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Der Turm

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19.02.2006
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Der Turm

Die Sonne brannte.
Holger lag auf dem Dach des Turms, rauchte und blickte in den Himmel. Keine Wolken. Nichts, was ihn von seinen Kopfschmerzen ablenken konnte.
Neben ihm lag Lore. Sie würde ihm noch elf Schuss treu beiseite stehen. Mit der linken Hand streichelte er das warme Holz ihres Schafts. Elf Schuss. Fünf im Magazin, sechs in seiner Westentasche. Elf Schuss, das bedeutete elf Tote. Sich selbst eingeschlossen. Es war nur fair, wenn Lore ihn am Ende richtete.
Holger war der beste Schütze des Turms. Wie viele von den Dingern hatte er schon umgebracht? Als sie den Turm eingenommen hatten, war die Munitionskammer gut gefüllt gewesen. Holger musste Dutzende getötet haben. Aber es änderte nichts. Ob er hundert oder elf Schuss hatte. Da draußen waren mehr von denen, als er jemals würde abknallen können.
Die Luke knarrte, als Piet nach oben kletterte. Holgers Ablösung. Holger setzte sich auf und biss die Zähne zusammen, als er sein Knie belastete. Pflichtschuldig sah er einmal in die Runde. Natürlich war nirgends eine Gefahr auszumachen. Sie mochten die Sonne nicht. Wenn sie Beute witterten, hielt sie auch Sonnenlicht nicht zurück, aber in der Regel krochen sie erst im Schutz der Dunkelheit aus ihren Löchern. Außerdem hörte man sie lange, bevor man sie sah. Doch der Boss schätzte es nicht, wenn man seine Wache vernachlässigte. Gut möglich, dass Piet ihn verpfiff, sollte er ihn beim Rumgammeln erwischen.
Kein Bewohner des Turms roch gut, Piet aber stank. Das bisschen Wasser, das sie zum Waschen über hatten, trank er wahrscheinlich.
Aber Piet roch nicht nur ungewaschen ... In dem Dunst, den er absonderte, schwang etwas Ungesundes mit. Etwas Süßliches. Seine Augen wirkten fiebrig und saßen tief in den Höhlen. Dünnes Haar klebte ihm am Schädel. Er lehnte seine Armbrust ans Geländer und nickte Holger zu.
Stumm erwiderte Holger das Nicken, griff Lore und wollte sich an den Abstieg machen, aber Piet hielt ihn zurück.
»Der Professor sagt, er hat was empfangen.«
Piets Zahnfleisch hatte eine ungesunde gräuliche Färbung. Sein Mundgeruch war widerlich, als verwese etwas in seinem Maul.
»Ich dachte, das Gerät ist kaputt?«
»Hat der Professor wieder zum Laufen gekriegt.«
»Und was hat er gehört?«
Ehe Piet ihm antwortete, schloss er die Luke des Turms.
»Es soll eine Kolonie geben. Im Süden. Ein sicherer Ort, an dem wieder neu angefangen wird.« Das Flüstern machte den fauligen Atem noch schlimmer.
Holger massierte sein schmerzendes Knie. »Und was sagt der Boss dazu?«
»Er hat dem Professor das Funkgerät abgenommen.«
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Holger sog an der selbstgedrehten Zigarette. Vom Turm aus hatte man etliche Kilometer einen guten Überblick über die Steinwüste, in der sie festsaßen.
Im Osten war die Landschaft zerklüfteter, voller gefährlicher Schatten. Im Westen reflektierte der Bus, mit dem sie einst hergekommen waren, das Sonnenlicht. Wie ein erlegtes Tier aus Stahl lag er auf die Seite gekippt im Schotter.
Im Süden konnte man den nächsten Turm erahnen. Ihr erster Versuch, dort hinzugelangen, war in dem gleichen Desaster geendet wie ihr letzter Versuch. Der lag nun beinahe drei Monate zurück. Seit diesem Tag waren sie nur noch zu sechst im Turm.
»Dir ist es doch auch aufgefallen, oder?«, sagte Piet. »Dass der Boss sich verändert hat.«
Holger sagte nichts.
»Wann bist du das letzte Mal satt geworden, Holger? Sieh dich an, du siehst aus wie ein Gespenst.«
Holger blickte Piet in die Augen und mit einem Mal erschrak er. Konnte es sein, dass er genauso aussah wie Piet? Dass auch er langsam verfiel? Wann hatte er zuletzt in einen Spiegel gesehen? Unwillkürlich fuhr er sich durch seinen Bart. Wie Stacheldraht.
»Der Professor, Feng und Bert sind auch nur noch Gerippe. Und der Boss? Sieht aus wie das blühende Leben.«
»Ich leg mich nicht mit dem Boss an«, stellte Holger klar und schnippte seinen Zigarettenstummel über die Brüstung. Von hier oben ging es gute neun Meter nach unten.
Er packte Lore und wollte sich zum zweiten Mal erheben, aber wieder gelang es Piet, ihn zurückzuhalten.
»Ich weiß, dass du Kopfschmerzen hast. Wir alle leiden darunter. Und unter Schlimmerem. Was sagt dein Knie, hm? Bert hat neulich einen Blick in die Kammer vom Boss erhascht. Der bunkert nicht nur Lebensmittel und Wasser. Da sind auch Tabletten und Medizin. Genug für uns alle.«
»Bert sieht manchmal komische Dinge«, sagte Holger. »Ohne den Boss hätten wir es nie geschafft.«
Piet nickte. »Aber der Boss ist nicht mehr derselbe. Guck dir seine Augen an. Der ist ständig high. Keine Ahnung, was er sich einpfeift, aber der ist zugedröhnt bis über beide Ohren.«
Holger war diese Veränderung nicht entgangen. Zu den Geduldigen hatte der Boss nie gehört, aber seine Gereiztheit nahm zu. Doch das galt für sie alle. Der Turm war mit seinen vier Stockwerken nicht eben klein, aber zwangsläufig geriet man aneinander.
Sich gegen den Boss zu stellen ... Er schüttelte den Kopf. Sich um seinen eigenen Dreck kümmern, das war seine Devise. Deswegen hatte er überlebt. Nur deswegen war er aus der Stadt entkommen, als der ganze Scheiß anfing. Er unterdrückte die Bilder, die hochzusteigen drohten, und schüttelte abermals den Kopf.
»In Ordnung«, sagte Piet. »Nur eins noch: Als wir den Turm erreichten, da hatte ich das Gefühl, dass wir eine Chance hätten, dass wir vielleicht überleben könnten. Und ich weiß, dass ich mit diesem Gefühl nicht allein war. Mittlerweile erinnere ich mich an diese Hoffnung nur noch wie an einen Traum. Einen Schatten, etwas, das man nicht greifen kann.«
Piet zog Rotze hoch und spuckte einen Klumpen über die Brüstung.
»Aber das ist okay«, fuhr er fort. »Damit habe ich meinen Frieden gemacht. Was auch immer die ganze Scheiße soll, wahrscheinlich haben wir sie verdient. Von einem Viech gebissen zu werden, das nehme ich in Kauf. Ich verkaufe mein Leben so teuer wie möglich und der letzte Bolzen ist für mich.«
Piet packte Holger an der Schulter und zwang ihn, ihm direkt in die gelben Augen zu sehen. Es lag eine wilde Entschlossenheit darin, der Drang zu überleben. Und eine Warnung. »Aber ich werde nicht hier drinnen krepieren, weil ihr vor dem Boss kuscht!«
Holger nickte und die Krallenhand löste sich von ihm.
Er schulterte Lore und kletterte die Leiter hinab. Die acht Sprossen waren für sein Knie immer die größte Herausforderung. Muffige Dunkelheit umfing ihn. Er klopfte das verabredete Signal und die Stahltür zum obersten Geschoss wurde aufgerissen.
Berts eines Auge linste ihn misstrauisch an. »Hat ja lange gedauert.«
Die Augenklappe verdeckte den Krater in seinem Gesicht nur unzulänglich. Auf dem schwarzen Stoff war ein stilisiertes Auge gezeichnet, das von einem Dreieck umschlossen wurde. Wenn Bert einen sitzen hatte, erzählte er gern von einer Weltverschwörung, deren gescheiterte Pläne sie dem Ausbruch des Virus‘ verdankten.
»Piet schwatzt halt genauso gern wie du«, sagte Holger und drängte sich an dem Einäugigen vorbei.
»Der Boss will dich sehen«, rief Bert ihm hinterher.
Der Turm bestand aus vier Stockwerken. Der Boss beanspruchte das dritte für sich allein. Es war das einzige Geschoss mit einem Balkon. Niemand hatte dieses Recht je in Frage gestellt.
Holger klopfte und wartete.
Der Boss öffnete, seine Gestalt füllte beinahe den ganzen Türrahmen aus. Wie immer steckte er in seiner verwaschenen Tarnuniform, so eng geknöpft, dass es schien, er müsse nur einmal Luft holen, um die Knopfleiste zu sprengen. Und wie immer war er tadellos rasiert, der Schnurrbart wie gebürstet.
