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Der Trinker und die Kellnerin

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25.10.2004
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Der Trinker und die Kellnerin

Er hat ein echtes Problem, will aber nicht damit herausrücken. Ich frage: „Alles in Ordnung?“ und er kneift die Augen zusammen, als würde ich in der Sonne stehen und nickt kurz, wobei sein Kinn völlig erschöpft wieder auf die Brust sinkt.
Er dämmert, stundenlang, und manchmal schreckt er auf und tanzt mit den Händen zur Musik. Es sieht aus wie ein Krampf im Arm, weil er den Rhythmus nicht richtig hinkriegt. Aber wenn er den Kopf dabei wiegt, sieht man, dass er es wegen der Musik macht. Er macht es für Ella Fitzgeralds Cole Porter Songs, für Stevie Wonder, Smokey Robinson und für ein paar Stones-Balladen.
Wenn ihn jemand beobachtet, hört er sofort auf.

Das klingt vielleicht, als wäre ich verliebt, aber das bin ich nicht. Ich bin nur die Kellnerin. Ich trage die Karaffe Wein an seinen Tisch, wenn er sie bestellt und kassiere am Ende ab. Mehr nicht. Eigentlich. Aber er hat gekotzt neulich, hat das ganze Klo und seinen Pullover vollgekotzt. Er sah aus, wie ein Baby mit dem ganzen durchgekauten Zeug auf dem biederen Wollpullover.
Ich hätte zum Chef gehen und sagen sollen: „Der Patient an Tisch Fünf kann sich nicht beherrschen.“ Einer von den Spülern wäre gekommen und hätte die Sauerei weggemacht und der Patient wäre am Kragen hinausgeworfen worden.
„Und lass dich hier nie wieder blicken!“
Bei den ganzen Typen, die ihre Sprüche abziehen und den Harten machen, die für das bisschen Trinkgeld auch noch erwarten, dass man das alles toll findet und sich liebend gern an den Arsch fassen lässt, als wär’s ne Auszeichnung, bei den Schwachköpfen hätte ich’s genau so gemacht.
Damit die mal was kapieren. Aber die kotzen nie! Wenn es denen zu bunt wird, reißen sie ihre kleinen Briefchen auf und kommen noch penetranter vom Klo zurück. Und wenn man denen mal die Meinung sagt, zwicken die einen erst recht in den Arsch und sagen Sachen wie: „Na, du bist aba ganzschön frech!“ oder „Du, ich mach doch nur Spaß. Komm, setzt dich mal auf meinen Schoß.“ Da kann man nichts machen.
Der von Tisch Fünf ist ganz anders.

Das erste Mal kam er kurz nach dem Mittag und ich dachte noch, er hätte eine Verabredung und wäre so traurig, weil sie nicht gekommen ist.
Er stand draußen und hat eine Weile durch die Fenster geguckt, die Hände tief in den Taschen seines schwarzen Parkas, war ja auch noch Winter und es hat ein bisschen genieselt. Ich hatte keinen einzigen Gast und hab die Spiegelregale ein bisschen ausgewischt, da hab ich ihn gesehen, über die Bande. War aber nur irgendeine Gestalt, wegen der ich mich mental auf Bedienen einstellen musste.
Als er dann rein kam und gelächelt hat, dachte ich, das ist der unschuldigste Mann, den ich je gesehen hab. Er hatte wahnsinnig weiche Haut mit roten Wangen vom Temperaturwechsel. Seine Haare waren voller Wirbel, wie vom Schlafen, und die braunen Augen so groß, als erwarte er sein Geburtstagsgeschenk.
Er setzte sich an Tisch Fünf, bestellte den billigsten Rotwein und begann zu trinken und das macht er nun schon seit ein paar Wochen so. Ich glaube, das tut ihm gar nicht gut, aber was soll ich machen?
Er tut mir leid. Er ist kein Trinker. Richtige Trinker kenne ich, die benehmen sich ganz anders. Erstens kriegen sie weit mehr runter und zweitens sehen sie nüchtern scheiße aus und wickeln erst nach dem zweiten Glas ihre gute Laune aus. Bei ihm ist es genau umgekehrt. Er kommt fröhlich herein, setzt sich in seine Ecke und nach dem ersten Glas wird sein Lächeln matschig, wie bei einem aus dem Schlaf gekitzelten Kind. Aber das hält nicht lange. Beim zweiten Glas sackt sein Lächeln ganz weg, er beugt sich tiefer über den Tisch und rutscht gequält auf seinem Stuhl herum. Und so geht es weiter, er weiß nicht wohin mit seinem schweren Kopf, nicht wohin mit den Armen, schiebt den Wein hin und her und versucht durch seine klein gewordenen Augen am Geschehen teilzunehmen.
Wenn man so einen sieht, weiß man gleich, dass tief in ihm was kaputt gegangen ist. Also hab ich ihn mir geschnappt, zwei Tage nach der Kotzerei.

***

Zwei Tage nach der Kotzerei hat sie mich zur Seite genommen, wie einen, der ein echtes Problem hat. Wir standen im Gang zur Küche und ich hörte den Koch mit seinem Geschirr klappern. Dann ging der Wasserhahn und eine Microwelle piepte. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren.
Es war kurz nach Mittag und sie hatte mich gleich beim Reinkommen feierlich gebeten, einen Augenblick mit ihr zu kommen. Ich habe alles mögliche gedacht, nur nicht, dass sie mich in diesen dunklen Gang führen würde, um mir etwas zu erklären, das mich auf absurde Weise nicht betraf.

Ich habe keine Probleme. Meine Wohnung ist sauber und geräumig. Zwischen zehn und fünfzehn Uhr scheint die Sonne herein, im Sommer etwas länger und im Winter kürzer. Jetzt ist Frühling und ich habe den ganzen Winter lang gelesen. Ich hänge noch immer am Tropf meines BWL Studiums. Es ist ziemlich dickflüssiges Zeug, deswegen dauert es länger. In meinem Kühlschrank ist alles, was man für ein ordentliches Frühstück braucht, vor allem Käse. Ich bin ein echter Käsefan. Und Tee. Gerade probiere ich eine neue Sorte Kräutertee, die mich ziemlich regelmäßig pinkeln lässt. Das spült das ganze Gift aus dem Körper. Ist jetzt nötig geworden. Auch das Asperin.

