- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Der Tod und das Mädchen
Ein kleines Mädchen steht im düsteren Zwielicht hinter einem dicken Baumstamm, halb verdeckt vom Schatten, die Hand unschlüssig auf die Rinde gelegt, so als könne es sich nicht entscheiden, ob es sich verstecken oder lieber zeigen solle. Es beobachtet fünf Gestalten, von denen vier verunsichert zwischen den dunklen Bäume hindurchstolpern. Von ihren Silhouetten geht ein merkwürdig heller, flüchtiger Schimmer aus, so als lösten sie sich jede Sekunde auf.
Die fünfte Gestalt ist hochgewachsen und vermutlich sehr schlank, doch das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, denn ihr gesamter Körper ist von einem Mantel verhüllt, der noch schwärzer ist als die Baumstämme, und die Kapuze ist tief ins Gesicht gezogen. Langsam und angemessen schreitet diese Gestalt als Schlusslicht dahin und scheint die anderen zu behüten, vor den Schatten dieser Welt und der Angst. Von ihr geht kein Schimmern aus, im Gegenteil, sie scheint alles Licht in sich aufzusaugen und in schwarzer Dunkelheit zu bannen und doch wirkt sie nicht bedrohlich. Diese Gestalt ist nur eine stumme Gewissheit, ein allgegenwärtiger Begleiter, ein dunkler Wächter.
Ein tiefer, monotoner Klang erfüllt die Luft, eine Art Summen, ist überall und nirgendwo und doch kann es nur vom Wächter kommen.
Das kleine Mädchen lehnt seine Wange an den dunklen Stamm und sieht die grauen Silhouetten vorbeiziehen. Es hält nach jemandem Ausschau. Es weiß nicht, nach wem, doch es weiß, dass es jemanden sucht, eine bestimmte Seele. Jeden Tag steht es hier und beobachtet, doch nie ist dieser jemand dabei. Und nie löst es sich von dem Baum, um sich zu zeigen und der Kolonne zu folgen.
Die vier Seelen und ihr Wächter verlassen sein Blickfeld und es weiß, dass die Schimmernden auch diese Welt bald verlassen werden. Der Wächter hingegen bleibt. Er bleibt immer, genau wie es. Sie sind dazu verdammt zu verweilen, niemals weiterzugehen, niemals etwas anderes zu sehen als das Grau dieser Welt.
Die Kleine weiß, dass sie nicht immer hier gewesen ist. Sie weiß auch, dass sie nicht hierher gehört. Aber egal, wie sehr sie sich anstrengt, egal, wie weit sie zurückdenkt, sie kann sich nur an diese farblose, graue Welt erinnern. Und an ihn, den Wächter. Manchmal sieht sie ihn lange Zeit nur aus der Ferne, doch manchmal kommt er auch zu ihr. Dann müssen die Schimmernden warten, denn seine Aufmerksamkeit gilt in solchen Momenten nur ihr. Stets schaut er sie an und sagt kein Wort, rührt sich nicht, summt nicht. Manchmal streckt er den Arm nach ihr aus, so als wolle er sie berühren, doch niemals streift der schwarze Stoff ihre Haut. Manchmal greift er lautlos in einen der beiden weiten Ärmel seines Mantels und zieht ein kleines, graues Spielzeug für sie heraus und gibt es ihr. Dabei blitzt seine weiße Knochenhand im grauen Licht auf, doch sie hat keine Angst vor ihm. Manchmal zeigt er mit einem Knochenfinger stumm in die schwarzen Wälder, doch niemals weiß sie, was er ihr zeigen will. Und manchmal legt er den Kopf schief und schaut sie einfach nur an.
Das kleine Mädchen steht noch lange so da und starrt auf den Punkt, an dem die fünf Gestalten vorübergezogen sind. Er sieht aus wie jeder andere, unterscheidet sich nicht von den vielen grauen Stellen dieser Welt und doch geht der Wächter immer wieder diesen Weg. Jede schimmernde Seele, die die Schattenwelt durchquert, passiert diese Stelle zwischen den schwarzen Bäumen in grauem Licht.
Nur das kleine Mädchen bleibt. Sein Schimmern ist schon lange verloschen.
