Der Traum
Der Traum
Sie glitt wie in Trance zwischen den alten und seltsam geformten Bäumen hindurch, über verwachsene Wurzeln hinweg und wich Sträuchern auf ihrem Weg aus. Erst allmählich fand sie wieder zu sich selbst. 'Was für ein merkwürdiger Wald', hier war sie noch nie zuvor gewesen. Nichts schien ihr vertraut und dennoch spürte sie, wie sie mit äußerster Sicherheit ihrem Ziel entgegentrieb. Welchem Ziel? Was wollte sie hier? In was für einem Wald befand sie sich überhaupt?
Kein Geräusch drang an ihre Ohren, weder das Zerbrechen kleiner Zweige, auf welche sie getreten sein mußte, noch das Rascheln der am Boden liegenden Blätter, weder der Ruf eines Nachtvogels, noch das Rauschen des Windes – welcher aber doch die Äste der Bäume ganz deutlich bewegte.
Die dichten Baumkronen ließen nur selten etwas Mondlicht auf den Waldboden fallen, aber trotzdem war es nicht wirklich dunkel. Das vorhandene Licht reichte aus, ihren Weg deutlich zu zeichnen – obwohl sie um sich herum nichts wirklich erkennen konnte. Sicher: Da waren diese uralten, unheimlichen Bäume, ihre ins Halbdunkel geworfenen, wirren Schatten und daraus geformte, sich ständig verändernde Figuren; doch auch diejenigen, an welchen sie sich unmittelbar vorüberbewegte, konnte sie nur unklar und verschwommen wahrnehmen.
Leichte graue Nebelschwaden zogen vor ihr auf. Es roch nach Fäulnis und je weiter sich ihr Körper vorwärts bewegte, desto intensiver wurde dieses Empfinden. Aus Verwunderung wurde Furcht Warum nur lief sie noch immer tiefer in den Wald hinein? Sie wollte das nicht! Stellenweise schienen die Schwaden sogar zu leuchten: rötlich, blau, grün. Und was waren das für Schatten, welche sie verschwommen in ihm zu erkennen glaubte? Waren es Reflexe des Mondlichts, war es der Nebel selbst, war es bloße Phantasie? Alles schien so unwirklich! Sie kamen näher!
Ihr Körper begann zu laufen. 'Weg!' Sie wollte raus aus diesem Wald! Was sollte das? Was hatte man mit ihr vor? Wie um himmelswillen war sie hierhergelangt? Doch ihre Flucht führte sie nur noch weiter hinein. Instinktiv wußte sie, daß es falsch war: Dieser Weg konnte doch nur ein Ziel haben. Nein! Sie wollte nicht dorthin, versuchte, wieder Kontrolle über sich zu erlangen eine andere Richtung einzuschlagen – doch es gelang nicht. Eine unfaßbare, fremde Macht trieb und jagte sie immer tiefer und tiefer.
Sie erreichte eine Lichtung, etwas hinderte sie daran, weiterzulaufen, befahl ihr, stehenzubleiben. War das ihr Ziel? Doch was war mit den Gestalten hinter ihr? Sie kamen doch näher! Dieser Ort bot keinen Schutz, sie mußte sich in Sicherheit bringen. Jeden Moment konnten sie aus dem Wald auf die Lichtung treten. Doch wohin sollte sie sich flüchten? Sollte sie quer über die Lichtung und auf der anderen Seite wieder in den Wald hineinlaufen? Wer weiß, was sie dort erwartete! Zudem würde sie dadurch noch tiefer in den Nebel hineingelangen. Aber hier war sie ihnen doch erst recht schutzlos ausgeliefert! Nirgends könnte sie sich verstecken!