Nein, ich muss weiter ausholen. Ich komme nicht von hier. Ich bin wegen dem Studium hergekommen und das Studium habe ich gewählt, damit ich hierher ziehen kann. Raus aus dem Nest, wo mir jeder sagen konnte, wann ich meinen ersten Pickel bekommen hatte und wie niedlich das aussah, als ich mit dem kleinen Philly unten am Fluss angeln war. Ich musste da weg, damit mir mal was passiert.
Das Dumme war nur, dass nichts, absolut gar nichts passiert ist.
Ich habe ein bisschen in Katalogen geblättert und nach und nach kamen ein paar Möbel und Lampen in meine Wohnung. Irgendwann sah es aus, wie immer. Ich ging zwei Mal die Woche zum Sport, hatte nette Kommilitonen, die genauso wenig zu erzählen hatten, wie ich und mit denen ich am Wochenende Museen besuchte und in Cafes herumsaß. Ab und zu schrieb ich eine Prüfung und schon die Art, wie ich das Ergebnis erwartete, war so unspektakulär, wie jeder einzelne Tag in meinem Leben.
Du bist Florian Gerb. Du hast nie den Schlüssel verloren, bist nie zu spät gekommen und auch wenn du nicht gerade ein Fuchs bist, hast du doch immer ohne große Anstrengungen das Klassenziel erreicht. Warum sollte einer wie du bei den Prüfungen durchfallen? Ich musste einfach nur abwarten, bis irgendwann mein Studium abgeschlossen sein würde, noch ein paar Muskeln am Bauch auftauchten und ein nettes Mädchen, der ich Dinge sagen konnte, die nötig waren, um regelmäßig an Sex zu kommen.

Und dann machte Silvio den absurden Vorschlag, am Sonntag auf den Flohmarkt zu gehen.
„Hör mal, Silvio“, sagte ich, „du bist doch gar nicht der Typ für gebrauchte, ausgeleierte Sachen und ich auch nicht.“
Silvio sah mich an, als hätte ich ihm den Spaß verdorben.
Ich wurde konkreter: „Du kriegst es nicht mal hin, dir in der Bibliothek Bücher auszuleihen, weil du die Flecken auf den Seiten nicht ertragen kannst. Die Eselsohren. Und wenn du erst die angestrichenen Zeilen siehst, ist es ganz vorbei. Und als dir Sandra ihren alten Sessel schenken wollte, warst du das erste Mal unfreundlich zu ihr. Zu Sandra! Was willst du also auf einem Flohmarkt machen?“
Silvio schwieg und nippte an seinem Milchkaffee. Ich schwieg ebenfalls und dachte, das Thema sei erledigt.
Aber als Silvio die Tasse abgesetzt hatte, sagte er: „Man muss ja nicht unbedingt was kaufen.“
„Gut!, sagte ich, „dann stehen wir Sonntagmorgen um Acht auf und gehen zum Flohmarkt, um nichts zu kaufen.“
Silvio nickte, als hätte er meine Ironie nicht bemerkt und das Ding wäre geritzt. Ich wollte gerade ansetzen, seine blöde Idee vollständig in der Luft zu zerreißen, da verschluckte ich mich an meinem Kaffee und prustete die Flüssigkeit über den Tisch und meine Hose und Silvios Hose, das Blumendekor und den Fußboden.
Die Bedienung kam angerannt und drückte mir einen Stapel Servietten in die Hand, eine andere wischte schon zwischen meinen Füßen und benutzte denselben Lappen für den Tisch. Silvio hatte auch einen Stapel Servietten bekommen und schrubbte auf seiner Hose herum. Es war klar, dass wir das Thema jetzt fallen ließen. Es war auch klar, dass Silvio mich am Sonntag um Acht abholen würde und ich trotz meiner Abneigung ein paar Dinge kaufen würde. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich nach diesem Wochenende anfangen würde, regelmäßig in einer Kneipe Unmengen Rotwein zu trinken.

***

Ich habe gedacht, ich muss diesen Typen von Tisch Fünf einfach darauf ansprechen, weil ich ihn sonst nicht mehr bedienen kann. Ich meine, er hat wirklich jedes Mal so komische Anwandlungen und wenn der Chef das sieht, kann ich mir gleich einen anderen Job suchen.
Aber die Wahrheit ist, dass ich keine Ahnung habe, warum ich immer den Samariter spielen muss. Mein letzter Freund war auch so einer. Viel schlimmer noch. Ein Scheusal. Ein Kotzbrocken. Jeder hat mir gesagt: Rebecca, lass die Finger von dem, und sie haben Recht gehabt. Naja, ich musste es natürlich trotzdem ausprobieren, musste diesem armen Schwein doch aus seinem beschissenen Leben raushelfen. Dabei wollte der gar nicht, dass ich ihm raushelfe, sondern dass ich ihm helfe, drin zu bleiben.
Aber ich war ja die Oberschlaue und hab immer gedacht: ich weiß, wie man dir helfen kann, ich weiß es ganz genau und wenn du herkommst und dich ein bisschen streicheln lässt, kann ich’s dir zeigen. Du musst dich nur ein bisschen anstrengen. Ja, das erzähl mal einem, der alle Hände voll zu tun hat, gerade zu laufen.

