie weiterhin in Unwissenheit glücklich gewesen.
Ich bin so, wie ich bin, hatte nie die Chance, mich der Gesellschaft anzupassen. Muss Gott mir nicht vergeben? Schließlich gebe ich dem Allmächtigen die Möglichkeit, seine Gnade an meiner Person zu beweisen. Wenn alle gehandelt hätten, wie ich, wäre mein Tun gesellschaftliche Norm. Eine Selbstverständlichkeit, und deshalb richtig. Wie wollt ihr festlegen, was gut ist? Ist etwas schon deshalb gut, wenn es alle tun, oder einen Nutzen hat? Mir hat vieles genutzt, weil es anderen geschadet hat. Warum hätte ich mich zurückhalten sollen? Ich habe noch Anweisungen für euch. Auch für dich, Veritano und dich, Justiziano.’
Die Stimme des Mannes wurde immer schwächer. Doch das war unwichtig. Schon sehr lange war niemand mehr in dem dunklen Raum, nur er, allein mit sich selbst.“
Luigi schaute mich drohend an. „Wer ist der Alte?“ Ich versuchte seinem Blick auszuweichen. Er ging zur Tür, ganz ohne Hast. Eine Antwort war nicht nötig.