Der Boss ließ ihn in eine Art Vorraum ein. Zwei Türen gingen von hier ab und Holger war überrascht, als der Boss ihn in eines der dahinterliegenden Zimmer führte. Es schien um etwas Dringliches zu gehen.
Der Raum war durch die großen Glasfenster lichtgeflutet und Holger musste die Augen zusammenkneifen. Er nahm in einem zerschlissenen Sessel Platz. Lore lehnte er an das Polster. Griffbereit. Das Sesselmuster war kaum mehr zu erkennen, doch der Stoff fühlte sich wunderbar an. Weich und spröde zugleich. Auf dem Tisch standen zwei Gläser. Der Boss machte sich an einem der zahlreichen Schränke zu schaffen und kam mit einer halb geleerten Flasche zurück. Er knallte sie auf den Tisch und die bernsteinfarbige Flüssigkeit schwappte darin. Holger leckte sich über die rissigen Lippen.
Der Sessel ächzte, als der Boss ihm gegenüber im Platz nahm.
»Holger, auf Euch konnte ich mich immer verlassen.«
Es spielte keine Rolle, was der Boss sagte, wann immer ein Wort aus seinem Mund kam, klang es wie ein Befehl.
»Darauf trinken wir.«
Diesem Befehl folgte Holger willig. Er gab ein wohliges Stöhnen von sich, als ihm der Alkohol den immerwährenden Wüstenstaub aus dem Rachen brannte. Er gönnte sich den Luxus, kurz die Augen zu schließen und der Wärme in seinem Bauch nachzuspüren. Für einen Moment ließen sogar die Kopfschmerzen nach.
»Was haltet Ihr von Piet?«, riss ihn der Boss aus seiner Entspannung.
»Er ist gut mit der Armbrust.«
»Er entwickelt sich zu einer Gefahr.« Mit Daumen und Zeigefinger strich der Boss über seinen Oberlippenbart.
»Sir?«
»Seht ihn Euch an, sein Körper verfällt.«
»Ihr meint, er ist infiziert? Aber er zeigt keine tollwütigen Symptome. Er scheint ganz bei sich zu sein.«
»Was wissen wir schon über den Verlauf einer Infektion? Bei manchen geht es schnell, andere verwandeln sich erst nach Stunden. Vielleicht kann es sogar Tage dauern. Selbst der Professor weiß nicht mehr dazu zu sagen. Sicher ist, dass wir dieses Risiko einer möglichen Infektion nicht hinnehmen können. Vollkommen klar, sagt Ihr? Er versucht, die Männer aufzuwiegeln. Er hat zum Beispiel behauptet, eine Nachricht über Funk empfangen zu haben, aber das Gerät ist unwiederbringlich zerstört. Ich habe es selbst untersucht. Nichts.«
Holger ließ sich noch einmal nachschenken.
»Einauge und Schlitzer, die halten zu Piet. Und wer weiß schon, was im Kopf des Professors vorgeht?«
Er prostete ihm zu. Das Glas sah winzig aus in der Hand des Bosses. Holger wusste, wozu diese Hände in der Lage waren.
»Ihr habt gedient, Holger. Ihr wisst, wie die Dinge laufen, wie wichtig Disziplin ist. Piet und die anderen sind Zivilisten. Sie schlagen sich wacker. Aber sie drohen die Disziplin zu unterwandern. Ohne Disziplin haben wir schon verloren, sind wir nicht besser als diese Zombies da draußen.«
»Ich behalte Piet im Auge«, versprach Holger. Es gefiel ihm, wie schwer sich seine Zunge anfühlte.
»Das wollte ich hören, Soldat!«
An der Tür steckte ihm der Boss eine Pillenschachtel zu. »Gegen die Kopfschmerzen.«
Angenehm leichtfüßig stapfte Holger den Treppenaufgang nach unten. Er nahm seine Essensration und die des Professors aus der Küche und lief ins Erdgeschoss. Dort schloss er die schwere Tür des Zellentraktes auf.
»Frühstück, Professor.«
Wie gewöhnlich kamen aus der hintersten Zelle geschäftige Geräusche. Es klirrte und klapperte leise. Dazu die murmelnde Stimme des Professors, der mit sich selbst sprach oder vor sich hin summte. Zu gern hätte Holger gesehen, was der Professor darin werkelte. Doch den Schlüssel für die Zellen verwaltete der Boss. In der Nachbarzelle lagen die sezierten Überreste eines Infizierten. Was auch immer der Professor damit angestellt hatte, an etwas Menschliches erinnerten die Fleischklumpen längst nicht mehr. Holger stellte das Blechtablett mit dem Frühstück auf die Erde und beförderte es mit einem gezielten Tritt in die Zelle des Professors.
Der Kopf des Professors zuckte in Holgers Sichtfeld. Er wirkte überproportioniert im Vergleich mit dem restlichen Körper. Wäre nicht der große Schädel, könnte er wahrscheinlich durch die Gitter seiner Zelle schlüpfen. Die krausen Haare waren angesengt, die Brille saß schief auf der Nase. Er umschloss die Gitterstäbe mit seinen dürren Händen und rief: »Holger! Ich glaube, ich hab‘s! Bitte sprich mit dem Boss, ich brauche dringend einen frischen Infizierten zum Testen!«
»Der Boss hat genug von dir. Sei froh, dass er dir deinen Kram gelassen hat und dich nicht angekettet hat.«
»Verstehst du denn nicht?« Der Professor rüttelte an den Stäben. »Ich hab das Heilmittel!«
»Das hast du schon einmal behauptet. Und dann hätte uns dein Testobjekt beinahe in Stücke gerissen!«
Holger riss seine Aluration auf und knabberte an einem Keks.
»Aber diesmal bin ich mir sicher!«, beteuerte der Professor.
Holger stopfte sich einen zweiten Keks in den Mund und nuschelte: »Keine Chance.«
Das Tablett schepperte zu ihm zurück. Der Professor hatte sein Essen nicht angerührt. Neben der Ration lag eine kleine Spritze auf dem Tablett.
»Hör zu«, rief der Professor. »Wenn ich es nicht kann, dann musst du es für mich tun.«
Holger nahm die Spritze auf und betrachtete den dickflüssigen roten Inhalt.
»Verstehst du denn nicht? Du hältst den Impfstoff in Händen, der alles verändern könnte. Du musst ihn an einem Infizierten testen. Du musst! Er wird sich zurückverwandeln. Ganz sicher!«
»Gar nichts muss ich!«, fauchte Holger und schlug die Tür unnötig heftig hinter sich ins Schloss. Erstaunt stellte er fest, dass er die Spritze noch immer in Händen hielt. Grummelnd steckte er sie in eine Tasche seiner Weste.
Dann ging der Alarm los.
Holger hastete die Stufen hoch. Da er der beste Schütze war, war seine Position auf dem Dach. Bert und Feng kamen ihm auf halber Höhe entgegen. Ihre Positionen waren im ersten und zweiten Stock.
Piet durfte das Dach erst verlassen, wenn Holger seine Wache übernehmen konnte. Der Boss würde vom Balkon aus schießen.
Holger stieß die Luke auf und hangelte sich aufs Dach. Sein Knie pochte wild.
Piet ließ den Hammer fallen, mit dem er auf die Glocke eingedroschen hatte. Überflüssigerweise zeigte er mit ausgestrecktem Arm in die Wüste.
»Wir bekommen Besuch.«
Anscheinend war heute der Tag des Erstaunens. Der Turm wurde nicht von Infizierten gestürmt. Es näherte sich ein Truck aus Westen.
»Vielleicht ändert sich ja doch noch alles zum Guten!«, sagte Piet und schlüpfte mit seiner Armbrust durch die Dachluke.
Der Truck war umgerüstet, die Karosserie mit Stahlplatten verstärkt. Der mächtige Hänger war auf die gleiche Weise gesichert. Aus vergitterten Fenstern meinte Holger Gewehrläufe ragen zu sehen. Er schnappte sich das Fernglas und besah sich den Ankömmling genauer. Ihn überkam das Gefühl eines Déjà-vus. Vor einer Ewigkeit waren sie selbst aus dieser Richtung in einem Bus gekommen. Ihr Bus war damals nicht so stark gepanzert gewesen, aber daran hatte es auch nicht gelegen. Es war die kaum mehr erkennbare Straße. Unter den Schichten von Staub und Schotter verbargen sich tückische Schlaglöcher und gefährlich spitze Steine.
Im Fahrhaus des bulligen Trucks konnte er zwei Leute ausmachen. Einen kräftigen Mann hinter dem Steuer und eine Brünette, die eine Karte hielt und wild gestikulierte. Sein Blick hatte ihn nicht getäuscht. Mindestens vier Läufe guckten aus den Fenstern des Hängers.
Holger nahm am Rand seines Blickfeldes huschende Bewegungen wahr. Natürlich hatte sie das Motorengeräusch angelockt. Er justierte das Fernglas. Erst waren es einige wenige Gestalten; gespenstischen Schatten gleich erschienen sie wie aus dem Nichts. Als spucke sie der Boden aus. Und es wurden ihrer mehr. Aus welchen Höhlen die Verdammten auch immer krochen, es waren viele. Sie vertrugen das Tageslicht nicht, aber der Hunger trieb sie raus.