Aber wenn er gut drauf war, konnte man echt Spaß mit ihm haben. Er konnte so herrlich verrückt sein. Zum Beispiel haben wir zusammen Musik gehört, immer lauter aufgedreht, und dann hat er meine Hand genommen, ist mit mir auf die Straße gelaufen und hat mit mir getanzt. Ein paar Leute haben sogar aus dem Fenster geguckt. Ich war so stolz.
Das war schön.
Und ein paar Wochen später hab ich allein Musik gehört, ganz leise, damit ich das Geräusch seines Schlüssels höre. Auf der kleinstmöglichen Flamme stand das fertige Essen. Ich wollte mal was Schönes machen, Ente mit Klößen und Rotweinsoße. Am nächsten Tag hab ich immer noch gesessen und gewartet. Nach zwei Tagen kam er dann, hatte diesen Hundeblick. Ein wunderschöner Blick und ich hab ganz deutlich gemerkt, dass ich verloren bin. Konnte nichts mehr tun. Hab mich einfach festgekrallt und drauf gewartet, dass es gut wird.

Als es dann vorbei war, hab ich mich hingesetzt und viel über die Sache nachgedacht. Diese verrückten Typen machen das alles nicht aus Versehen. Die wollen was Besonderes, immer, und alles Normale machen sie kaputt. Bei denen ist das so: die normalen Menschen sind halbtot und die Verrückten sind die Wachen, die wirklich was vom Leben mitkriegten. Aber was ist da wach dran, jeden Tag betrunken zu sein, bis Mittag zu schlafen und sich nicht unter normale Leute zu trauen! Gar nichts. Flucht vor der Welt. Die ist einfach zu wirklich für sie, zu anstrengenden, voller Idioten, blöder Regeln usw. Es muss immer ein bisschen wie im Film sein, damit sie fliegen können. Wenn Gott gewollt hätte, dass wir pausenlos rumfliegen, hätte er uns Flügel gegeben.

***

Ich muss nach Paris. Das ist es! Villa Borghese, kleine schmutzige Hotels, kein sauberes Handtuch, ein wenig Ei im Spitzbart, Boris! Eine Flasche in einem Café, Krebsgeschwür. Ich habe genau zugehört, jedes Wort. Ja, ich will dieses Glück und wenn es hundertmal weh tut. Es ist der einzige Weg. Mein ödes Leben hier ist vorbei. Ich will diese Freiheit, dieses Abenteuer. Mein Gott, ein Buch, einfach nur ein Buch, auch noch ein gebrauchtes. Wie viele Bücher habe ich schon gelesen und nichts ist passiert. Und dann dieses. Und das davor, stilles Clichy, Wendekreis, Sexus. Na klar! Warum auch nicht, warum nicht einfach mal leben? Raus, auf die Straßen und einfach nur herumlaufen. Vielleicht passiert ja was.
Man sagt gern: Gott sei Dank, dir ist nichts passiert. Dafür sollte man wirklich nicht dankbar sein. Dafür nicht.

Den Kopf voll solcher Gedanken stolperte ich durch meine Wohnung, das Buch noch in der Hand, den Finger zwischen den Seiten. In der Küche nahm ich ein Stück Käse aus dem Kühlschrank und verschlang es, ohne Brot. Es war schon nach Elf. März. Ich setzte mich.
Irgendwen sollte ich anrufen. Silvio vielleicht, aber der versteht so was nicht, ist ein völlig anderer Typ. Nadja, aber die hat nächste Woche Prüfungen. Wem sollte ich erzählen, ich musste doch jetzt erzählen, erklären. Niemand. Ich hab niemanden angerufen. Ich pulte einen Rest Käse vom Zahn und lutsche ihn vom Finger. Draußen flog eine Krähe vorbei, sonst nichts. Ich hatte mich lange nicht so allein gefühlt.
Aber das war wohl der Anfang.
Das Alleinsein.
Kurz vor zwölf saß ich immer noch in der Küche. Mir ging es langsam besser. Die Vorlesung beginnt um Zehn, dachte ich, da kannst du ja langsam schlafen gehen. Du musst ja nicht gleich heute die Welt umbürsten. Da suchst du dir mal einen freien Tag raus. Jetzt lieber noch ein bisschen Musik hören und einschlafen.

Den ersten freien Tag verbrachte ich mit Arne, der die ganze Zeit nur von seinem Kanuverein redete, der nächste galt dem Sport, fit werden für den Frühling und die engen T-Shirts. Dann wollten meine Eltern besucht werden, ein bisschen angeben mit dem Jungen, der doch jetzt studiert. Mein Kinderzimmer befand sich immer noch im Originalzustand, was mich ziemlich erschreckte. Ein Museum meiner Kindheit. Ein Schrein, vor dem meine Mutter den lieben Gott bittet, dass ich immer ihr kleiner Junge bleiben möge.
Als ich zurück kam, war der März fast um mein unkompliziertes Leben hatte mich fest im Griff. Ich bereitete mich auf die Prüfung vor, dass heißt, ich trug den Termin in meinen Kalender ein, und erfuhr, dass es diesen Sommer an der Müritz eines der größten Kanutreffen Europas geben sollte. Abends saß ich in der Küche und telefonierte mit Silvio, der eigentlich nur zwei Straßen von mir entfernt wohnte. Er redete unentwegt über Sandra, stellte ihre guten Eigenschaften gegen ihre schlechten und versuchte dadurch herauszufinden, wie sehr er sie liebte. Ich hatte keinen Text und fischte ein Stück Käse aus dem Kühlschrank. Eine Krähe flog am Fenster vorbei und mir wurde ein bisschen schlecht. Henry Miller. Ich wollte doch... , wie hatte ich diese ungeheure Sache einfach vergessen können. Mein Leben ändern.