Sie kann nicht sagen, wie lange sie noch hinter dem Baum steht und versunkenen Blickes die Umgebung betrachtet, ohne sich zu rühren, ohne zu atmen oder zu blinzeln. Doch nach einiger Zeit spürt sie die Präsenz hinter sich, die ihr nun schon so vertraut ist und die ihr Sicherheit und Wärme gibt, auch wenn sie weiß, dass die Schimmernden oft Angst vor dem Wächter haben. Aber es ist ihr Wächter. Und er hat auch einen Namen, selbst wenn er ihn niemals laut ausgesprochen hat.
Manchmal wünscht sich das Mädchen, er hätte eine Stimme. Es hat selbst seit langer Zeit nicht mehr gesprochen, aber es stellt sich gern vor, wie seine Stimme klingen könnte. In der Kleinen Gedanken hat sie einen samtenen, dunklen Ton, beruhigend und sanft. Wenn sie es sich recht überlegt, wünscht sie sich nichts mehr, als ihm eine Stimme verleihen zu können. Er könnte ihr Geschichten erzählen und von den Schimmernden berichten, die er Tag für Tag durch die Schattenwelt führt. Er könnte sie mit seiner schönen Stimme in den Schlaf singen oder einfach nur seinen Namen sagen. Natürlich weiß sie seinen Namen, auch wenn sie nicht sagen kann, woher. Sie weiß ihn einfach, so wie sie viele Dinge einfach weiß, wenn er sie anschaut. Doch mit dieser dunklen Stimme, die er in ihren Träumen besitzt, muss sich sein Name wunderschön anhören. Ewig und mächtig und tröstlich. Sein Name ist Tod.
Das kleine Mädchen dreht sich um und da steht er, schaut es stumm an, rührt sich nicht, summt nicht. Es erwidert seinen Blick, wobei es den Kopf in den Nacken legen muss, weil er es um einiges überragt. Sie stehen Minuten so da, Stunden, vielleicht auch Tage. Es kann es nicht sagen, aber es spielt auch keine Rolle.
Es sucht die leeren Augenhöhlen, die in den Schatten der Kapuze verborgen liegen, stöbert in der Schwärze nach dem knochigen Weiß eines Schädels, doch wie immer sieht es nichts. Jedoch spürt es seine Nachdenklichkeit, erkennt, wie er den Kopf schief legt und es mustert, als sähe er es zum ersten Mal. Es fühlt etwas Neues, das von ihm ausgeht, etwas, das es nicht gleich einordnen kann. Ist es Trauer? Die Gewissheit, dass manche Dinge unaufhaltbar sind?
Die Kleine öffnet den Mund, um etwas zu sagen, ihren Wächter zu trösten, doch kein Ton kommt über ihre Lippen. Sie will nicht, dass er traurig ist. Aber sie weiß nicht, wie sie ihm helfen kann. Also schließt sie den Mund wieder und erwidert stumm seinen Blick.
Er hebt langsam den Arm, sein weiter Ärmel rutscht etwas zurück und für einige Momente schwebt seine Hand vor ihrem Gesicht. Dann, ganz langsam, streckt er die Fingerspitzen nach ihr aus und kalter Knochen streift ihre Wange. Sie verweilen für einige Momente so, keiner von beiden rührt sich, doch nach einiger Zeit dreht er sich um und verschwindet lautlos im Wald. Sie fragt sich, warum es sich so sehr nach Abschied anfühlt. Die Schattenwelt währt ewig, ebenso wie der Tod und das kleine Mädchen. Niemals wird er das Grau verlassen.
Sie dreht sich wieder um und lehnt den Kopf gegen den schwarzen Baumstamm. Vielleicht kann sie ihm irgendwie eine Freude machen. Vielleicht macht es ihn glücklich, wenn sie ihm eines ihrer Spielzeuge überlässt. Er soll nicht traurig sein.
Undeutlich spürt sie die Präsenzen, als der Wächter neue Schimmernde über den Pfad führt und sie hebt den Kopf, halb verdeckt vom Schatten, die Hand unschlüssig auf die Rinde gelegt, so als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie sich verstecken oder lieber zeigen solle. Sie beobachtet fünf Gestalten, von denen vier verunsichert durch die dunklen Bäume hindurchstolpern. Von ihren Silhouetten geht ein merkwürdig heller, flüchtiger Schimmer aus, so als lösten sie sich jede Sekunde auf.