Sie faßte all ihren Mut zusammen und versuchte, die andere Seite zu erreichen, um dort erneut zwischen den Bäumen zu verschwinden. Doch es ging nicht, noch immer hielt sie etwas zurück. Sie bewegte sich, lief, doch trotz allem verzweifelten Bemühens konnte sie das gegenüberliegende Waldstück nicht erreichen. Sie blickte sich um: Wo waren sie? Voller Entsetzen stellte sie fest, daß sie sich von den Bäumen überhaupt nicht fortbewegt hatte. Sie sah auf ihre Füße: Ja, sie lief tatsächlich! Der Boden unter ihren Füßen veränderte sich – und trotzdem blieb sie auf der gleichen Stelle. Es war sinnlos, die fremde Macht war einfach zu stark.
Und da war der Nebel, sein widerlicher Gestank verursachte Schmerzen. Sie sah, wie er begann, ihre Beine zu umspielen und langsam an ihr hochkroch, um sie einzuhüllen. Sie wehrte sich, versuchte die Schwaden zu zerteilen, sie von sich zu schieben, ihnen zu entkommen – was auch tatsächlich zu gelingen schien, denn der Nebel ließ von ihr ab. Sogar sein unheimliches Leuchten erlosch völlig und er verflüchtigte sich vom Boden, so daß im Mondlicht das Gras zum Vorschein kam. Doch dafür begann er nun damit, die gesamte Lichtung einzuhüllen: Wie ein undurchdringlicher grau-weißer Vorhang, wie eine Mauer legte er sich vor die ersten Baumreihen, so daß sie bis hinauf zu den Wipfeln nicht mehr zu erkennen waren. Was sollte das? Sie war im Nebel gefangen und konnte an der Art und Weise, wie er einzelne Schwaden spielerisch durcheinanderwirbelte, seine boshafte Freude darüber förmlich spüren.
Plötzlich, auf der ihr gegenüberliegenden Seite, begann das Leuchten erneut – jedoch nur an einer einzigen Stelle: Rötliche, bläuliche Lichtflecken, dunkle Blitze zuckten, grünliche Entladungen flackerten. Sie schienen sich scheinbar wirr durcheinander zu bewegen, doch schließlich nahmen sie Gestalt an: Sie erkannte ein tiefschwarzes Loch in der Nebelwand, umsäumt von einem aus blaßgrünen Streifen gebildeten Torbogen – groß genug, um hindurchzugehen.
Und dann hörte sie die Trommeln: Ihre tiefen, monotonen Schläge waren noch weit entfernt, aber langsam und unaufhaltsam kamen sie näher. Sie spürte, wie ihr Herz raste, schneller und immer schneller. Gefangen im Bann dieser unbeschreiblichen Kraft stand sie da, vor Angst zu jeglicher Bewegung unfähig – denn neben den lauter werdenden Trommelschlägen vernahm sie noch etwas anderes: dumpfen, fast eintönigen Gesang! Jemand kam! Wer kam? In der tiefen Schwärze, welche das geöffnete Nebeltor zunächst ausfüllte, zeigte sich ein leichter, irgendwie schmutzig wirkender Lichtschein, dessen Intensität mit dem Anschwellen von Gesang und Trommelschlag allmählich zunahm. –
Sie traten ein! Hochgewachsene, dürre, in lange, schwarze Gewänder gehüllte Gestalten marschierten würdevoll, in zwei Reihen dicht nebeneinander, langsam und gleichmäßig auf die Lichtung. Jeder Schritt wurde vom Schlag der Trommeln begleitet. Doch wo waren die Trommeln? Sie konnte sie nirgends erblicken, sie mußten sich irgendwo hinter der Nebelwand befinden, draußen im Wald! Aber ihr Klang kam doch mit jedem Schritt, den sich die Gruppe auf sie zubewegte, immer näher.
Sie kamen näher! Sie bewegten sich auf sie zu! Sie mußten sie doch sehen! Noch einmal versuchte sie, all ihren Mut zusammenzunehmen, ihre Kräfte wieder zu kontrollieren, um zu fliehen und sich irgendwo zu verstecken. Doch es war aussichtslos, jeder Versuch, sich von der Stelle zu bewegen, scheiterte. Die fremde Macht hielt sie noch immer fest in ihrer Gewalt und ließ ihr nichts als ihre Furcht.
