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Der Tod im Paradies
Vor langer Zeit gab es, abseits eines kleinen Dorfes, das von nur hundert Bewohnern besiedelt wurde, einen Hügel, der sich weit über das grosse Feld erstreckte. Am höchsten Punkt des Hügels gab es eine alte holzerne Bank, von der man das mit verschiedenst farbige Blumen - von Lilien hin bis zu Wildrosen- versehene Feld betrachten konnte. Es war eine herrliche Aussicht, fast schon traumhaft. Der Weg dahin war aber voller Hindernisse; man kam verwundet und bis zu den Knien blutend an. Es gab eigentlich gar keinen Weg zum Hügel und vom Aussichtspunkt wusste weit und breit auch kein einziger Dorfbewohner, denn der Wald drum herum war so dicht, dass keine Menschenseele auch nur einen Schritt in das gefährlich aussehende Dickicht wagte. So vergingen viele Jahrzehnte, ohne dass jemand von diesem märchenhaften Ort erfuhr.
Zu jener Zeit war ein Kindlein geboren, das schon bald ganz fürchterlich krank wurde, ohne Aussicht auf Heilung. Die Mutter weinte, der Vater trank, und nur das Schwesterlein vermochte nicht aufzugeben und suchte nach Heilkräutern, in der Hoffnung, dass ihr geliebtes Geschwisterchen noch alt und grau werde. Als sie eines Nachts verschwitzt und entgeistert aufwachte, weil ein Engel sie erleuchtet habe, lief sie auf der Stelle zum Feld und riss die wunderschönen Blumen weg und nahm ihnen somit das kostbare Leben, das fortan im Körper des gebrechlichen Geschwisterchen gedeihen sollte. Nun geschah das Wunder, von dem alle glaubten, niemals wahr zu werden, und die neue Lebensenergie erfüllte das Kindlein von neuem, wie eine blühende, strahlende Blume. Aber wie ein Leben gerettet wurde, musste ein anderes aufgegeben werden, und noch das des geliebten und klugen Schwesterlein, das die Hoffung immer in sich trug und sich der Verzweiflung nicht hingab. Das Wunder sprach sich im Dorf rum und alle bestanden darauf, dass das Schwesterlein eine böshaftige Frau sei, die die Quelle der schwarzen Kraft kenne, und dafür Menschenleben geopfert habe.
Das Schwesterlein oder das ``Hexchen`` musste sobald wie möglich fliehen, denn die unruhigen und gehetzen Dorfbewohner hegten einen Groll gegen das unschuldige Mädchen. Sie verabschiedete sich von der weinenden Mutter, von dem aus Kummer trinkendem Vater und gab ihrem Geschwisterchen einen Kuss auf die Nase, der es vor jeglichem Kummer und Sorgen im Leben befreien sollte. Als es dunkel wurde, nahm sie einen ungewöhnlichen Weg und hatte keinen Mut dazu, sich umzudrehen und sich ihr geliebtes Häuschen noch einmal anzusehen. Als ihr Körper nach langem Laufen erschlaffte und sie nicht mehr auf den Beinen stehen konnte, schlief sie auf dem Blumenfeld ein und vergass wovor sie eigentlich floh.
Ein Ritter, der nachts auf Wachpatroullie war, entdeckte das kleine, einsame Mädchen, das in der Kälte erfroren sein müsse. Als er von seinem Pferde abstieg und zu ihr eilte, um nachzusehen wie es um ihr Leben stand, kniete er sich neben ihr hin und versuchte vergebens, sie wachzurütteln. Er sah in ihr Gesicht, das von der Kälte ganz dunkel geworden war, und ihm war sofort bewusst, er müsse das Mädchen retten und sie in sein Häuschen tragen, damit sie aus ihrem Tiefschlaf erwachte. Ihr kleines Herz schlug noch ganz leise und langsam, was ein Zeichen auf Leben deutete. Drei volle Tage vergingen und sie erwachte immer noch nicht aus ihrem Schlaf. Er bereitete ihr immer das Essen vor, bevor er sich auf dem Weg zu seinem Dienst machte, in der Hoffnung sie würde ihre Augen schon bald öffnen und zu sich kommen. Als er den Vorgang am vierten Tag wiederholte und sich seiner Arbeit widmete, wachte sie endlich auf und war ganz verwirrt. Ihr war unwohl zumute. Sie konnte sich von den gefühlt hundert Decken, mit denen sie wie ein kleines Kindlein zugedeckt und eingehüllt war, nicht befreien. Nach hartnäckigem Versuchen, gelang es ihr schliesslich und sie sah sich verblüfft um. Ihr fiel der zugedeckte, kaputte Tisch auf und sie wunderte sich über diese freundliche Geste, doch nahm nichts zu sich.