Die Bewohner des Trucks hatten die Ankömmlinge ebenfalls gesichtet. Mündungsfeuer flammte auf, Schüsse peitschten durch die Wüste. Die ersten Angreifer fielen.
Holger machte sich nicht die Mühe, Lore zu entsichern. Noch war das Geschehen zu weit entfernt.
Die Schützen verstanden ihr Handwerk. Mehr und mehr der huschenden Schatten stolperten, stürzten, brachen getroffen zusammen. Das unverkennbare Gekreisch der Infizierten wehte heran. Und das Schmatzen. Zumindest bildete Holger sich das ein. Aber für einen Moment hatten die Leute im Truck Ruhe vor den Angreifern, denn die Nachrückenden fielen über ihre erschossenen Artgenossen her, die hilflos am Boden zuckten.
Da geriet der Truck ins Schlingern, als er in eine mächtige Kuhle abtauchte. Der Fahrer riss das Steuer herum, konnte aber den Zusammenprall mit dem liegenden Bus nicht mehr verhindern. Metall kreischte über Metall, Funken stoben in den Himmel, als der Truck längs am Bus entlangschabte. Der Fahrer wurde von der Wucht des Aufpralls gegen die Scheibe geschmettert. Ein roter Fleck platzte auf das Glas. Der Truck schob sich noch etwas vorwärts und verreckte dann.
Aber er war näher an den Turm gekommen, als sie damals. Sehr viel näher. Es mochten zweihundert Meter sein. Wenn die Trucker jetzt losrannten, konnten sie es schaffen.
Aber natürlich verspielten sie ihren Vorsprung. Das taten die meisten. Sie dachten zu lange nach. Und deshalb waren ihnen die Infizierten überlegen. Sie dachten nicht einen Moment lang nach, sie wurden allein und ausschließlich vom ältesten aller Triebe gesteuert: Vom Hunger.
Die Brünette war nicht untätig. Sie versuchte hinter das Steuer des Verunglückten zu kommen. Aber der massige Kerl war zu schwer für sie. Vielleicht wehrte er sich sogar noch schwach, das konnte Holger durch das Fernglas nicht genau erkennen.
Endlich sprang die Tür auf und die Frau flüchtete ins Freie.
Und als wäre das ein Signal gewesen, stürzten auch die Insassen aus dem Hänger. Insgesamt waren es neun Personen. Mindestens drei von ihnen waren Frauen. Eine Gestalt war kaum dem Kindesalter entwachsen.
Die ersten Infizierten nahmen die Verfolgung auf. Einige rannten, andere jagten in großen Sätzen, wieder andere liefen wie Hunde auf Armen und Beinen gleichzeitig. Ihnen allen war nur gleich, dass sie schnell waren. Verdammt schnell.
Holger legte Lore an. Wartete. Die Flüchtenden waren nicht wehrlos, sie schossen die Infizierten über den Haufen und lenkten damit die Nachrückenden ab. Aber sie machten denselben Fehler wie die meisten. Sie nahmen sich Zeit, die sie nicht hatten. Sie setzten das Schießen über das Laufen.
Schon wurde der erste Mann angesprungen. Lore zuckte, der Angreifer wurde zurückgeschleudert und regte sich nicht mehr.
Lore spuckte zweimal schnell hintereinander Feuer und das Kind in der Truppe gewann eine wertvolle Sekunde Leben. Es rannte weiter.
Im gleichen Moment riss ein Infizierter einer Frau die Kehle auf. Sofort waren drei andere herbei und begruben sie unter Fauchen und Fletschen.
Ein Mann wurde von zwei Angreifern angesprungen und zu Boden geworfen. Holger erschoss einen Weiteren, der mit seinen Krallen im Begriff war, den Rücken eines Jungen zu zerfleischen. Das Kind war nicht mehr zu sehen. Zwei Männer starben, wurden regelrecht zerfetzt unter einer gemeinsamen Attacke einer ganzen Meute kreischender Kreaturen. Aber das Unglaubliche geschah: Die Übrigen erreichten den Turm.
Holger konnte sich einen Jubellaut nicht verkneifen. Routiniert lud er nach. Lore warf zwei weitere Bestien zurück. Eine Dritte stürzte mit einem Armbrustbolzen im Schädel zu Boden.
Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die Trucker draufgingen, denn die Turmtür öffnete sich nicht. Verzweifelt trommelten die Überlebenden auf die Tür ein.
»Verdammt, was ist da los?« Holger feuerte, bis er nur noch einen Schuss übrig hatte, wetzte die Leiter runter und musste selbst mehrfach gegen die Schutztür hämmern, bis Bert schließlich öffnete.
»Was zur Hölle geht da unten vor?«
»Der Boss verbietet, die Fremden einzulassen!«
Holger stürzte die Treppe hinab. Er würde diesen Gewaltmarsch später bereuen, das wusste er, doch er ignorierte den Schmerz und rannte weiter.
Im Erdgeschoss waren der Boss und Feng in einem Kampf verstrickt. Feng machte seinem Spitznamen Schlitzer alle Ehre. In jeder Hand ein Messer drang er wirbelnd auf den Boss ein. Doch der große Mann bewegte sich erstaunlich leichtfüßig und wich den Klingen aus. Er lachte sogar dabei. Piet mühte sich soeben wieder auf die Beine. Er blutete stark an der Stirn. Von außerhalb drang der Lärm von Schüssen und Gekreisch in den Turm.
»Seid ihr alle verrückt geworden?«, brüllte Holger.
In diesem Moment fand die Faust des Bosses ihr Ziel. Wie eine Strohpuppe flog Feng durch den Raum, schmetterte gegen die Wand und blieb reglos liegen.
Der Boss hastete zur Tür. »Wir dürfen sie nicht öffnen! Sie könnten infiziert sein! Ich befehle ...«
Holger zog dem Boss den Gewehrkolben über den Schädel. Mit einem Grunzen stürzte er zu Boden. Holger kam es vor, als bebe der gesamte Turm.
»Piet, gib mir Deckung! Jetzt!« Damit riss er die Tür auf. Die Brünette und ein Mann in einem blutdurchtränkten Baumfällerhemd stolperten ins Innere des Turms. Ein Infizierter sprang ihnen hinterher: Eine bösartige Karikatur eines Menschen. Abgemergelt, und haarlos, die Haut schälte sich in Streifen ab, legte Schichten grauen Fleisches frei, in dem es zuckte und schwärte, als wäre die Verwesung bereits im vollen Gange. Das Gesicht schien einzig aus einem gigantischen Maul zu bestehen, entblößte groteske Zahnreihen. Sehnige Arme mit langen Krallen schnappten nach den Flüchtenden.
Piets Bolzen pflückte die Kreatur im Sprung aus der Luft und schleuderte sie zurück in die Klauen ihrer Artgenossen.
Holger warf sich mit seinem gesamten Gewicht gegen die Tür. Sie quietschte schwerfällig, dann schnappte das Schloss. Es rummste, als sich dutzende Leiber von außen dagegen schmissen.
Die Brünette rollte sich zur Seite. Sie hustete. Der Mann zuckte unkontrolliert.
»Verdammte Scheiße, er ist infiziert! Ich muss erst nachladen«, rief Piet und fummelte an seiner Armbrust herum.
Holger war vom Anblick der Verwandlung wie gelähmt.
Es sah aus, als bewegte sich etwas unter der Haut, als würden Sehnen und Knochen verschoben, als vollzöge sich die gesamte Evolution im Zeitraffer, rücksichtslos, gewalttätig. Der Mann wandte und krümmte sich, schrie. Er schrie so sehr, dass die Mundwinkel einrissen. Der ganze Kiefer war in Bewegung, verschob sich knirschend, um den riesigen Hauern Platz zu machen, die aus dem Zahnfleisch platzten.
Und die Augen. Die Augen waren das Schlimmste. Die Augen zuckten und weiteten sich, krampften zusammen in Schmerz, rollten panisch in den Höhlen, waren nur noch ein Flehen nach Erlösung. Dann platzten die Äderchen und fluteten die Augen rot. Die Pupillen verengten sich zu Schlitzen und das Zittern erstarb - und nahm alles Menschliche mit sich.
In dem Moment, als das Wesen das Maul zu jenem unverkennbarem Kreischen aufriss, drückte Holger ab. Ein sauberer Treffer zwischen die Augen. Die Kreatur regte sich nicht mehr.
Aber es war noch nicht vorbei. Draußen wurde Sturm gelaufen gegen die Tür. Doch wofür der Turm auch immer erbaut worden war, einem unbewaffneten Angriff hielt er stand. Die Mauern waren aus festem Stein, die Tür aus massivem Stahl. Das Problem lag bei den Fenstern. Im Erdgeschoss gab es keine, aber der erste Stock musste gesichert werden.
Der Boss lag bewusstlos auf dem Boden. Feng ebenfalls. Piet hielt sich seine blutende Stirn. Die Frau saß regungslos da und starrte ins Leere.
