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Der Therapieraum

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14.08.2005
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Der Therapieraum

Ich stehe im Hinterhof herum und warte gespannt auf die Resonanz der Anzeigen in den Tageszeitungen, „Zusammen schaffen wir Veränderung“ und darunter in dicken Lettern Anschrift und Kontaktperson, nehme einen letzten tiefen Zug an meiner Zigarette und öffne die rote Holztür. Die neuen Gesichter blicken mich lächelnd, aber leicht ängstlich an, ungewiss, ob sie ihre Entscheidung, an einer Gesprächsrunde teilzunehmen, bereuen oder beglückwünschen werden. Ich schenke ihnen ein sanftes Lächeln, wie man es aufsetzt, um die Atmosphäre zu lockern, nicke ihnen der Reihe nach zu. Sie erwarten wohl ein paar Worte zur Begrüßung, in der Annahme, ich sei der Therapeut, weil ich schließlich als letzter Teilnehmer den Raum betreten hatte. In der Mitte, zwischen Lucy und May, sitzt breitbeinig ein leicht untersetzter Inder, der immerzu in höhnisches Lachen verfällt, wenn eine der Frauen zu erzählen beginnt. May versucht den teilnehmenden Süchtigen zu imponieren, indem sie von einer Methode erzählt, die ihr zunehmend hilft, ihre Angstzustände zu überbrücken. Sie macht keinen Hehl daraus, redet nicht um den heißen Brei, sie sagt es voller Temperament und Selbstbewusstsein, schleudert es nur so in die Stille des Raumes, kein verlegenes Nuscheln, kein Gekicher. May sagt, sie scheißt sich regelmäßig ins Maul. May sagt, wenn man den Hals voll hat, kann einen nichts mehr umwerfen. Der Inder, von dem niemand weiß, an welcher Krankheit er leidet und über den die kuriosesten Gerüchte umgehen, von Simulant und Hypochonder bis hin zu Kinderschänder und Schizophrener, fällt vor lachen von seinem Stuhl herunter, kringelt sich auf dem Boden und hält sich den Bauch, so dass der Rest der Gruppe kurzzeitig befürchtet, der Inder würde jeden Moment ersticken. May lehnt sich entspannt in ihren Sessel zurück, ihr Mitteilungsbedürfnis ist für heute befriedigt. Ein kleiner gelber Ball wird vom Selbsthilfegruppenleiter weitergereicht an die korpulente Frau im Regenmantel. Ihr Gesicht ist uns neu, die Gruppe schenkt ihr trotzdem volle Aufmerksamkeit. Sie behauptet, für die Regierung zu arbeiten, und möchte aus Personenschutzgründen anonym bleiben, trägt ihre gewaltigen, hypnotischen Brüste wie einen Schutzwall vor sich, als sie hinter der dunklen Sonnenbrille die Augen schließt und zu erzählen beginnt. Niemand aus der Gruppe leidet so stark, dass er sich nicht selbst heilen könnte, je mehr ich darüber nachdenke, fühle ich mich wie das gelangweilte Publikum einer muslimischen Freakshow. Frau Anonym beteuert es, jahrzehntelang für das weiße Haus gearbeitet zu haben, unser Inder unterbricht ihre Lügenmärchen, indem er schlagartig aufspringt, sie als Fickschädel beschimpft und ihr von der Seite ins Gesicht spuckt. Sein Gebrüll erinnert mich von der Akustik her an einen angeschossenen Gorilla, viele psychische Krankheiten werden von Störungen der kognitiven Funktionen begleitet. Manche sind fest davon überzeugt, dem Inder ein Tourettesyndrom attestieren zu müssen, auf mich wirkt er mehr wie ein zwangsgestörter Junkie, der nach Aufmerksamkeit schreiend gegen Mauern rennt.
Das einzig nützliche, was den Inder erträglich macht, ist seine Norkolepsie, die ihm regelmäßiges Muskelversagen einbringt. Nachdem er zusammengeklappt ist, gibt unser Gruppenleiter den gelben Ball weiter an ein junges Mädchen, das zusammengekauert auf ihrem Stuhl hängt und schüchtern dreinblickt. Die Gesichtsmuskeln des Inders gewinnen wieder an Spannung, erwachen aus ihrer Schlaflähmung, und er spuckt nach dem Mädchen und beschimpft sie als deformiertes Monstrum, May und die anonyme Frau lassen sich von der Stimmung mitreißen, und während Miss inkognito das junge Ding als dreckige Denunziantin und Spitzel beschimpft, reißt May ihre Hose zu Boden und klemmt die Beine hinter den Kopf.