***
Nach der Geschichte ist wohl klar, dass ich keine gestörten Typen mehr in mein Leben lasse. Das Problem ist bloß, dass ich in einer Kneipe arbeite. Da kann man sich noch so viel vornehmen. Am Ende trägt man doch wieder so ein verstörtes Wesen zum Taxistand.
Und ich versuche wirklich mir keine Gedanken zu machen. Das verträgt sich ohnehin nicht mit meinem Job. Du kannst den Leuten nicht mit einem vorwurfsvollen Blick den Drink hinstellen. Gut, bei den meisten setzt mein Helfersyndrom nicht ein, die sind einfach zu kaputt, aber bei Tisch Fünf hat das nicht geklappt.
Und ich dachte: Rebecca, du hast deine Erfahrungen gemacht und jetzt beginnt ein neues Leben. Ja. Wenn es denn endlich mal anfangen würde.
Ich will überhaupt nichts Großes. Nur eine kleine Familie, bisschen Arbeit, Kinder groß ziehen und am Wochenende mal was Schönes unternehmen. Fertig.
Ist doch nichts dabei, wenn man es lieber schlicht haben will. Ich muss nicht dauernd vom Leben schockiert werden.
Wenn jemand Bundeskanzler oder Superstar oder Mickey Maus werden will, sehe ich ein, dass es ein bisschen schwierig werden könnte. Es gibt erschreckend viele, die sowas wirklich wollen. Deren Lebensplan sieht ungefähr so aus: entdeckt werden und dann erst mal richtig einkaufen gehen. Meine Kollegin Vera redet die ganze Zeit davon, welche Designermöbel sie in ihre Vier-Zimmer-Dachgeschosswohnung stellen will, wenn erstmal durchgesickert ist, was für eine famose, unentbehrliche Schauspielerin sie ist. Übrigens konnte das noch niemand feststellen, weil sie noch nie gespielt hat. Das hält sie aber nicht davon ab, Urlaube an der Riviera zu planen.
Niemand wundert sich, wenn solche Pläne nicht in Erfüllung gehen, nicht mal Vera. Aber ich frage mich oft, wieso ganz bescheidene Lebenswünsche, wie der meine, sich als genauso schwierig herausstellen.
Mit der Arbeit fängt es schon an. Mein Beruf hat sich nach Asien verkrümelt. Schneider braucht man hier nur noch in Änderungsbuden. Einmal hatte ich eine richtige Stelle, bei einem Designer, aber ich hab den Himmel nicht mehr gesehen und ich mag den Himmel. Wenn du dich da nicht jeden Tag mit Schweiß und Überstunden für den Arbeitsplatz bedankt hast, wurde einfach jemand anderes eingestellt.
Meine Mutter hat gesagt, es wäre arrogant von mir, so eine Superstelle einfach zu kündigen, bloß wegen dem bisschen Freizeit, wo man ja eh nur Geld ausgibt. Sie hat mir stolz erzählt, wie sie früher schuften musste und man sieht ihr auch echt an, was für ein Scheißleben das war.

Alles nicht so schlimm. Wenn nur menschlich was laufen würde. Kann doch nicht so schwer sein, jemanden zu finden, der noch an die Liebe glaubt. Schließlich glaub ich ja auch dran und wenn es mich gibt, gibt es sicher auch andere.
Ich lehne es ab, mich als einzigartig zu betrachten. Ich glaube, letztendlich wollen wir alle dasselbe. Liebe, Liebe und nochmals Liebe. Traut sich bloß keiner, das zu sagen. Kommt schon cooler, wenn man so tut, als wäre man frei und unabhängig, vor allem individuell. Scheiß drauf! Keiner funktioniert für sich allein, auch die nicht, die das von sich behaupten.
Da werden einfach Freundschaften abgeschossen, bloß weil sie öfter mal anderer Meinung sind. Das passt dann eben nicht. Bei der Liebe genauso, wenn die ersten Probleme auftauchen heißt es: war nicht der Richtige. Aber da wird’s doch erst richtig spannend. Eine Zeitlang ist es ja ganz hübsch, sich gegenseitig „Ich auch“ zuzuraunen, aber das reicht eben nur für die rosaroten Wochen. Dann kommt das große Entsetzen, dass man ja doch kein Spiegelbild von sich selbst an der Hand hält, sondern einen komplett anderen Menschen. Finde zu dir selbst heißt es überall. Was soll ich da? Ich will zu den anderen finden.

***

Es war grauenhaftes Zeug. 7,50 der halbe Liter. Zuerst nur ganz kleine Schlucke, gerade mal ein Nippen. Aber mir wurde schnell klar, dass ich den Ekel nur minimieren konnte, wenn ich schneller trank. Außer mir war nur die Bedienung da, putzte Regale während ich verzweifelt überlegte, wie ich hier, mit diesem Wein eine Stimmung wie in Henry Millers Romanen hinkriegen sollte. Draussen nieselte es und ein paar Leute hechteten mit schnellen Schritten nach Hause, gemütlicher Feierabend, ein Buch, bisschen leise Radiomusik, Stullenteller. Das konnte ich mir auch gut vorstellen. Trotzdem war ich stolz, dass ich mich endlich überwunden hatte, auch wenn es nicht gerade Paris war.
Die Bedienung lächelte zu mir herüber. Ein Verlegenheitslächeln wahrscheinlich, beruflich war sie dazu in so einer ranzigen Kneipe wohl kaum verpflichtet.

Keine Ahnung, wie lange ich dasaß. Ich weiß noch, dass nach einer Weile der Wein erträglicher wurde und das viele Leute kamen und eine Geräuschwolke in meinen Kopf hängten, die am nächsten Tag noch da war. Geredet hab ich mit niemandem, außer der Bedienung. Sie hatte so einen melancholischen Blick, wässrig, groß, fragend, aber eigentlich schon wissend. Sie war der einzige Mensch, der mich ein bisschen in die Pariser Jahrhundertwendestimmung hieven konnte. Wenn ansonsten noch etwas Aufregendes passiert sein sollte, konnte ich mich nicht dran erinnern. Es nützt nichts, ich vertrage keinen Alkohol. Das war schon bei meinem ersten Eierlikör so.
Onkel Bernd sagte: „Da wächst du schon ein!“
Aber es ist leider so, dass die guten Momente, in denen ich dachte: oh, jetzt geht’s los, langsam wirst du locker, allzu schnell in die Müdigkeit mündeten und in den Kampf, nicht am Tisch einzuschlafen.