Holger erkannte, dass er nun die Befehle geben musste.
»Piet, sicher den ersten Stock! Ich kümmer mich um den Boss und Feng. Und sag Bert, er soll auf Position bleiben. Schießt nur, wenn nötig und lasst euch nicht sehen.«
Sie wussten wenig über die Infizierten, aber ihr Verhalten war nicht schwer zu durchschauen. Die Biester gerieten in Raserei, wenn sie Menschen witterten, vergaßen darüber alles, nahmen jeden Schmerz in Kauf, um an ihre Nahrung zu gelangen. Sie ignorierten, dass das Sonnenlicht ihre dünne Haut versengte, brachen sich freiwillig Knochen und rannten sich den Schädel ein - doch sobald sich länger keine Beute mehr blicken ließ, kehrte ihr Selbsterhaltungstrieb zurück. Dann verschwanden sie wieder in ihren Höhlen.
Während Piet die Treppe raufrannte, kniete Holger neben Feng nieder. Sein Knie knackte. Der Boss hatte den Schlitzer übel zugerichtet, aber Feng war hart im Nehmen. Holger verpasste ihm eine Backpfeife, dann noch eine. Fengs Augen flatterten auf. Sofort hatte er ein Messer in der Hand, aber Holger hielt sein Handgelenk fest. »Beruhig dich!«
»Ich mach den Kerl fertig!«, hustete Feng.
»Nichts wirst du. Kannst du stehen?«
Feng konnte, doch er musste sich abstützen. Noch immer hämmerte es von außen gegen die Tür. Heulen und Gekreisch drang gedämpft zu ihnen vor.
»Wir sollten ihn kalt machen!«, sagte Feng. »Er wird uns alle umbringen, wenn er wieder wach wird.«
»Vielleicht brauchen wir ihn noch.«
»Dann in eine Zelle mit ihm.«
Holger nickte. Zu zweit schleiften sie den Körper zum Zellentrakt. Holger schloss auf.
»Was ist da draußen los?«, rief der Professor aus seiner Zelle. Seine Stimme klang panisch. »Was ist mit dem Boss? Lasst mich raus, ihr könnt mich hier nicht drinnen lassen. Lasst mich raus!«
»Schnauze!«, bellte Feng, während Holger die Taschen des Bosses abtastete. Er nahm ihm alles ab, was er finden konnte. Ein Messer, Zettel, Tabletten, Kaugummis ... Aber er fand keinen Schlüssel.
»Scheiße, er muss ihn oben haben.«
Sie ließen ihn im Vorraum liegen und Holger verriegelte sorgfältig die Eisentür.
»Ihr könnt mich doch hier nicht mit ihm zurücklassen!«, kreischte der Professor, doch sie ignorierten ihn.
»Du bewachst die Tür und passt auf die Kleine auf. Ich seh oben nach.«
Feng nickte und Holger humpelte die Treppen hoch.
Bevor er nach dem Schlüssel suchte, sah er nach Piet. Er hatte sich einen behelfsmäßigen Verband angelegt und stand seitlich am Fenster, so dass er durch den Bretterverschlag blicken, er aber nicht von unten gesehen werden konnte.
»Wie sieht‘s aus?«, fragte Holger leise.
»Sie streiten sich noch um die Überreste. Die Ersten haben sich schon zurückgezogen.«
»Hast du Schmerzen?«
Piets Gesicht war blasser denn je, seine linke Gesichtshälfte mit getrocknetem Blut verklebt. Holger ließ die Szene im Erdgeschoss noch einmal vor seinem geistigen Auge ablaufen. War Piet mit dem Blut eines Infizierten in Berührung gekommen?
»Ich komme klar.«
Holger nickte und huschte hoch in den dritten Stock. Die Tür war nicht verschlossen. Er trat in den Raum, in dem er mit dem Boss erst vor kurzem gesessen und getrunken hatte, und durchsuchte die Schränke.
Bert hatte recht gehabt. Die Schränke stellten sich als wahre Schatzkisten heraus: Wasserflaschen, Alkohol, Konservendosen, eingeschweißte Rationen, Pillen, Tabletten, Ampullen, Spritzen, Verbandsmaterial. Und diverses Zeugs mehr. Aber kein Schlüssel. Die zweite Tür war verschlossen, doch es handelte sich um einfache Zimmertüren aus Holz. Holger warf sich zweimal dagegen und der Rahmen gab splitternd nach.
Das Zimmer war kleiner und beherbergte eine Matratze. Auf einem Schemel standen eine Waschschüssel und ein Spiegel. Durch das Glas zog sich ein Sprung, von dem feine Risse über die gesamte Fläche mäanderten. Holger vermied es, in den Spiegel zu sehen. Daneben befand sich eine Munitionskiste. Holger entnahm ihr die einzig noch brauchbare Waffe, einen alten Revolver. Er überprüfte die Trommel und stellte fest, dass alle acht Kammern bestückt waren. Außerdem fand er Munition für Lore. Er lud sie nach und stopfte sich alle weiteren Patronen in die Taschen seiner Weste. Zusätzlich fand er eine Leuchtpistole. Auch die steckte er ein.
Im Deckel der Kiste klemmten verblichene Fotos. Holger erkannte auf einem eine Frau und einen Mann. Auf den Schultern des Mannes ritt ein zahnlückiger Junge. Die Frau lachte den Mann an. Er war groß, in etwa so groß wie der Boss. Unwillkürlich stiegen Bilder aus einer anderen Zeit auf, als Lore noch eine Frau und kein Gewehr war. Lore. Erst als er das Foto zerriss, verschwanden die Bilder aus seinem Kopf. Dabei entdeckte er den Schlüsselring, der in einer Schlaufe steckte. Er befestigte daran gedankenverloren seine eigenen Schlüssel und blinzelte die Tränen weg.
Die Geräusche von außerhalb waren verklungen. Holger sah aus dem Fenster. Ein leichter Wind war aufgekommen und verwehte die letzten Spuren des Massakers von eben. Die Infizierten ließen nicht einmal Knochen zurück. Von eben? Wie lang hatte er auf der Matratze gesessen? Er verfluchte seine Träumerei und machte sich wieder an den Abstieg. Jeder Schritt schmerzte.
Bevor er unten ankam, wusste er, dass es Probleme gab. Lore im Anschlag trat er ins Erdgeschoss.
Die Brünette lag auf dem Steinboden, ihre Kleidung zerrissen. Feng hockte zwischen ihren Beinen, die Hose runtergelassen. Mit einer Hand presste er ihre Arme auf den Boden, mit der anderen drückte er ihr ein Messer an den Hals.
»Mach das nicht noch mal, du Schlampe!«, zischte er und verspritzte dabei Speichel.
Sie wimmerte, als er mit der Klinge langsam ihre Kehle herabwanderte.
»Lass das, Feng!«
Fengs Kopf zuckte zu Holger hoch. In seinem Blick lag ein wildes Funkeln.
»Es war ihre Idee. Halt dich da raus!«
Das Gewehr auf Feng gerichtet, kam Holger langsam näher. »Das sieht aber nicht so aus.«
»Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß!«
»Sie ist nicht unsere Gefangene, Feng! Wir haben dringendere Probleme.«
Feng behielt den Lauf im Auge, machte aber keine Anstalten sich von der Frau zu erheben. Ihre linke Gesichtshälfte war geschwollen, die Lippen aufgeplatzt.
»Jetzt verstehe ich, du willst die Schlampe für dich«, knurrte Feng. »Denkst wohl, du bist was Besseres.«
»Vielleicht ist sie infiziert.«
Das wirkte. Zögerlich ließ er von der Brünetten ab. Sie kroch weg von ihm und raffte ihre zerfetzte Kleidung zusammen.
»Hat sie dich gebissen?«, fragte Holger.
Feng antwortete nicht, starrte die Frau an, nicht wissend, ob er sie hassen oder begehren sollte. Seine Hose hing ihm zwischen den Knöcheln.
»Hat sie dich gebissen?«
Endlich zog er sich die Hose hoch und steckte das Messer weg. »Nein, Mann, hat sie nicht.«
»Geh hoch in den Dritten. Der Boss hat Nahrungsmittel und Suff gebunkert. Wir können vom Balkon aus Wache schieben. Sag auch den anderen Bescheid. Und verarztet euch.«
»Bist du jetzt also der Boss, ja?« Das Funkeln war nicht verschwunden.
»Ich komm gleich nach.«
Feng stampfte die Treppen hoch. Erschöpft stieß Holger die Luft aus. Die Kopfschmerzen ließen ihn die Augen zusammenkneifen. Er setzte sich der Frau gegenüber, streckte das schlimme Bein aus und massierte das Knie. Lore lag neben ihm.
Die Brünette wollte vor ihm zurückweichen, doch in ihrem Rücken war bereits die Wand. Holger konnte ihr die Angst nicht verübeln. Sie hatte allen Grund zur Angst. Er spürte das gleiche Verlangen, dass auch Feng zum Überschnappen gebracht hatte. Wann hatte er zuletzt eine Frau gehabt? Und sah sie nicht aus wie Lore? Die verweinten Augen, das verfilzte Haar, sogar die blutige Lippe. So hatte auch Lore ausgesehen, kurz bevor er ihr den Schädel weggeschossen hatte. Du hast sie erlöst, verdammt! Du hast sie erlöst!
Lore.

