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Der Umzug
Der Umzug
Da sitze ich mal wieder, hier in der Cafeteria, und versuche zu verstehen. Nicht die Geheimnisse des Lebens oder die Handlungen meiner Mitmenschen, nein, heute gehe ich viel profaner zu Werke und versuche in erster Linie das zu verstehen, was hier direkt schwarz auf weiß vor meinen Augen, auf dem Tisch vor mir, neben meiner Tasse Kaffee, auf diesem Blatt Papier und auf den ihm nachfolgenden etwa dreißig Blättern geschrieben steht.
Das ist ein Problem.
Das ist mein Problem.
Zumindest ist es jetzt gerade im Moment mein größtes. Denn das, was hier steht, muss ich verstehen, damit ich es mir merken und in knapp zwei Stunden erfolgreich reproduzieren kann. Klausurstress in Reinkultur. Natürlich, ich weiß es, und ich höre die Stimmen des Protestes: Du hättest ja vielleicht einfach mal ein paar Tage früher damit anfangen können, anstatt dich am Tage der Entscheidung hinzusetzen! Ja, klar, stimmt, aber stimmt nicht auch folgendes: Nur unter Druck entstehen Diamanten! Kann man nicht vergleichen, hör’ ich da, und ist eine ganz lahme Ausrede? Stimmt schon wieder. Aber die Situation lässt sich nun eh nicht mehr ändern, warum also nicht ein paar laue Sprüche zur Selbstberuhigung verzapfen, damit man nicht völlig durchdreht?
Nun versuche ich also diesen Text zu ergründen, versuche das Geschriebene zu verstehen und gleichzeitig den Grund dafür, warum manche Menschen, und seien es auch hundertmal die höchstdekorierten Doktoren und Wissenschaftler, es für unbedingt notwendig erachten, ihre Texte in einer Weise mit Fremdworten zu überfrachten, ja förmlich zu erschlagen, dass das Lesen derselben eine Bestrafung für Vatermörder sein, aber gewiss nicht zum Studium eines freien mündigen Menschen gehören sollte. Ich meine, es geht hier um die deutsche Sprache. In dem Text. Wie, und ich rufe laut aus: WIE kann man es fertig bringen, einen Aufsatz, der über Teile der deutschen Sprache referiert, in einem Stil zu schreiben, der einen Leser dazu zwingt, permanent das Fremdwörterlexikon zu benutzen! Wissenschaftliche Abhandlungen hin, Fachtexte her! Fremdworte sind mit Sicherheit auch daseinsberechtigt. Aber kann man nicht auch wissenschaftliche Texte verfassen und darin hochgelehrte Inhalte bearbeiten, die wenigstens ansatzweise Ähnlichkeit mit unserer Sprache haben? Ist ein derart inflationärer Einsatz von Fachausdrücken um ihrer selbst willen wirklich nötig? Oder hat hier jemand Profilierungsängste und meint sich und der Welt seinen Status über seinen Fremdwortschatz beweisen zu müssen?!
Wie auch immer, derartige Gedanken bringen mich nur vom Eigentlichen ab, und das ist nun mal, ob es mir passt oder nicht, das Lesen und Verstehen, so Gott will, dieses wundervollen Textes. Also beuge ich mich wieder resignierend über die Blätter, nur um nach einer halben Seite des intensiven Lesens festzustellen, dass ich nicht mehr weiß, was am Anfang derselben Seite steht. Nach einer Wiederholung, einer Nachlese sozusagen – ich habe also tatsächlich noch eine Art Humor - habe ich eine vage Vorstellung, um was es in etwa gehen könnte. Das ist zuviel! Ich schaue wieder auf und lasse meinen Blick durch den großen Raum schweifen. Mein Wille reicht augenblicklich nicht dazu aus, meine Augen wieder auf’s Papier zu zwingen. Außerdem ist es hier eh viel zu laut zum Lernen und die Sonne blendet total und es ist zu dunkel und zu stickig und viel zu kühl und ich hab’ auch so richtig Durst und essen könnte ich auch was und eigentlich ist mir ganz schön schlecht und irgendwie geht’s mir gar nicht gut, meine Augen flimmern, ich hab’ so Herzrasen, dabei hätt’ ich viel lieber einen englischen, und damit ist es sonnenklar und prangt in drei Meter hohen Buchstaben an der Hauswand da drüben und ich sag’s mal laut und deutlich: ICH KANN SO NICHT ARBEITEN!