Dann kamen die ersten Zweifel. Es war die schwachsinnigste Idee, die ich je hatte, mit Alkohol ein historisches Lebensgefühl reproduzieren zu wollen. Ich fand auch die Leute nicht gerade erfrischend. Die meisten saßen zu zweit herum und schilderten in den buntesten Farben ihre Beinahe-Karriere. Dabei bekam man nie heraus, was sie eigentlich machten. Andere gaben ihren Tischgenossen genaue Angaben über den Verlauf ihrer Woche, mit Speisedetails, Schlafverhalten, Anrufe, Unwohlsein und Arbeitspensum. Meistens ging es aber um irgendwelche abwesenden Personen, denen man mal ungestört Eitelkeit, Geiz, Lügen und Arroganz nachsagen konnte.
Was hatte ich erwartet! Eine andere Welt?
Das Dumme war, dass mir nichts besseres einfiel, als weiter in die Kneipe zu gehen und auf einen guten Abend zu hoffen.

***
Ich habe gelogen. Ich bin verliebt. Der Chef ist mir egal und wenn er mich hundertmal raus wirft. Es gibt genug solche Jobs. Aber ich habe mich wirklich in diesen Jungen von Tisch Fünf verliebt. Ja, wieder so einer und doch ist er ganz anders. Es ist mir vor ein paar Tagen richtig klar geworden. Da hat er seine Karaffe und sein Glas genommen und sich zu Thomas an die Bar gesetzt. Thomas sitzt immer an der Ecke vom Tresen und trinkt ab 18 Uhr Bier und ab 21 Uhr Gin Tonic und Bier. Er ist nicht der Schlimmste, aber mir fällt auch nicht viel ein, womit er sich loben ließe. Immerhin geht er von allein, wenn er zuviel drin hat. Also, neben den setzt sich Tisch Fünf und schweigt eine Weile.
Dann sagt er: „Hallo. Ich bin Florian.“
Thomas hat ihn angeguckt, wie eine aufgeschrecktes Pferd und „Thomas“ gesagt.
Dann haben sie wieder eine Weile geschwiegen, tief in die Gläser geguckt und sich benommen, wie nervöse Verliebte. Thomas fiel nichts Besseres ein, als einen Kurzen zu bestellen, einen für jeden. Als sie die Gläser abgesetzt hatten und Florian noch mit der Verzerrung in seinem Gesicht beschäftigt war, hat Thomas gesagt: „Ist doch alles sinnlos.“

Jeder Trinker hat ein Thema für den seltenen Moment, wenn eine Unterhaltung von ihm gefordert wird. Das Thema von Thomas ist die Sinnlosigkeit. Alles ist sinnlos. Das Leben, das Sterben, der Sonnenaufgang, der Tag, egal ob Feier- oder Alltag, alles. Normalerweise stimmen die Leute Thomas entweder zu und lassen sich lang und breit aus, oder sie nicken kurz und nutzen den Toilettengang, um sich bei der Rückkehr woanders hinzusetzen. Florian widersprach ihm und das hatte es in Thomas gesellschaftlichem Leben schon lange nicht mehr gegeben.
Ich weiß nicht, ob ich es noch so gut zusammen kriege, aber er sagte: „Das sieht nur so aus.“
Thomas nickte automatisch, aber plötzlich fiel ihm auf, dass die Antwort nicht ganz so leicht runter ging.
„Wie meinst du das? Sieht nur so aus. Guck dich doch mal um. Siehst du hier irgendwo einen Sinn?“
Thomas fuchtelte mit dem Arm herum und wo er ihn schon mal oben hatte, bestellte er eine weitere Runde Kurze.
„Alles ist voll davon. Der Stuhl auf dem du sitzt“, sagte Florian und zeigte auf den Stuhl.
„Das Glas in deiner Hand. Einfach alles.“
Thomas knurrte missverstanden und stütze sich auf seine Unterarme.
„Quatsch! Ich meine das ganze Getriebe. Politik und die Machereien. Das ganze Leben eben.“
Florian, kurz schwermütig: „Die Machereien? Das Leben...“, dann riss er sich zusammen und fing an, Thomas ernsthaft etwas über Sinn zu erzählen.
„Sinn gilt für den Stuhl genauso, wie für die Politik und die Machereien und wenn er wackelt, oder im Regen stand und man ihn erst mit dem Taschentuch trocknen muss, oder ihn erst dahin tragen muss, wo man sitzen möchte, dann ist das Leben.“
Thomas hatte nur halb zugehört und wehrte einen so blödsinnigen Vergleich ab, aber für mich war er ein sanftes Rauschen auf meinem Herzen. Das ist die Liebe zur Unvollkommenheit. Und eins ist sicher: ich bin sehr unvollkommen.