Er quetschte heftig die Kniescheibe und biss vor Schmerz die Zähne zusammen. Es half: Der Bann war gebrochen, die Bilder verschwanden.
»Wie heißt du?«, fragte er.
Lore.
»Was?«
Sie umschlang ihre Knie mit den Armen. »Dana, ich heiße Dana.«
»Also gut, Dana, wohin wart ihr mit dem Truck unterwegs?«
»Es gibt da eine Kolonie im Süden. Sie senden Funksprüche. Da wird neu angefangen. Und sie arbeiten an einen Impfstoff.«
Er erinnerte sich an die Karte, die sie im Truck gelesen hatte. »Was habt ihr geladen?«
»Wir haben Benzin und Wasser. Ausreichend.«
Dann brach es aus ihr heraus. Holger wollte ihre Geschichte nicht hören, aber sie erzählte sie ihm ungefragt. Tränen wuschen ihr den Schmutz aus dem blassen Gesicht, während sie eine Variante der gleichen Ereignisse schilderte, wie sie alle Überlebenden berichteten. Er hörte nur mit halbem Ohr zu. Sein Kopf dröhnte und er kramte nach den Tabletten. Er hatte es selbst erlebt. Das Virus brach über Nacht aus. Ohne Vorwarnung. Zusammenbruch und Chaos. Ein Tropfen Blut oder Speichel eines Infizierten reichten aus, um Nicht-Infizierte anzustecken. Wer nicht floh, starb.
Es war nicht schlimm, dass er nicht richtig zuhörte, Dana erwartete keine schlauen Kommentare, sie musste es einfach nur rauslassen. Das wusste er von sich selbst. Nachdem sie geendet hatte, ging ihr Atem ruhiger. Holger fand die Tabletten und schmiss sich zwei davon ein. Dann nahm er noch einmal zwei. Als er sie wieder wegsteckte, berührten seine Finger etwas anderes. Vorsichtig zog er die Spritze des Professors aus einer Tasche.
»Wir könnten es noch immer schaffen!«, flüsterte Dana. Ihre Stimme bekam etwas Eindringliches. »Du willst mich doch, oder? Ich hab bemerkt, wie du mich angesehen hast. Du kannst mich haben. Ich gehöre dir. Aber bitte nimm mich mit.«
Er sah sie lange an, rollte nervös die Spritze in seinen Händen, versuchte die Stimmen zu sortieren, die in seinem Kopf durcheinanderschrien. Irgendwann ertrug er ihren flehenden Blick nicht mehr und guckte weg. Einer spontanen Idee folgend, humpelte er zu dem Toten im Baumfällerhemd. Mit den Zähnen zog er die Schutzkappe von der Spritze. Er spuckte das Plastik achtlos auf den Boden und ging neben der Leiche in die Hocke. Holger zwang sich, ihr nicht ins entstellte Gesicht zu sehen, sondern fixierte die Stelle, an der er das Herz vermutete. Er holte einmal mächtig aus und rammte die Nadel tief in den Brustkorb und drückte den gesamten Inhalt der Spritze in den Körper. Er machte sich nicht die Mühe, die Spritze wieder herauszuziehen.
»Was tust du?«
Er antwortete ihr nicht und wartete. Nichts geschah.
Erschöpft nahm er wieder ihr gegenüber Platz und seufzte. Der Professor war schon verrückt gewesen, als er sich ihnen angeschlossen hatte.
Dana rückte näher an ihn heran. Ihr zerrissenes Shirt gab den Blick auf ihren Busen frei. Sie war schmutzig und roch ungewaschen, aber verdammt, sie war eine Frau. Holger hasste sich für seine Reaktion.
»Ich tu alles, was du willst. Ich bin sicher keine Belastung«, beeilte sie sich zu versichern. »Ich kann mit einer Waffe genauso gut umgehen wie mit einem Schwanz.«
Sie kam noch näher. »Du wirst es nicht bereuen, das verspreche ich dir.«
Er wusste, dass er sie nicht so nah an sich rankommen lassen durfte, doch er hatte keine Kraft mehr.
»Wie weit ist es zu der Kolonie?«
»Eine Woche maximal. Aber auf der Karte sind entlang der Route Türme verzeichnet, wie dieser. Keiner weiter als einen halben Tag entfernt. Mit dem Truck kann man das schaffen. Wir könnten das schaffen. Zusammen.«
»Vielleicht bist du infiziert«, sagte er lahm.
»Bestimmt nicht. Ganz bestimmt nicht. Das würde ich doch spüren.« Neue Tränen fluteten ihr Gesicht. Holger erkannte, dass sie jünger war, als er angenommen hatte. Wesentlich jünger. Sie könnte seine Tochter sein.
Angeekelt von sich selbst blickte er weg. Und keuchte auf. »Was zum ...«
Er sprang zum Leichnam des Baumfällers. Dort lag nicht länger die entstellte Kreatur, die einmal ein Mensch gewesen war. Dort lag der Mann, wie er vor seiner Verwandlung ausgesehen hatte. Noch immer eine Leiche, aber eine menschliche Leiche.
»Es wirkt!«, flüsterte Holger. »Verdammte Scheiße, das Serum wirkt!«
Er grinste und stellte fest, dass diese ungewohnte Grimasse schmerzte.
»Wenn der Professor noch mehr davon hat, könnten wir es tatsächlich schaffen.«
Er fummelte den Schlüsselbund aus der Hosentasche und lief zur Gefängnistür. Vergessen geglaubte Gefühle der Hoffnung ließen ihn leicht werden wie eine Feder. Selbst das Pochen in seinem Knie ebbte plötzlich ab.
Er drehte den Schlüssel, riss die Tür auf und rief: »Professor, das Serum, es ...«
Weiter kam er nicht. Die Faust des Bosses erwischte ihn am Schlüsselbein und riss ihn von den Füßen. Schwer wie Blei klatschte er gegen die Wand.
»Du Amateur!«, schrie ihn der Boss an. »Glaubst du, du kannst mich ausknipsen? Mich
Er schnappte sich den Schlüssel und zog Holger am Kragen hoch, bis ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. Die Augen des Bosses waren rot geädert, aber es war nicht der Blick eines Infizierten, der Holger niederstarrte, sondern der Blick eines Wahnsinnigen.
Das war es nun, dachte Holger. So kurz vor dem Ziel. Aus. Immerhin starb er als Mensch.
Aber der Boss brachte ihn nicht um, er warf ihn wie ein ausgedientes Spielzeug in eine leere Zelle und schloss sie ab. Vorher nahm er ihm noch den Revolver ab und steckte ihn sich in den Gürtel.
»Ich sehe, du hast mir ein Geschenk gemacht«, lachte der Boss und fixierte das Mädchen. In seinem Lachen brach sich der gesamte Wahnsinn bahn, den er bisher kontrolliert hatte.
»Boss ...«, krächzte Holger.
»Um dich kümmere ich mich später, jetzt habe ich ein Rendezvous. Sieh zu und lerne!« Mit Daumen und Zeigefinger fuhr er über seinen Oberlippenbart und strich seine Uniform glatt.
Da der Boss die Tür des Gefängnistraktes offen ließ, konnte Holger alles durch die Gitterstäbe seiner Zelle mitverfolgen.
Dana kauerte in einer Ecke und schluchzte.
Die massige Gestalt des Bosses wankte auf sie zu. »Keine Sorge, der Boss wird sich jetzt um dich kümmern, alles wird gut.«
Sie schluchzte lauter, ihr ganzer Körper bebte.
»Schhh ...«, machte der Boss. »Schhhh ...«
Zu spät erkannte er, dass Dana nicht Tränen der Angst weinte, sondern sich gerade unter Schmerzen verwandelte. Übergangslos sprang sie ihn an. Der Mund war zu einer zähnestarrenden Grimasse aufgerissen.
Wahnsinnig oder nicht, die Reflexe des Hünen waren ungebrochen. Er fing sie im Flug ab und schmetterte sie zu Boden. Es knackte vernehmlich, doch die Dana-Kreatur war sofort wieder auf den Beinen. Mit einem Fauchen und ausgestreckten Krallen stürzte sie sich auf ihn.
Es blieb keine Zeit, den Revolver zu ziehen. Bevor sie ihn jedoch erreichen konnte, sackte sie zu Boden. In verkrümmter Haltung versuchte sie an das Messer zu kommen, das ihr plötzlich im Nacken steckte, spuckte dabei Blut und heulte ihre Wut heraus.
Feng erschien im Raum, er hatte bereits ein neues Messer in der Hand. Bert folgte ihm dicht auf, bewaffnet mit einer Pistole. Bert war unsicher, wohin er zielen sollte, auf den Boss oder die sich windende Frau am Boden.
»Was zur Hölle ist hier los?«, bellte Feng. »Wo ist Holger?«
Bevor der Boss antworten konnte, rief Holger: »Sie hat ihn gebissen, sie hat den Boss gebissen!«
»Nun beruhigen wir uns alle erstmal wieder!« Die Stimme des Bosses klang wie ein Erdrutsch.
Doch Berts Lauf hatte nun sein Ziel gefunden. Seine Hand zitterte.
»Ist das wahr?«, wollte er wissen. »Ist das wahr?« Er kreischte wie ein Kleinkind.
Der Boss war schnell, aber er war nicht schnell genug. Er hatte den Revolver bereits gezogen, doch Bert schoss als Erster. Bert war kein guter Schütze und erwischte den Boss nur am Oberarm. Der Boss wankte nicht einmal. Er drückte dreimal ab. Eine Kugel drang Bert in den Brustkorb, die andere schoss ihm sein gesundes Auge aus. Die letzte war für Feng bestimmt, doch dieser sprang beiseite und die Kugel bohrte sich harmlos in den Türrahmen. Holzsplitter flogen.
Der Boss legte neu an, doch da warf Feng sein zweites Messer und es drang dem Boss tief in den Oberschenkel. Der Boss fluchte und humpelte, wild um sich schießend, zurück auf den Gefängnistrakt zu.
Er wollte die Tür gerade hinter sich zuziehen, da warf sich Feng auf ihn. In einem Knäul aus Messern, Fäusten, Blut und Geschrei kugelten sie durch den Vorraum des Zellentraktes. Die Geräusche, die die beiden machten, unterschieden sich kaum von den Lauten der Infizierten. Ein letzter Schuss krachte, dann war Ruhe. Der Boss schob Fengs Leiche von sich und richtete seinen Oberkörper auf, lehnte sich schwer atmend gegen die kalten Gitterstäbe.
Mit einer Hand hielt er sich die Kehle, doch er konnte den Blutfluss nicht stoppen.
Er blubberte etwas, das wie »Keine Disziplin« klang, aber Holger war sich nicht sicher.
Für einen Moment sah es so aus, als wolle er seinen Bart glattstreichen, dann fiel seine Hand in den Schoß und der Kopf sackte seitlich weg. Der Brustkorb bewegte sich nicht mehr, ruhte wie eine stillgelegte Maschine.
»Holger?«
»Professor?« Holger drehte sich um. »Professor, das Serum - es hat gewirkt.«
Der kleine Mann rüttelte wie ein bebrilltes Äffchen an den Stangen seiner Zelle und jubelte: »Ich wusste es, ich wusste es!«
Holger fischte den Schlüssel aus der Tasche des Bosses und schloss seine Zelle auf. Dann ging er zur Zelle des Professors. Sie war geräumiger, verfügte über eine eigene Nasszelle. Aber sie unterschied sich vor allem in der Ausstattung. Sie hatten den Professor mit seinem ganzen Chemie-Baukasten eingeschlossen. Auf einem Tisch türmten sich Gläser und Fläschchen, sogar ein kleiner Bunsenbrenner. Die Wand war bekrakelt mit Notizen; wilde Formeln oder einfach nur wirres Zeugs.