Die fünfte Gestalt ist hochgewachsen und vermutlich sehr schlank, doch das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, denn ihr gesamter Körper ist von einem Mantel verhüllt, der noch schwärzer ist als die Baumstämme, und die Kapuze ist tief ins Gesicht gezogen. Langsam und angemessen schreitet diese Gestalt als Schlusslicht dahin und scheint die anderen zu behüten, vor den Schatten dieser Welt und der Angst. Von ihr geht kein Schimmern aus, im Gegenteil, sie scheint alles Licht in sich aufzusaugen und in schwarzer Dunkelheit zu bannen und doch wirkt sie nicht bedrohlich. Diese Gestalt ist nur eine stumme Gewissheit, ein allgegenwärtiger Begleiter, ein dunkler Wächter.
Ein tiefer, monotoner Klang erfüllt die Luft, eine Art Summen, ist überall und nirgendwo und doch kann es nur vom Wächter kommen.
Das kleine Mädchen lehnt seine Wange an den dunklen Stamm und sieht die grauen Silhouetten vorbeiziehen. Es hält nach jemandem Ausschau. Es weiß nicht, nach wem, doch es weiß, dass es jemanden sucht, eine bestimmte Seele. Und es spürt, dass es endlich gefunden hat, wonach es sucht.
Einen Augenblick lang ist es wie erstarrt. Dann löst sich seine kleine Hand langsam von dem schwarzen Baum und es macht einen zögerlichen Schritt auf die Kolonne zu. Dann noch einen und noch einen. Sein Schritt beschleunigt sich, Äste zerbrechen lautlos unter seinen Füßen und schließlich rennt es. Keine der fünf Gestalten bleibt stehen, doch der Wächter dreht langsam den Kopf und sein leises, monotones Summen verstummt. Atemlos stoppt es vor den vier Schimmernden, die es verblüfft anschauen, doch seine Aufmerksamkeit gilt nur einer der Seelen. Es ist eine Frau, gebeugt von Alter und Trauer, gezeichnet von tiefen Falten jahrelanger Qual. Und doch leuchtet ihr Schimmer am hellsten und als ihr Blick das kleine Mädchen streift, weiten sich ihre Augen ungläubig und nach nur wenigen Momenten geht ihr wunderschöner Seelenschimmer auch auf ihre Augen über.
'Schwester?', formt sie mit den Lippen und ein sehnsüchtiges Lächeln stiehlt sich auf ihr faltiges Gesicht.
Langsam streckt sie die altersfleckige Hand aus und das kleine Mädchen ergreift sie, spürt zum ersten Mal seit seinem Tod die Wärme eines Menschen. Es weiß nun, wohin es gehört und sein Schimmer glimmt von Neuem auf, als es zusammen mit den anderen Seelen den Pfad durch die Schattenwelt nimmt. Sie passieren all die schwarzen Bäume, laufen durch das graue Licht dieser Welt, doch sie werden begleitet von Stille. Der Wächter bleibt stumm, während er sie sicher den Pfad entlang zum Portal führt. Sie versteht jetzt, dass er sich tatsächlich von ihr verabschiedet hat. Denn er kann ihr nicht folgen, dahin, wohin sie jetzt geht. Er ist auf ewig in der Schattenwelt gefangen. Eine einsame Welt, die verstorbene Seelen nur als Übergang benutzen.
Bevor es durch das Portal schreitet, dreht sich das kleine Mädchen noch einmal um. Der Wächter legt den Kopf schief und schaut es einfach nur an. Langsam greift es in seine Tasche und holt ein kleines, graues Spielzeug hervor. Bedächtig hockt es sich hin und legt es auf den Boden, lässt ihn dabei nicht aus den Augen. Dann dreht es sich um und geht mit seiner Schwester Hand in Hand durch das Portal.
Was sie nicht sieht, ist, dass Trauer seinen Kopf nach unten zu drücken scheint. Er ist wieder allein. Er hat gewusst, dass sie nicht ewig bei ihm bleiben kann. Er hat gewusst, dass er einer Seele nicht so lang ihre ewige Ruhe verweigern, dass er sie nicht so lang in der Zwischenwelt behalten darf. Und doch sind sie wie füreinander bestimmt gewesen.
Der Tod und das Mädchen.