***

Das metallische Klirren der Töpfe regte mich auf. Außerdem verschluckte der Gang jedes Licht und ich konnte nichts sehen. Sehen war jetzt sehr wichtig, denn ich verstand nicht ganz, was ich zu hören bekam.
Ihre Stimme zitterte leicht. „Was ich dir sagen wollte...“
Ich hörte, wie sie schlucken musste.
„Damit trete ich dir wahrscheinlich zu nahe. Ich meine, im Grunde kennen wir uns ja gar nicht und es geht mich nichts an.“
Was geht sie nichts an? Irgendwo wurde ein Wasserhahn aufgedreht.
Sie sprach weiter: „Also, ich glaube, du bist kein schlechter Kerl. Deswegen mache ich das hier überhaupt.“
Das war ein Kompliment.
„Ich find’s einfach schade, sehr schade, jeden Tag zusehen zu müssen, wie du...“
Ich erschrak.
„Hab ich vergessen zu zahlen?“, fragte ich schnell.
„Nein, das nicht“, sagte sie genauso schnell. „Ich meine, dass du dich so fertig machst.“
„Das ich mich so fertig mache“, wiederholte ich.
„Also, wenn du irgendwelche Probleme hast... . Vielleicht kann ich dir helfen.“
Eine Microwelle piepte. Gut, dass es dunkel war und das abrupte Rot in meinem Gesicht ein Geheimnis blieb. Florian Gerb- ein Problemtrinker, einer, der sorgenvoll zur Seite genommen werden musste. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Mir war nach Beiden zumute.
„Ich verstehe nicht“, murmelte ich, um Zeit zu schinden.
„Na, was du da neulich gesagt hast.“
Sie schluckte wieder. Ich wusste nicht mehr, was ich neulich gesagt habe. Ich wusste überhaupt sehr wenig über meine letzten Abende.
„Zu Thomas“, sagte sie.
„Thomas“, sagte ich.
„Das waren gute Gedanken und ich hab mich einfach gewundert, dass einer, der so über das Leben denkt, sich dermaßen betrinken muss, um es auszuhalten.“
Wow! Das war nicht schlecht.
Sie senkte den Kopf und ich suchte nach einer Erklärung. Mir schwirrte der Kopf, aber sie redete weiter. Sie erzählte von Trinkern, von Realitätsflucht und dass sie das alles sehr gut verstehen kann und doch auch wieder gar nicht. Endlich sagte ich etwas.
„Ich bin kein Trinker.“ Der Satz kam mir gleich danach absurd vor. Sie kannte mich ja nur so, mit Wein.
„Ja“, sagte sie ruhig.
„Hm“, machte ich. Was sollte ich sagen? Die Küchentür ging auf und der Koch ging schelmisch grinsend an uns vorbei. Ich hatte plötzlich das Gefühl, sie küssen zu müssen, damit das Grinsen des Kochs seine Berechtigung fand. Dann wendete sie sich erschöpft ab und ging wieder in den Gastraum. „Jetzt hab ich’s dir wenigstens gesagt.“

Ich blieb verloren zurück. Die Verschwiegenheit der Toilettenräume lockte mich, aber ich hatte keine Lust auf den Gestank. Ich war so weich, ich hielt nicht mal dem schmelzenden Blick des Sängers auf dem Plakat an der Wand stand. Drinnen stellte sie jetzt eine Karaffe billigen Wein auf den Tisch, für einen armen Süchtigen, dessen Verderben sie kannte. Ich hätte sie küssen sollen. Ich wollte sie küssen, nicht wegen dem Koch. Wenn ich ehrlich bin, war ich nur wegen ihr gekommen, wegen ihrem melancholischen Lächeln. Und jetzt denkt sie, ich bin ein Säufer. Ein Problemsäufer! Das läuft hier alles gründlich falsch, dachte ich, aber immerhin passiert mal was. Ich musste mir nur überlegen, wie ich damit zurechtkam.

***

Warum war ich bloß wieder weggelaufen? Ich schaute in den Gang, aber der war zu dunkel. Wahrscheinlich ist er noch mal aufs Klo gegangen. Am Besten, ich stelle einfach die Karaffe auf seinen Tisch und alles ist wie immer. Alles wie immer. Das wollte ich doch gerade vermeiden. Ich bin ziemlich durcheinander, dachte ich. Ich rieb an meinen Schläfen herum. Mein Herz klopfte immer noch. Verliebt. Ich will nicht verliebt sein, nicht wieder so. Ich muss zurückgehen und noch was sagen. Aber ich hab doch schon so viel gesagt, er gar nichts, fast nichts. Trotzdem!

Er stand noch immer an derselben Stelle. Tim kam mit einem Karton Butter aus dem Lager und drängte sich verwundert an ihm vorbei. Ein fragender Blick galt auch mir. Ich wich ihm aus und lehnte mich still neben Florian an die Wand. Vor uns hing dieses schreckliche Plakat von einem schwülstigen Sänger. Ich versuchte so leise wie möglich zu atmen. Als die Küchentür hinter Tim zufiel, sagte er: „Ich habe keine Probleme.“
Warum lügt er? Es ist doch so unnötig, nach allem, was ich ihm gesagt habe. Wie soll ich ihm helfen, wenn er noch nicht mal das erkennen will?
„Das ist vielleicht das einzige Problem“, flüsterte er und fing an zu erzählen. Alles in diesem kleinen Gang und ich hörte zu, unterbrach ihn nicht. Das Plakat und die Küchengeräusche raubten mir fast die Nerven. Konzentrier dich, dachte ich.

Was ich da hörte, beschämte mich und machte mich gleichzeitig wahnsinnig glücklich. Es war gut, dass es so dunkel war, dass er mein Gesicht nicht sehen konnte. Nach einer Weile war er fertig. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und nahm seine Hand irgendwie. Wie zwei Kinder gingen wir zurück zum Tresen. Er kniff seine Augen vor dem Tageslicht zusammen und dann sah er die bescheuerte Karaffe auf seinem Tisch. Wir lachen gleichzeitig los und ich räumte schnell den Wein ab.
„Eigentlich trinke ich lieber Tee“, sagte er und setzte sich zu mir an den Tresen.
Meine Hand zitterte, als ich den Beutel aus der Packung holte. Er sah mir dabei zu. Ich fühlte mich plötzlich so hilflos. Als hätte mir jemand die Arme hinter dem Rücken zusammengebunden und dafür wabblige Schläuche drangehangen.
Ich war tatsächlich in einen verliebt, der keine Probleme hatte.
Sowas ist mir noch nie passiert.
Damit muss man erstmal klarkommen.
Ich stellte seinen Tee auf den Tresen. Er las sich das Etikett durch und schwenkte den Beutel hin und her. Dann sahen wir beide aus dem Fenster. Ein paar Krähen machten da einen Riesenaufstand, weil irgendein Kind sein Brot verloren hatte.

 
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Moikka Simone,

da reine Kleinschreibung nicht den Forenregeln entspricht, habe ich mal den Titel fein gemacht.
Simone schrieb über ihre Geschichte:

vorsicht! lesezeit min 10min
Kommentare bitte in ein Extraposting, das erste bleibt der Geschichte vorbehalten.