Holger befand, dass der Professor nicht verrückter war, als alle anderen auch in dieser verrückten Welt und schloss die Tür auf.
»Hast du noch mehr von dem Serum?«
Der Professor hielt eine identische Spitze hoch »Das ist die letzte.«
»Kannst du mehr davon herstellen?«
Er schüttelte den Kopf. »Meine Mittel sind erschöpft.«
Holger fluchte. Mit gezwungen ruhiger Stimme sagte er: »Dann muss es reichen.«
Der Professor nickte grimmig und steckte die Spritze in eine Tasche seines Kittels.
Holger warf sich zwei weitere Schmerztabletten ein und erzählte dem Professor von dem Truck und der Karte.
»Sehr gut. Reiten wir also aus als Träger der Hoffnung!« Die winzigen Augen leuchteten hinter den Brillengläsern. »Bringen wir das Serum in die Kolonie. Dort gibt es sicher eine Möglichkeit, es zu reproduzieren.«
Holger nickte. »Der Plan ist einfach«, erklärte er und massierte sein Knie. »Wir schnappen alles, was wir tragen können und schleppen es in den Truck. Dann locken wir die Viecher in den Turm und hauen ab von hier.«
»Genial!« Der Professor klatschte in die Hände. »Aber ... äh ... wie stellen wir das an?«
»Ich hab da so eine Idee. Aber zuvor haben wir ein anderes Problem zu lösen. Piet ist noch irgendwo im Turm.«
Holger nahm Lore und gab dem Professor Berts Pistole.
Das Dana-Wesen rührte sich nicht mehr, als sie zum Treppenhaus schlichen.
Piet konnte auf jeder Stufe lauern, die Windung der steinernen Wendeltreppe bot ausreichend Gelegenheiten. Sand knirschte unter ihren Schuhsohlen. Sie passierten unbeschadet das erste Stockwerk. Das Zweite. Im Dritten schlüpften sie in die Gemächer des Bosses. Bert, Feng und Piet hatten ordentlich zugelangt. Das Zimmer sah aus wie nach einem Kindergeburtstag, überall aufgerissene Verpackungen und halbleere Flaschen.
Dennoch fanden sie ausreichend Proviant, um zwei Rucksäcke zu stopfen.
»Es ist vorbei«, sagte eine Stimme hinter ihnen.
Holger und der Professor wirbelten herum, die Waffen im Anschlag. Piet torkelte vom Balkon ins Zimmer. In der einen Hand hielt er eine Flasche Schnaps, in der anderen seine Armbrust.
»Es ist vorbei. Ich bin infiziert.« Er lallte. »Ich hab‘s wirklich versucht. Aber ich hab nicht abdrücken können.« Er zog Rotz hoch und Holger merkte, dass Piet weinte. »Da ist immer noch diese Hoffnung, versteht ihr? Vielleicht ... vielleicht ...«
Er nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. »Und sich selbst umbringen, das ist ja auch Todsünde. Also, ich war nie gläubig. Und dass der ganze Scheiß überhaupt passiert ist mit dem Virus und so, da muss man doch glauben, dass wir Gott scheißegal sind. Aber wenn du dann plötzlich vor der Entscheidung stehst, deine Waffe gegen dich selbst ...«
Holger zuckte zusammen, als der Professor Piet ins Gesicht schoss.
»Ich hab ihn nie gemocht«, sagte der kleine Mann. »Aber das war ein Gefallen.«
Holger blickte den Professor an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Dann nickte er. »In Ordnung, fangen wir mit ihm an.«
Gemeinsam hievten sie Piets Leichnam auf das Dach des Turms.
Ihn durch die Dachluke zu bekommen, ohne sich mit seinem Blut zu besudeln, war der schwierigste Teil. Als sie es geschafft hatten, gönnten sie sich schwer atmend eine Pause. Dann ging es weiter.
Nacheinander schleppten sie den Boss, Bert und Feng nach oben.
Holger versagte sein Knie einige Male den Dienst. Er fluchte und stöhnte und warf zwei weitere Schmerztabletten ein. Der Professor legte eine Energie an den Tag, die er dem schmächtigen Kerl nie zugetraut hätte.
Als die Leichen ihrer Kameraden unter freiem Himmel lagen, ruhten sie sich für einen Moment aus. Nassgeschwitzt starrten sie in die Wüste. Holger drehte sich mit zitternden Fingern eine Zigarette. Das Rauchen beruhigte ihn, im Tabak schmeckte er einen Hauch von Früher, von Normalität. Der Wind hatte zugenommen.
Sie machten sich wieder an den Abstieg. Es quietschte leise, als Holger die Außentür des Turms öffnete. Geduckt huschten sie zum Truck. Der Wind trieb Sand durch die Luft und Holger knirschte er bereits zwischen den Zähnen. Aber er begrüßte den Wind, denn er verschluckte den Lärm, den sie verursachten.
Die Türen des Fahrerhauses standen offen. Der Schlüssel steckte noch. Es war, wie Dana gesagt hatte, im Abteil hinter den Sitzen reihten sich Benzinkanister an Benzinkanister, darauf stapelten sich haufenweise Plastikflaschen. Die Karte klemmte auf dem Armaturenbrett.
»Also dann!« Holger lud seinen Rucksack ab, schnappte sich einen Kanister und eilte zurück zum Turm. Der Professor tat es ihm gleich.
Holger machte sich ein letztes Mal an den Aufstieg. Allmählich setzte die betäubende Wirkung der Tabletten ein. Sein Knie knackte, doch der Schmerz hielt sich in duldbare Grenzen. Auf dem Dach angekommen, überschüttete er die Toten mit dem Benzin. Noch immer meinte er, Piets stechenden Geruch herauszuriechen. Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Kippe und schnippte sie dann auf den Scheiterhaufen. Sofort züngelten Flammen in den Himmel. Er hastete mit zusammengekniffenen Zähnen die Treppen runter. Der Professor hatte seinen Kanister im Erdgeschoss entleert. Der Gestank nach Benzin nahm Holger den Atem.
»Die Grillparty kann steigen«, kicherte der Professor.
Sie ließen die Tür des Turms weit offen und flüchteten zum Truck. Geduckt warteten sie in der Kabine. Sie mussten nicht lange warten. Die ersten Kreaturen jagten auf den Turm zu. Wie erwartet, schenkten sie dem Truck keine Beachtung.
Es wurden ihrer mehr und mehr, am Eingang schlugen die Gierigsten ihre Klauen in die Körper derer, die ihnen den Weg versperrten. Das Gekreische war lauter als je zuvor. Der Geruch des brennenden Fleisches musste sie wahnsinnig machen. Und es drängten weitere nach, sie überrannten ihre Artgenossen, um in den Turm zu gelangen.
Zuletzt humpelten die verkrüppelten Exemplare nach. Ihre Körper waren widernatürlich verdreht, die Gliedmaßen verstümmelt oder fehlten ganz.
Beinahe entglitt Holger das Messer, das er dem Boss abgenommen hatte. Er krampfte seine Hand um den hölzernen Griff und kämpfte gegen die betäubende Wirkung der Tabletten an. Nicht jetzt, flehte er. Nicht jetzt! Es kostete ihn alle Konzentration, um der lockenden Entspannung zu widerstehen.
»Los gehts!«, rief der Professor und riss ihn aus seiner Lethargie. Holger startete den Motor des Trucks. Und würgte ihn ab. Er drehte den Zündschlüssel erneut. Röhrend erwachte das Monster aus Stahl zum Leben.
»Jetzt oder nie!«, sagte der Professor, ein unheimliches Grinsen im Gesicht. Mit einer Hand hielt er die Beifahrertür zu, die nicht mehr von allein schließen wollte, in der anderen hielt er seine Pistole.
Holger drückte aufs Gaspedal. Der Motor heulte auf, Sand spritzte in alle Richtungen, dann jagte der Truck los.
Längst nicht alle Kreaturen hatten es in den Turm geschafft. Stöhnend wandten sie sich der Quelle des Lärms zu. Dann kreischten sie und rannten los.
Von allen Seiten warfen sie sich gegen den Truck. Kreischend hieben sie auf das Metall, beulten es ein, zogen mit ihren Krallen den Lack ab, hinterließen Risse in der Panzerung. Die Fenster waren vergittert, doch es kam, wie es kommen musste: Auf Holgers Seite wurde das Gitter mit Gewalt abgerissen. Die Gestalt, die es plötzlich in den Fängen hielt, verlor das Gleichgewicht und verschwand. Doch kurz darauf explodierte Holgers Scheibe in einem Regen aus Splittern, als die nächste Kreatur mit aller Macht ihren Schädel gegen das Glas rammte. Mit einer Hand hielt Holger das Lenkrad, mit der anderen stieß er das Messer bis zum Griff in die Wange des Infizierten. Das Wesen kreischte und schnappte, verlor dann aber den Halt und riss im Fallen zwei weitere Gestalten vom Truck, denen es gelungen war, sich festzuklammern. Die Beifahrertür wurde aufgerissen. Krallen und Zähne stülpten sich in die Kabine. Doch der Professor gab gezielte Schüsse ab und schaffte es, die Tür wieder zuzuwerfen. Auf der Höhe des Turmeingangs schoss Holger seine Leuchtrakete ab. Sie zog einen Feuerschweif hinter sich her und verschwand im Innern des Turms. Augenblicklich stand das gesamte Geschoss in Flammen. Die Infizierten rannten kopflos durcheinander, kreischten und schlugen um sich, fingen Feuer, steckten sich gegenseitig an. Holger trat das Gaspedal durch. Der Professor schoss die letzte Kreatur von der Motorhaube und sie waren an der Meute vorbei. Im Rückspiegel sah der Turm aus wie ein brennender Schornstein, spuckte menschliche Fackeln aus, die herumtorkelten, übereinander herfielen, sich vom Dach stürzten.
Sie sprachen kein Wort.
Der Motor röhrte laut, ihre Ladung klapperte und schepperte. Der Wind peitschte Sand gegen den Truck.
Holger konzentrierte sich auf das tanzende Gelände. Immer wieder drohte es vor seinen Augen zu verschwimmen. Der Professor hielt umständlich die Karte und gab vor, darin vertieft zu sein.
Holger entging nicht, dass der Professor die Karte so hielt, damit er die Wunde in seinem Oberschenkel verbergen konnte. Aber Holger hatte gesehen, wie sie ihm eins der Biester zugefügt hatte.
Und Holger war sich gewiss, dass der Professor gesehen hatte, wie er selbst ins Handgelenk gebissen worden war, als das Fenster barst.
Und vor allem war er sich sicher, dass sie beide über denselben Gedanken brüteten: Das Serum reichte nur für eine Person.
Lore würde ihm in der engen Kabine nicht von Nutzen sein. Aber wie viel Schuss hatte der Professor abgegeben? Hatte er noch Reserve im Magazin? Es war alles so schnell gegangen. Und er war müde, so furchtbar müde. Holger quetschte sein Knie, um die Schwärze zu vertreiben. Der Schmerz half ihm, den Nebel zurückzudrängen, nachzudenken. Angeschnallt waren sie beide nicht. Wie beiläufig griff Holger nach dem Sicherheitsgurt.
Der Wind nahm zu. In der Ferne ragte der Südturm auf.