Als sie sich auf dem Weg machen wollte, weil sie die Angst bangte, ihr unbekannter Retter würde sich noch über ihre Identität ausfindig machen und sie den Dorfbewohnern ausliefern, klopfte es heftig und impulsiv an der Türe. ,, Öffnen Sie die Türe, wir durchsuchen jedes Haus auf unerwünschte Hexen``, rief eine raue und angsteinflössende Stimme. Sie musste sich entweder für die erbärmliche Flucht oder den grausamen Tod entscheiden. So tat sie ersteres und ergriff die Flucht, indem sie den kleinen, zerbrechlichen Nachttisch an die Wand schob und von dort aus mit Mühe versuchte, aus dem Fenster zu klettern. Als sie auf die harten Steine fiel und ihr ein kurzer Schrei entwich, konnte sie noch hören, wie die Türe eingerammt worden ist und der Unbekannte laut zu fluchen began. Von der Angst paralysiert, sass sie auf dem Gras hinter dem Häuschen, bis sie die fürchterlich fluchende Stimme in ihrer unmittelbarer Nähe hören konnte und sie sich somit aus dem Staub machen musste.
Sie rannte den Waldweg so schnell sie konnte und ohne sich einmal umzudrehen, um abzusichern, ob der Unbekannte sie verfolge. Sie hörte nicht auf, obwohl sie vor Schmerz hätte schreien können. Von der Ferne brannten Lichter, stellte sie nach kurzer Zeit fest. Sie musste sich von der Zivilisation so weit wie möglich entfernen, also beschloss sie, umzubiegen. Sobald sie rennend abbog, fiel sie dem Ritter, der sich gerade auf dem Nachhauseweg befand, ungewollt in die Arme. Sie versuchte sich unauffällig zu benehmen und ihre Angst wegzuspielen. ,, Entschuldigen Sie´´, murmelte sie mit zerbrechlicher Stimme, in der sich eine leichte Spur von Angst befand. ´´Ich hbe es eilig.Ich habe, ich habe noch was im Dorfladen zu erledigen´´, log sie stotternd. Er packte sie am Arm; ihm war natürlich bewusst, dass sie log, denn um zum Dorfladen zu gelangen, müsse man in die andere Richtung gehen. Er sah sich nachdenklich ihr Gesicht an und erkannte ihre hellen Haare und die Narbe an ihrer Schläfe, die er jede Nacht geküsst hatte, weil er sie lieb gewonnen hatte und auf sie aufpassen wollte. Er fühlte sich nicht mehr so einsam und allein, wie er sich ansonsten als Waisenkind immer fühlt, so ganz ohne Mutter und Vater, ohne Bruder und Schwester, so ganz ohne Familie. Ausser die tiefgrünen Augen, die stetig geschlossen waren, erkannte er alles an ihr wieder. Er nahm sie in die Arme und sagte erleichtert: ,, Ich dachte, du würdest nie wieder das Sonnenlicht sehen können!`` Noch bevor sie fragen konnte, wer er überhaupt sei, kam ihnen eine Herde voller Menschen, mit Mistgabeln in den Händen tragend, entgegen. Sie wusste, nun stehe ihr Untergang bevor. ,, Ich muss fort, lassen Sie mich bitte los``, erwiderte sie nach kurzem Schweigen. Sie rannte ohne zu zögern den Weg zurück und schaute auch dieses Mal dabei nicht zurück.