Ich mach die Augen langsam auf. Hatte ich die denn geschlossen? War mir gar nicht bewusst bis eben. In einem recht großen Umkreis um mich sind die Gespräche verstummt und die Leute starren mich an. Hab’ ich, war ich, also ich meine, das eben... laut...? Nach wenigen Sekunden sind sich alle sicher, dass ich jetzt nicht als nächstes die Waffe zücke oder zumindest mit meiner Kaffeetasse werfe, sondern scheinbar nur dem normalen Studienkoller kurzzeitig erlegen bin. Kennt man ja. Schon bin ich nicht mehr interessant, die Gespräche gehen weiter. Ich schaue betreten auf mein Blatt. Okay, ganz ruhig, jetzt volle Konzentration, du hast nur noch anderthalb Stunden, du-musst-dich-jetzt-zusammenreißen! Ein Schluck Kaffee, der diesen Namen ganz sicher nicht verdient, und ich zwinge mich zur Lektüre.
Als ich das nächste mal aufschaue, sind alle weg. Die Cafeteria liegt verwaist vor meinem ungläubigen Auge. Ich sehe auf die Uhr. Es ist eine Stunde vergangen. Jetzt ist es kurz vor zwei Uhr nachmittags. Hochbetriebszeit, normalerweise. Aber irgendwie ist das hier nicht so ganz normal alles jetzt gerade. Ich blicke vor mich auf den Tisch: Dort liegt immer noch das selbe Blatt oben auf dem Stapel wie vorhin. Was bedeutet, dass ich nicht weiter gelesen habe in der letzten Stunde, was wiederum bedeutet, dass ich in einer halben Stunde etwa dreißig Seiten DIN A4 lesen und verstehen muss, was schlussendlich bedeutet, dass ich einpacken kann. Aber was zum Teufel habe ich gemacht in der letzten Stunde? Geschlafen? Ich mag’s kaum glauben. Und wo sind alle hin? Während ich mich noch wundere, gehen am entfernten Ende der Cafeteria die großen Doppeltüren aus Glas auf und Männer in Overalls, die aussehen wie Handwerker, kommen herein. Sie fangen geschäftig damit an, Tische und Stühle und was sonst noch so rumsteht, abzuschrauben und wegzutragen. Ich sitze, zu keiner Bewegung fähig, an meinem Tisch und beobachte die Szene mit einer seltsamen Mischung aus Verblüffung und Teilnahmslosigkeit. Einer der Handwerker entdeckt mich und kommt auf mich zu. Er sieht mich leicht verunsichert an und fragt dann: "Was machen Sie denn noch hier?", worauf ich zurückfrage: "Und was machen Sie hier?" Seine Verunsicherung scheint kurz zu steigen, dann denkt er wohl, ich würde scherzen, lacht kurz, zögert kurz und sagt dann im Ton der größten Selbstverständlichkeit: "Na, wir bauen ab, wir packen ein! Es wird geschlossen, sozusagen!" Ich verstehe kein Wort und frage langsam: "Was wird sozusagen geschlossen? Die Cafeteria?" Er schaut mich noch mal skeptisch an, bevor er wieder auflacht: "Die Cafeteria? Haha, Sie sind gut! Die ganze Stadt! Wir packen alles ein. Sie müssen jetzt hier auch raus!" Mit diesen Worten dreht er sich um und geht.
Ich stehe auf, packe meine Sachen ein und warte vergeblich darauf, dass ich aufwache. Vor der Tür herrscht rege Betriebsamkeit über der ganzen Stadt. Der Handwerker hatte recht: Hier wird eingepackt im ganz großen Stil. Die Karawane zieht weiter. Und ich muss ganz ehrlich sagen, dass mir das heute gar nicht so ungelegen kommt.