Die "Warnung" habe ich nicht verstanden, weil ich nicht weiß, ob das viel oder wenig sein soll, und warum man überhaupt warnen müßte. Schließlich ist man fürs Lesen auf der site hier. ;)

Ich hab's in vier Minuten geschafft, und wenn ich sie nicht als Co-Mod hätte lesen müssen, hätte ich ziemlich bald abgebrochen. Dabei mag ich längere Geschichten, diese ist ja eher durchschnittlich lang und an sich gut für eine KG, in die man richtig einsteigen will.

Mein Problem hier ist, daß es unglaublich lange, allgemeinplatzige Introspektiven und mäandernde Gedanken hat, die weder die innere noch die äußere Handlung irgendwie vorantreiben. Das wirkt leider - obwohl Dein Stil flüssig zu lesen ist - sehr geschwätzig. Man könnte nun diesen Text um die Hälfte kürzen, ohne daß etwas Wesentliches verloren ginge, was sich der Leser nicht durch eine gut gewählte Beschreibung, ein knackiges Bild, selbst gern denken würde. Du kaust uns alles vor, minutiös.

Das ist ein bissl, als wenn man Leute auf einer langen Busfahrt hinter sich sitzen hat, die ohne Punkt und Komma aus ihrem Alltag quatschen, da könnte man ab der vierten Haltestelle auch nur noch schreien.
Die dürfen das, weil sie keine Autoren sind, die Erlebtes (in diesem Falle: fiktional Erlebtes) mit einer ordnenden Hand vermitteln müßten. Aber dies ist eine KG, die benötigt etwas Struktur und Führung.

Es war kurz vor Zwölf, ich saß noch immer in der Küche. Mir ging es langsam besser. Die erste Vorlesung beginnt um Zehn, dachte ich, da kannst du ja langsam schlafen gehen. Du musst ja nicht gleich heute die Welt umbürsten. Da suchst du dir mal einen freien Tag raus. Jetzt lieber noch ein bisschen Musik hören und einschlafen. Den ersten freien Tag verbrachte ich mit Arne, Kanuverein, der nächste galt dem Sport, fit werden für den Frühling und die engen T-Shirts. Dann wollten meine Eltern wieder besucht werden, ein bisschen angeben, dass der Junge doch jetzt studiert. Mein Kinderzimmer war noch immer im Originalzustand, was mich ziemlich erschreckt hat. Ein Museum meiner Kindheit! Ein Schrein, vor dem meine Mutter den lieben Gott bittet, dass ich ihr kleiner Junge bleiben möge. Vielleicht sollte ich auch die Nabelschnur wieder antackern und zurück krabbeln.
Ich will die unterbewußten Wünsche meiner Mutter nicht real mitbekommen!
Als ich zurück kam, war der März fast um und mein unkompliziertes Leben hatte mich fest im Griff. Ich bereitete mich auf eine Prüfung vor (das heißt, ich trug den Termin in meinen Kalender ein) und erfuhr, dass es diesen Sommer an der Müritz eines der größten Kanutreffen Europas geben sollte. Abends saß ich in meiner Küche und telefonierte mit Silvio, der eigentlich nur zwei Straßen von mir entfernt wohnte. Er redete unentwegt über Sandra, stellte ihre guten Eigenschaften gegen ihre schlechten und versuchte dadurch herauszufinden, wie sehr er sie liebte. Ich hatte keinen Text und fischte ein Stück Käse aus dem Kühlschrank. Plötzlich flog eine Krähe vorbei und ich erinnerte mich an die Bücher von Henry Miller. Mir wurde ein bisschen schlecht, weil ich diese ungeheuer dringende Sache einfach vergessen hatte. Mein Leben ändern!
Die Ausrufezeichen im Text wirken auf mich pubertär und unpassend. Diese gesamte Passage bringt nur Allgemeinplätze, und es würde dem Text absolut nix fehlen, wenn sie ersatzlos gestrichen würde. Das ist reines Bla.

Aber ich frage mich oft, wieso ganz bescheidene Lebenswünsche, wie der meine, sich als genauso schwierig herausstellen. Mit der Arbeit fängt es schon an. Eigentlich bin ich Schneiderin. Mein Beruf ist so gut wie ausgestorben. Manchmal bekomme ich ein paar kleine Aufträge von Designern, manchmal helfe ich in einer Änderungsbude aus. Reicht aber nicht zum Leben. Einmal hatte ich eine richtige Stelle,
(...)
zuzuraunen, aber es reicht eben nur für ein paar rosarote Wochen. Dann kommt das große Entsetzen, dass man ja doch kein Spiegelbild von sich selbst an der Hand hält, sondern einen komplett anderen Menschen. Ist schon schade, dass man sich selbst nicht vögeln kann. Finde zu dir selbst!, heißt es überall. Was soll ich da? Ich will zu den anderen finden.
dito (nur gekürzt, damit hier nicht ganze Passagen stehen, meine aber alles.)

Für all das wäre es günstig, ein, zwei wirklich aussagekräftige Bilder herzunehmen, show don't tell und so; anstatt den Leser da durch jede Hirnwindung mitzuschleifen. Denn der Text ist kein stream-of-consciousness, und selbst das wäre kein Grund, Unwichtiges zu erzählen.

Du hast vllt mal gekellnert, ich kenne allerdings keine Kellnerin mit so viel Zeit, all diese Dinge beschaulich aufzuzählen (vllt sich später dran erinnern, aber nicht hier, wo die Erzählweise Aktualität suggeriert), und dann noch dieses Muttisyndrom hm ... egal, ob das aus der Realität entnommen ist oder nicht: ich hab's Dir einfach nicht abgekauft. Vllt ist aber da in dem Laden auch nix los, andererseits wär der Typ dann auch mehr aufgefallen und rausgeworfen worden.

Fazit: Mich interessieren die Prots nicht, weil sie mir ihre Gedankengänge zu ausführlich und banalisiert aufdrängen. Und an Handlung passiert kaum was, also habe ich auch da keinen Einstieg in den Text bekommen.
Man möchte die Prot am liebsten an den Schultern packen, kräftig durchschütteln und sagen "Hey, wach mal auf, Mädel!". Damit hier mal was für den Leser passiert, was er nicht schon hundermal irgendwo gehört hat.