Die Therapiesitzungen sind meist der Höhepunkt meines Tages und die einzige Zeit, in der ich mich nicht unnütz fühle. Wenn ich nicht teilnehme, klingelt das Telefon auf der Kommode in meinem Zimmer, auch wenn ich nicht unentbehrlich für den geregelten Ablauf bin, vermisst man mich, zumindest spüren sie meine Abwesenheit.
Im echten Leben könnte ich mit einem Panzer durch die Innenstadt rollen und Warnschüsse abgeben, man würde mich nicht beachten. Mein Gedächtnis lässt mich zunehmend im Stich, es fällt mir schwer, mich auf eine bestimmte Sache zu konzentrieren. Ich bin die Null im Zahlensystem, ohne folgeschwere Auswirkungen wenn man mich zu einer Menschenmenge hinzuaddiert, füge aber auch keinen Schaden an. Irgendwo in diesen maroden Zimmern muss ich doch die Kaffeefilter hingelegt haben. Es ist nicht so, als würde es mich persönlich treffen, ein Anachronismus der Stunde Null zu sein, vielmehr bedauere ich meine Existenz wegen den Umständen, die sie zur Folge hat. Wenn dir entfernte Bekannte auf dem Nachhauseweg aus ihren Autos zuwinken, winke ich lächelnd zurück. Mit der Zeit kommt die Gewohnheit, und ich muss mich damit abfinden, dass sie mich niemals einsteigen lassen und nach Hause fahren würden, obgleich die Strecke mit der meinen identisch ist. Zu Fuß zwei Hände voll Einkaufstüten vom Supermarkt aus bis zu mir nach Hause zu schleppen, kein Problem, schließlich liegt mir viel an meiner körperlichen Fitness und sonst arbeitet der Kerl doch nichts. Sie würden sich nicht wundern, wenn ein vierundzwanzigjähriger erwachsener Mann Kaffee aufsetzt. Vielleicht tun sie es, wenn ich Ihnen erzähle, dass es mittlerweile halb drei Nachts ist.

Manchmal traf es sich ganz gut, unbedeutend zu sein, und obwohl ich jede Teilnahme an dem Leben, dass die Mehrheit reell nannte, verweigerte, nahm ich mir vor, mich in Zukunft öfter sportlich zu verausgaben. Eigentlich lag mir nichts an körperlicher Fitness, aber die Gedanken in meinem Kopf wurden von Tag zu Tag verstörter und ich nahm an, sie auf diese Weise loszuwerden. Ich öffnete die Luke zum Dachboden und stieg hinauf. Jeder meiner Schritte warf Staub auf, ich musste so stark husten, dass mein Bauch sich verkrampfte und ich zu Boden fiel. Das muss wohl Schicksal gewesen sein, jedenfalls standen genau vor meiner Nase zwei verschiedenfarbige, aber gleichgroße Turnschuhe. Ich probierte sie an, und sie passten mir ausgezeichnet, bis auf ein paar Löcher waren sie noch gut erhalten.
Ich ging also raus auf die Straße, hinüber zur Kirche und am Spielplatz vorbei, bis ich im Wald angekommen war, und begann, zu laufen. Nach dem elften Schritt stockte mir der Atem, ich bekam Seitenstechen und schnappte nach Luft. Zum Glück hatte ich mitgedacht und für diesen Fall vorgesorgt, in meiner Trainingsjacke steckten Feuerzeug und eine Schachtel selbstgedrehte Zigaretten. Ich saß auf diesem feuchten Baumstamm und rauchte vor mich hin und dachte an nichts. Die Welt brannte nicht mehr, sie loderte nur noch.

 

Hallo jesus!

Also deine geschichte finde ich gut, aber traurig statt lustig. Über so kranke Menschen darf man nciht lachen und über das elende Leben des Helden kann man es nicht. Die Geschichte ist einfach frustrierend. Sie zeigt ein aussichtsloses und absurdes Dasein, kein Leben, bloß Existenz.

gruß
Roland

 

Sorry, ich habe da was durcheinander gebracht... die Story sollte eigentlich unter "Gesellschaft", jeder der sie genauer unter die Lupe genommen hat wird schon wissen, warum.

@Roland von Gilead: Vielleicht hast du mal was von Chuck Palahniuk gehört? Über den darf man auch nicht lachen, tut es aber trotzdem, gerade deshalb, weil er so genial ist.

 

Hallo roadkill_jesus,

das Geschehen im Therapieraum könnte sich so abspielen. Die Gruppendynamik kommt sehr gut rüber. Auch der Stil gefällt mir.

"Brennen" und "lodern" ist dasselbe. Den letzten Satz könntest Du überhaupt weglassen.

Der Text enthält kleine Fehler wie diese:

...vielmehr bedauere ich meine Existenz wegen den Umständen, die sie zur Folge hat. Wenn dir entfernte Bekannte auf dem Nachhauseweg aus ihren Autos zuwinken, winke ich lächelnd zurück.

wegen der Umstände
mir
usw.

Aber das sind Nebensächlichkeiten. Mich hat der Text berührt, weil er vermittelt, wie ein "Ich" sich fühlen kann, wenn es ganz unten ist, wenn der zähflüssige Alltag trotzdem weitergeht, und die Fähigkeit zu beobachten sich entwickelt. Du schaffst es, den Leser in diesen Menschen hineinzuführen, und mit ihm fühlen zu lassen. Der Hauptgrund für das bisheriger Ausbleiben freundlicher Reaktionen ist sicher, dass die Stimmung, in die Du uns auf diese Weise versetzt, so gedrückt ist. Aber auch über so etwas muss man schreiben!

