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Der Triumph
Haben Sie schon einmal einen Bankier sagen hören, er habe seine Urlaubspläne sausen lassen, um sich bei vierzig Grad für mehrere Stunden in einen unklimatisierten Hörsaal zu setzen und freiwillig einem Gastvortrag über chronisch bedingte Erbkrankheiten zu lauschen?
Nein? Sehen Sie, ich auch nicht. Und im Grunde genommen hat die Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte, auch überhaupt nichts damit zu tun – bis auf den Ort ...
Alles nahm seinen Lauf an jenem Donnerstagnachmittag im Hörsaal XVI. Es sollte die zweite und somit letzte Möglichkeit für uns darstellen, den miesesten Kurs des gesamten Semesters erfolgreich abzuschließen. Die erste Prüfung hatten wir in den Sand gesetzt, und wenn ich wir sage, meine ich mich und etwa fünzig weitere Kommilitonen. Es lag nicht an unserer Einstellung, und genausowenig war irgendeine mangelnde geistige Kapazität daran schuld – die Ursache für unser Versagen, da waren wir uns alle einig, trug einen Namen: Dr. Stev Lapeg.
Ich war pünktlich, das -über kann ich dabei gar nicht genug betonen! Hochkonzentriert setzte ich mich in die dritte Reihe – von hinten. Mein Ziel war es, diesem sogenannten Lehrkörper nicht zu nahe zu kommen. Um es kurz zu machen: Meine Durchfallquote bei diesem Dozenten in den letzten drei Jahren war um einiges höher als diejenige der pflegebdeürftigen Senioren in den Krankenhäusern unserer Erde. Und obwohl ich bereits unzählige Male bei ihm in der Sprechstunde war, erinnerte er sich nie an meinen Namen – genausowenig wie an diejenigen der übrigen Studenten. Für ihn stellten wir nur eine unnötige Pflicht dar, die er neben seiner Habilitation zu absolvieren hatte. Redete er mit uns – egal ob persönlich oder im Seminar –, schaute er über uns hinweg.
Lapeg kam wie gewöhnlich auf die Sekunde genau, legte seinen Hochglanzaktenkoffer auf das Pult, richtete den Sitz seiner seidenen Krawatte, setzte seine riesige braune Hornbrille auf und verteilte die Aufgabenblätter.
Totenstille.
Ich überflog alles: Homonymie im Kontext des Bühler'schen Organonmodells, das ego-hic-nunc und das paraphrastische Futur im Französischen des 20. Jahrhunderts, die synthetischen ... Himmel, Arsch und unerwarteter geistiger Erguss! Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Sollte das etwa ein Traum sein? Die Themen sagten mir hundertprozentig zu. Sollte sich das Lernen endlich einmal ausgezahlt haben?
Heute werde ich ihm zeigen, was ich kann. An mich wird er sich noch in fünfzig Jahren erinnern! Der Triumph wird mein sein!
Die zwei Stunden vergingen wie im Fluge. Ich vergaß es alles um mich herum, tauchte regelrecht ein in dieses ominöse, abstrakte Gefasel gewisser Linguisten, bei denen sogar Backsteine vor Langeweile das Zeitliche segneten. Selbst als die ersten Studenten ihre Arbeiten abgaben, riss meine Konzentration nicht ab.
Nur noch ein Satz!
»Abgabe!« Lapegs Stimme rauschte an meine Ohren, ich ließ jedoch die Schranke hinab und schrieb weiter. Keine zwei Minuten später war der Saal bereits leer. Dann endlich beendete ich meinen acht-Zeilen-Monstersatz und lachte innerlich – die Stunde der Wahrheit!
Lapeg stapelte unterdessen die Arbeiten und legte sie neben seinen Aktenkoffer. Als ich an das Pult herantrat, musterte er mich kalt an und sagte: »Oh, tut mir leid. Sie hatten genug Zeit.«
Ich schaute ihn erschrocken an.
»Zu spät. Sie sind durchgefallen.«
Mich fröstelte kurz, aber ich wusste, was zu tun war: »Entschuldigen Sie«, begann ich in einem selbstgefälligen Ton, »wissen Sie eigentlich, mit wem Sie es zu tun haben?«
Lapeg schaute über seine Brille zu mir hinauf, rollte mit den Augen und sagte trocken: »Ich habe überhaupt keine Ahnung, tut mir leid.«
»Gut«, murmelte ich, führte meine rechte Hand mit dem theoretischen Gefasel zum Stapel und ließ die Arbeit inmitten der anderen verschwinden.