Zeilenumbruch nach Sprecherwechsel erleichtert das Lesen und "" sollten echter wörtlicher Rede vorbehalten sein, nicht wiedergebener. dafür gäbe es indirekte Rede oder kursiv. Man dnekt hier oft, jetzt sagt endlich jemand was, aber dann ist das auch wieder nur ne Erinnerung.

Nach und vor ... ein Leerzeichen, falls Du nicht mitten im Wort abbrichst. Drei Punkte reichen.
Klammern in literarischen Texten funktionieren nur in Ausnahmen, hier könnten sie raus, weil es unbeholfen wirkt.

Ich will die unterbewußten Wünsche meiner Mutter nicht real mitbekommen!
Verquer: wenn man etwas vermittelt bekommt, ist die Frage, ob man es dann noch unterbewußt nennen kann. Mitbekommen impliziert doch real, das sollte auf jeden Fall raus. Es klingt wirklich ungeschickt, als ob es die Variante gäbe: Ich möchte die bewußten Wünsche meiner Mutter nicht irreal mitbekommen ... hä? Vllt meinst Du aber auch unbewußt? Die Mutter vermittelt etwas, was sie eigentlich (tatsächlich und ihr bewußt) wünscht, unbewußt (ohne ihm es offenbaren zu wollen) an den Sohn? Der davon nix wissen möchte? Das klingt für mich inhaltlich sinnvoller.


Herzliche Grüße,
Katla

 

Hi,

ich mag deine Geschichte =) Ich finde es super über die Kellnerin zu lesen die weiß das sie sich immer in Problemfälle verliebt, aber daran auch irgendwie nichts ändern kann. Dann am Ende fast ein schock: oh mein Gott der Typ hat garkein Problem! Finde ich sehr gut dargestellt ;)
Ich habe mich jetzt nicht länger damit befasst wie die sätze geschrieben sind etc. ich hab es einfach nur gerne gelesen, fand es interessant das ganze aus 2 Perspektiven zu sehen und ich glaube in der Geschichte steckt mehr als man vielleicht beim ersten lesen sieht.

Kompliment von mir

LG
Alizee

 

Danke Katla,

dass du trotz deiner Abneigung der Geschichte noch so viele kritische Zeilen gewidmet hast.
Ja, die Figuren diffamieren sich selbst und das ist nicht gerade der Symphatieträger den man sich für seine Protagonisten wünscht. Und sie sind auch nicht gerade von einer besonders feingeistigen Sprache beseelt, nur leider sind sie die einzigen die Sprechen.
Das fällt mir jetzt auch ins Auge. Ich hab eben bei der Form nur dran gedacht, wie ich mein Thema am breitesten zeichnen kann und das ist wohl für manche Geschmäcker zu breit geworden. Muss ja nicht sein.

Nun, vielleicht fällt mir ja noch eine Lösung ein. Vielleicht hab ich bald ein Auge, wo ich kürzen kann und will. Im Moment bin ich bisserl blind dafür.


Hallo Alizee,

schön, dass es dir gefallen hat.
Dank deinem Kompliment, ich mag meine Geschichte nämlich auch ganz gern, obwohl ich die Kritik auch nachvollziehen kann.

Lieben Gruß, simone.

 

Hallo Simone,

Ich persönlich fand deine Geschichte großartig. Die Art des Aufbaus über die verschiedenen Ebenen von Außeneinwirkung und gedanklicher Auseinandersetzung zeigen die Konflikte und Potentiale deiner Protagonisten auf einer -wie ich es empfinde- nicht oberflächlichen Ebene, da sie erst durch die scheinbare Banalität der gesprochenen Dialoge fassbar und erkennbar werden. Anders ausgedrückt: Die Konflikte stecken für mich zwischen den Zeilen. Wenn du beschreibst: "Ich fand auch die Leute nicht gerade erfrischend. Die meisten saßen ein paar Stunden zu zweit herum und schilderten in den buntesten Farben ihre Beinahe-Karierre." klingt das ein wenig sinnlos. Der selbe Charakter erklärt später einem Trinker warum das Leben doch Sinn macht.
Für mich eine sehr spannende Darstellung.

Sich immer nur starr und strikt an schriftstellerische Grundregeln zu halten finde ich persönlich generell zu eintönig. Ein wenig den Autor erkennen sollte man ja dann doch noch ;-)

Bei einigen Formulierungen und Worten könnte man mit Sicherheit noch ein wenig mehr aus dem Text holen, aber im Großen und Ganzen danke ich dir für die Geschichte.

Lieben Gruß,
reinhard

 
Zuletzt bearbeitet:

Danke Reinhard,

ich habe die Geschichte noch mal ein bisschen aufgehübscht, nichts Großes, nur ein paar kleine Stilglättungen/-Kürzungen und hoffe, dass sie dir immer noch gefällt.

Vielleicht ziehe ich die Charaktere auch noch aus der Erzählperspektive und beschreib das ganze von oben, damit ihre rotzbanale Art erträglich-sympathisch wirkt (würde mich interessieren, ob man damit Leser wie Katla auch fangen kann), aber der Versuch muss noch bisschen auf sich warten lassen, neuen Geschichten zuliebe... .

Lieben Gruß, Simone.

 

Hi,
ganz sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube, das ist eine sehr sauber und gut geschriebene Geschichte. Der Plot selbst gibt mir nicht wirklich viel, es ist alles etwas zu banal für meinen Lesegeschmack. Dennoch ist es stimmig, passend, klingt gut, ist rund, zeigt Finessen und Können. Eigentlich passt alles, aber ich wünschte mir halt mehr Substanz in dem, was erzählt wird.

viele Grüße

 

Hallo,

vielen Dank für die Kritik.
Ich mag ehrlich gesagt auch Banalitäten und bei diesem Versuch aber draus lernen müssen.
Wer gut über Banales schreiben will, muss genau aufpassen, welche Form er wählt.

Dank, S.

 

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