Ich muss den Anderen widersprechen: Ein starker Text!

Freundliche Grüße,

Fritz

P.S.: Deinen Nickname finde ich albern. Noch alberner als meinen ;)

 

Ich bin von der Geschichte erstmal verwirrt. Finde sie aber schön eschrieben, und gerade die letzten Sätze erinnern mich irgendwie an so ein schönes Film-happy-end. Es geht noch im Hintergrund die Sonne unter und dann sagt eine Stimme aus dem Off "Malboro weckt den Mann in dir".
Nein, mal ernsthaft: Ich denke man darf über alles lachen- solange man den Respekt nicht verliert.

 

DerGuteFritz hat den Text verstaaaaanden ;)
Zu meiner Verteidigung (Den Rechtschreibefehlern wegen) muss ich aber sagen, dass ich meistens unter Alkoholeinfluss schreibe, am frühen Morgen nach durchzechter Nacht...
Ach ja, mein Nickname ist ein Charakter von Chuck Palahniuk, ich wollte damit keine (blasphemische) Stellung beziehen ;)

 

Hey Jesus,

von Chuck Palahniuk habe ich vorher noch nie gehört. Es scheint ein paar gute Fan-Seiten über ihn zu geben, mit Schreibtipps u. dgl.

Ich denke mal, Gott wird Dir verzeihen, dass Du unter seinem Namen auftrittst :)

Fritz

 

Hallo roadkill,

ich gebe zu, dass deine Geschichten bei mir immer auf einen inneren Widerstand stoßen. Das spricht im Zweifelsfall für sie. Bei dieser störte mich die übertriebene Patientenschilderung einer Gruppentherapie. Vielleicht einfach deshalb, weil ich den Umgang von Patienten anders, nämlich offener und vorurteilsfreier erlebt habe, als du ihn beschreibst.
Auch komme ich nicht hinter den Sprung aus der Stunde zum Selbst des Patienten. Es wird klar, dass er sich in den Stunden anwesend fühlt. Das kann auf eine Anwesenheit in sich selbst deuten, die ihm im realen Leben abhanden gekommen ist und die er als "Nullnummer" erlebt, so als fehlte er auf den Fotos, die von ihm und seiner Umgebung gemacht werden.
Dieses Gefühl kann brennen, kann auch aggressiv machen oder verzweifelt. Die Anstrengungen etwas zu spüren, werden erhöht.

Meintest du Narkolepsie als Leiden deines Inders? Google findet unter Norkolepsie Seiten zum Haarausfall.

Manche Bilder verstehe ich nicht. Was unterscheidet eine muslimischen Freakshow von einer anderen Freakshow? das Adjektiv erscheint mir hier nur für Fremdenhass tauglich.

fällt vor lachen von seinem Stuhl herunter,
vor Lachen
Das einzig nützliche, was den Inder erträglich macht,
ist nützlich nicht völlig überflüssig?

Lieben Gruß, sim

 

Right, right, right. Dankeschön!

"Die Anstrengungen etwas zu spüren, werden erhöht."
Kernpunkt fast jeder meiner Geschichten ist genau dieses Gefühl, voller Verzweiflung nach irgendeiner Bestätigung zu suchen, nach einem Gefühl, das dir sagt "Du bist noch am leben."

 

Hallo roadkill_jesus!

Der zweite Teil Deiner Geschichte hat mir recht gut gefallen, seine Einsamkeit und das Gefühl der Nutzlosigkeit kommen da schön heraus.
Aber die übertriebene - unrealistische - Beschreibung der Gruppentherapie fand ich eher abstoßend.
Im Gegensatz zum zweiten Teil, der absolut den Eindruck einer ernsten Geschichte macht, fällt dieser erste Teil doch arg aus dem Rahmen. Gibt es einen Grund, warum Du die Beschreibung dieser Therapie gar so übertreibst?

Zu meiner Verteidigung (Den Rechtschreibefehlern wegen) muss ich aber sagen, dass ich meistens unter Alkoholeinfluss schreibe, am frühen Morgen nach durchzechter Nacht...
Da hab ich noch einen Geheimtip für Dich: Du könntest die Geschichten erst einmal speichern und in nüchternem Zustand noch einmal anschauen, bevor Du sie postest... ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

*gg* danke liebe Susi :)
Ehrlich gesagt versuche ich meistens, den trockenen ernsten Kern einer Geschichte dem Schutz des Selbstoffenbarung wegen durch dieses postpubertäre Gemetzel ins Lächerliche zu ziehen. Das ist also hunderprozentig so gewollt, nur gelingt es mir noch nicht so gut wie ich es gerne hätte... naja, üben üben üben :)

lg

 

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