Da waren ihre Gesichter – etwas stimmte nicht mit ihren Gesichtern: Sie waren so undeutlich, so verschwommen. Und was trugen sie da mit weißen Handschuhen auf ihren Schultern? Da war doch etwas! Sie kamen näher, mit jedem Trommelschlag – immer näher. 'Ein Sarg!' Wer um himmelswillen waren sie, was war das für ein Sarg, wer oder was lag darin? Was sollte das alles hier? Wie konnte sie diesem Alptraum nur entkommen? Wenn es denn wirklich einer war, warum bloß wachte sie dann nicht endlich auf? –
Die Prozession schwenkte in eine andere Richtung und hielt plötzlich inne. Der Gesang verstummte und nur der monotone, dumpfe Trommelschlag setzte sich unvermindert fort, wurde immerzu lauter und lauter. Die schwarzgekleideten Geschöpfe ließen den Sarg in die Erde hinab, wo sich eine Grube befinden mußte, welche sie zuvor nicht gesehen hatte. Nach kurzer Zeit richteten sie sich wieder auf und der Gesang setzte erneut ein. Es gab nichts, dem er vergleichbar gewesen wäre und trotzdem ahnte sie, daß sie ihn kannte.
Die Wesen oder was immer sie auch waren verließen den Ort. Doch sie bewegten sich nicht zu dem noch immer offenen Tor im Nebel zurück, aus dem sie gekommen waren. Nein, sie verteilten sich, gingen auseinander – und eines dieser Geschöpfe bewegte sich in ihre Richtung! Sie war starr vor Schreck, ihr Herz raste, Tränen rannen über ihr Gesicht. Was würde geschehen? Es mußte sie doch sehen! Was war mit seinem Gesicht? Noch immer erschien es verschwommen, doch je näher die Kreatur kam, desto deutlicher konnte sie die dunkle Kapuze erkennen, welche diese sich weit über den Kopf geschoben hatte.
Die Gestalt bewegte sich ohne jede Reaktion auf sie zu und schien seitlich an ihr vorübergehen zu wollen. Doch als sie fast auf gleicher Höhe mit ihr war, blieb sie plötzlich stehen. Sie blickte zur Seite, sah sie an – und als ein leichter Windstoß die Kapuze ein Stück nach hinten schob, konnte sie für einen kurzen Augenblick im Mondlicht das Gesicht erkennen: Es war ein Totenschädel, ein milchig-weisser, scheinbar von Narben zerfurchter Totenschädel. Seine tiefschwarzen Augenlöcher blickten durchdringend und böse. –
Dann war sie wieder allein auf der Lichtung, nur noch umgeben vom Nebel; das Tor in ihm hatte sich geschlossen. Erneut kam der Wunsch, diesen Ort endlich zu verlassen, in ihr auf. Doch wohin? Vielleicht warteten diese Monster jenseits des Vorhangs auf sie, genauso wie diese Schattenwesen vor denen sie hierher auf die Lichtung geflohen war. Nein, obwohl sie es zunächst versucht hatte, dahin wollte sie nun doch nicht mehr zurück. Aber was sollte sie tun? Zudem war da noch immer diese Macht, welche sie in ihrem Bann hielt. Nein, dieser Alptraum war noch nicht vorbei, noch lange nicht! Außerdem hörte sie noch immer den Schlag der Trommeln. Doch er hatte sich verändert, war leiser geworden und schien weiter entfernt als zuvor. Und dennoch hatte sie den Eindruck, daß er sich irgendwie um die Nebelwand herumbewegte.