 

Hallo weltenläufer.
Ich habe deine Geschichte bereits vor einigen Tagen unter der Woche gelesen, aber da war es schon zu spät, um noch eine Antwort zu schreiben. (Zu spät für mich, nicht für die Geschichte)

Zuerst einmal: Sie hat mir, wie eigentlich allen anderen, auch sehr gut gefallen. Allerdings bin ich der Meinung, dass ihre Stärke im Anfang liegt. Bis zu dem Punkt, an dem sozusagen die Action richtig los geht und die infizierte Frau in den Turm gelangt, verursacht sie einen Sog, den man sich kaum entziehen kann.
Was ich besonders toll finde, ist, dass du gleich und sofort den Leser in das Szenario wirfst und er sich zurecht findet.
Hitze, eine Waffe, wenig Munition - Endzeit-Szenario, vielleicht Vampire, vermutlich aber Zombies (alles ist schließlich besser mit Zombies).
Klar, die Geschichte an sich ist nicht direkt neu, aber dein Stil ist super und dadurch macht die Geschichte richtig Spaß. Sehr schön auch die Szene, in der Holger mit Piet auf dem Dach spricht, auch über den Boss, da werden die Charaktere gleich gut beleuchtet.

Was mir aber persönlich nicht so gut gefallen hat, ist die schnelle und teils brutale Entwicklung. Klar, bei der Wahl zwischen "er oder ich" muss es schnell gehen, aber ich glaube einfach nicht, dass z. B. ein Mann, der vermutlich vor dem Weltuntergang relativ "normal" war, schon nach wenigen Minuten eine Frau vergewaltigen würde. Und der Boss kommt mir ein wenig "zu" wahnsinnig vor und auch er scheut keinen Augenblick, die Frau zu vergewaltigen. Zuvor schlägt er auf seinen ehemaligen Freund ein (vermutlich weil dieser ein Heilmittel in den Händen hält und der Boss für dieses Leben gemacht ist und nicht für das zivilisierte und daher die Heilung nicht will?) und als nächstes will er die Frau, von der er ja nicht weiß, ob sie nicht vielleicht doch infiziert ist, vögeln?
Ich glaube einfach nicht, dass Menschen solche Entscheidungen in so kurzer Zeit treffen, auch wenn die Welt sie verrückt gemacht hat.
Aber das ist natürlich nur meine Meinung.