,,Verbrennt die Hexe``, hörte man aus der Menschenmenge rufen, die sich dem Ritter, der verblüfft und ratlos dastand, näherte. Es gäbe keine Hexen, dachte er sich. Zumindest sei sie keine, denn er vertraute seinem Instinkt. Sie sah so unschldig und lieb aus, wie ein Engel, wie könne sie da jemandem was anhaben? Auf seinem Bauchgefühl vertrauend, rannte er ihr hinterher, denn so einfach könne er das so nicht sein lassen. Das Mädchen hielt abrupt an, als sie realisierte, dass dieser Weg zum Dorf zurück führte. Wenn sie wenden würde, liefe sie dem Tod in die Hände. So hatte sie keine andere Wahl, als sich durch das Blumenfeld durchzuschlagen und sich durch den berüchtigten Wald einen Weg zu bahnen. Der Tot wolle sie heimsuchen, egal für welchen Weg sie sich entscheide. Sie rannte in das Dickicht hinein und fing an vor stechendem Schmerz, der von den tausenden Dornen verursacht wurde, zu weinen und zu schreien.
Der Ritter sah sie in der Ferne und wusste, sie würde nie wieder zurückkehren. Als die wutentbrannten und jähzornigen Menschen ankamen und nach der Hexe fragten, log er, sie sei ins Dorf geflüchtet. Sie alle schenkten ihm Glauben und mit der Absicht fort, sie für immer zu beseitigen. Der Aberglaube überwiege der Vernunft, flüstere der Ritter. Er wollte sie nicht gehen lassen, er wollte sie noch einmal retten, weil er an Wunder wie sie glaubte. So haste er durch das Blumenfeld und hielt vor dem Dickicht an, das den Wald umhüllte, um sich das noch ein zweites Mal zu überlegen. Er sah ein Stück seines Nachthemdes, das er ihr zum Wärmen über ihr Kleid angezogen hatte, an einem Ast hängen. Ihn quälte die Angst vor seinem und vor ihrem Tod, doch er wusste, dass die meisten Ängste, die man im Leben hätte, sich nur in den Gedanken abspielen und sie in Wirklichkeit nicht existieren. So bahnte er sich ein Weg ins Ungewisse und zwang sich durch den quälenden Schmerz hindurch, bis er am höchsten Punkt des Hügels ankam; mangelnd an Kräfte und Energie. Er sah ein altes, holzernes Bänklein, von der aus man eine wunderschöne Aussicht hatte, fast schon magisch. Sowas schönes hatte er noch nie im Leben gesehen, war es das Paradies? Er fühlte, wie seine Hände zitterten, seine Beine wackelten und seine Lebensenergie immer wie mehr nachliess. Die Sonne war schon untergegangen, der Himmel nahm eine rötliche Farbe und der erste Stern war schon zu sehen. So wünschte er sich, wie man das beim Besichtigen des ersten Sterns am Himmel üblicherweise macht, dass er sie nach diesem Leben sehen könne und dass er sie hätte retten können. Doch manchmal könne man das Schicksa nicht beeinflussen, egal wie sehr man sich auch anstrengt. Ohne zu bemerken, dass das Mädchen blutend auf dem Boden lag, fiel er neben ihr zu Boden und schloss wie sie für immer die Augen.
,, Was danach geschah, das weiss man nicht. Man hat den mutigen, selbstlosen Ritter und das unschuldige, zu Unrecht bestraften Mädchen nie wieder gesehen. Doch seit diesem Tag wuchsen die schönsten Blumen auf diesem Hügel und man sagt, dass ihre Liebe den Wald besänftigt habe. Was denkst du, warum wir wohl hier friedlich auf dieser Bank sitzen und diese Aussicht geniessen dürfen?´´ fragte er mich mit einem leichten Lächeln im Gesicht. ,, Ach, ich hoffe das Mädchen und der Ritter haben nach dem Tod zueinander gefunden. So eine traurige Legende!``, erwiderte ich betrübt,, würdest du für mich auch den tödlichen Wald durchqueren, um zu mir zu kommen, und mich zu retten?´´. Er küsste meine Stirn und flüsterte: ,, Für dich würde ich alles tun, meine Liebe``.