Allmählich spürte sie ein Gefühl in sich aufsteigen, zunächst noch sacht und undifferenziert, doch dann immer stärker und bestimmter – Neugierde: Wer oder was lag in dem Sarg? Sie wußte im gleichen Moment, daß dieses Gefühl nicht von ihr kam, es war diese Kraft, der sie unterstand, welche sie völlig beherrschte und anscheinend Gefallen daran finden mußte, ihr unaufhörlich den Eindruck der eigenen Macht- und Hilflosigkeit zu vermitteln. Sie wollte das Grab nicht sehen, weder das Grab, noch den Sarg, noch seinen entsetzlichen Inhalt, kämpfte dagegen an, doch unwillkürlich setzte sie sich in Bewegung. Sie erschrak abermals als sie bemerkte, daß ihre Schritte vom Schlag der Trommeln begleitet wurden, deren Klang nun wieder an Intensität zunahm. – Sie spürte, daß es sein mußte.
Der Sarg war nicht verschlossen. Jemand lag darin, doch wieder konnte sie zunächst nichts erkennen. Sie kniete nieder und beugte sich vor – nein, sie spürte, daß sie sich vorbeugen sollte, denn dafür war es gedacht. Instinktiv wußte sie, daß sie den Inhalt des Sarges, der sich nun langsam und schemenhaft vor ihr abzuzeichnen begann, kannte.
Und dann – sah sie sich!
Ihr Körper, ihre Seele krampften zusammen. Das konnte nicht sein! Warum? Die Augen ihres Leichnams – sie waren geöffnet, starrten sie unentwegt an. War sie wirklich schon tot? Hatte sie ihre eigene Beerdigung miterlebt? Wer aber hatte sie da beerdigt? War dies etwa das Leben nach dem Tod? Wenn ja, wie grauenvoll mußte das dann sein! War sie vielleicht in der Hölle? Es konnte doch alles nur ein Alptraum sein. Sie betete, schrie, weinte und betrachtete erneut mit weit aufgerissenen Augen ihren Leichnam.
Er richtete sich auf, streckte die Arme aus, griff nach ihr und zog sie hinunter. In diesem Moment schienen sämtliche Trommelschläge in ihrem Kopf vereint und kurz darauf sah sie den Mond, wie er milchig-weiß auf sie herabstrahlte. Sie lag auf weichen Kissen, zu beiden Seiten massives Holz – sie lag im Sarg, unfähig, sich zu bewegen, unfähig, zu schreien. Leichter Nebel begann, den Nachthimmel zu verschleiern – und aus der Ferne vernahm sie monotonen Gesang, der langsam näher kam.
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Sie riß die Augen auf, schweißgebadet, ihr Herz raste. Die Welt um sie herum war dunkel, durch keinen Lichtschimmer erhellt. Eine schier unendliche Zeit lag sie regungslos da, wagte nicht, sich zu bewegen – horchte: Alles war ruhig. Kein Gesang, kein Trommelschlag. Nirgendwo schimmerten Totenköpfe im Mondlicht, nirgends verbreiteten leuchtende Nebelschwaden den Geruch von Fäulnis. – Es war vorbei.
Sie atmete tief durch, wollte sich endlich beruhigen. Stimmte es, daß es den Tod zur Folge hat, wenn man von ihm träumt – noch dazu von seinem eigenen? Sie konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor einen solch intensiven Alptraum gehabt zu haben. Ihn wirklich zu verarbeiten würde bestimmt eine ganze Weile dauern.
Wie warm es hier war und was für eine stickige Luft sie umgab. Aber nach diesem Traum konnte das ja auch kein Wunder sein. 'Ich muß das Fenster öffnen und einmal durchlüften.' Bislang noch immer regungslos griff nun ihre Hand zum Schalter der Nachttischlampe, der sich irgendwo rechts von ihr befinden mußte. Doch sie konnte den Arm nicht richtig ausstrecken, sondern stieß gegen etwas Hölzernes, den Nachttisch, wie sie glaubte. Aber so sehr sie auch tastete und suchte, dort war nur Holz. Auf der linken Seite ebenfalls! Wo war sie? Sie lag doch in ihrem Bett, konnte die weichen Kissen ganz deutlich unter sich spüren! Sie wollte sich aufrichten – und stieß mit dem Kopf gegen etwa Hartes. – Holz.