Trotz dieser Kleinigkeit hat mich deine Geschichte sehr gut unterhalten und es hat mich sehr gefreut, dich hier zu lesen. :)

Lg
Tamira

(P.S.: Falls ich etwas widerholt habe, was bereits andere vor mir erwähnt haben, tut es mir leid, ich habe die Kommentare aufgrund ihrer Anzahl nur überflogen *g)

 

Tamira,

einen lieben Dank für deinen kommentar.

verursacht sie einen Sog, den man sich kaum entziehen kann.
das lässt mein Autoren-herz höher schlagen :)

Sehr schön auch die Szene, in der Holger mit Piet auf dem Dach spricht, auch über den Boss, da werden die Charaktere gleich gut beleuchtet.
schön, wenn mir das gelungen ist. Habe bewusst versucht, das Personen-Register nach oben zu korrigieren. Normalerweise spiele ich eher mit kleinerem Personal. Da ich mich seit langem tiefer und tiefer in einem Roman verstricke, wächst das Personal dort zunehmend. Da dachte ich, es wäre Zeit, dass auch mal in einer Kurzgeschichte auszuprobieren
Manche Figuren, wie der Professor sind dabei vielleicht etwas schablonenartig geraten

aber ich glaube einfach nicht, dass z. B. ein Mann, der vermutlich vor dem Weltuntergang relativ "normal" war, schon nach wenigen Minuten eine Frau vergewaltigen würde
hm, da muss ich mich natürlich als Autor fragen, wodurch diese Vermutung ausgelöst wird. Ich hoffe doch, ich habe das nicht im Text eingeflechtet?
Zudem gehe ich da mit deinem Weltbild nicht mit. Würde ich zwar gerne, aber verschiedene Experimente haben ja gezeigt, wie krass sich Menschen in Extrem-Situationen verhalten (können). Naja, damit will ich dein Argument jetzt nicht wegdiskutieren. Ich stelle mich dem Vorwurf, dass ich den Wahn des Bosses evtl nicht plausibel genug dargestellt habe.
Trotz dieser Kleinigkeit hat mich deine Geschichte sehr gut unterhalten und es hat mich sehr gefreut, dich hier zu lesen
dafür danke ich dir sehr.
Falls ich etwas widerholt habe, was bereits andere vor mir erwähnt haben, tut es mir leid, ich habe die Kommentare aufgrund ihrer Anzahl nur überflogen
das muss doch nicht leid tun. Sagte ich schon an anderer Stelle: Solche Kommentare sind doch viel ehrlicher, weil ungefärbter, als welche, die durch den Filter anderer Meinungen gelaufen sind.

grüßlichst
weltenläufer

 

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