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Der Unbekannte
Ein fremder Mann lächelt mir von diesem alten Schwarzweißfoto aus dem Jahre 1963 entgegen. Ordentlich gekämmte tiefschwarze Haare, ein dickes Grübchen am Kinn, verschmitzt lachende Augen. Das ist er also, mein Vater. Oder sollte ich lieber sagen mein Erzeuger, mein Genproduzent? Ein Mensch, den ich nicht kenne und von dem ich abstamme. Ja, wie unschuldig sympathisch er wirkt.
Ich betrachte mein Gesicht im Kleiderschrankspiegel. Sehe ich ihm etwa ähnlich? Oh ja, leider viel mehr als meiner hübschen deutschen Mutter. Da sind die selben lachenden braunen persischen Kirschenaugen, die große orientalische Nase und die gleichen weichen Gesichtszüge. Meine schulterlangen schwarzen Haare sind genauso leicht gewellt wie seine. Sogar dieselben Grübchen an den Mundwinkeln und am Kinn sind vorhanden.
Mit 13 Jahren erfuhr ich, wer mein leiblicher Vater war. Ich befand mich gerade mitten in der Pubertät, hatte mich wegen jedem einzelnen Aknepickel aufgeregt und dann auch noch dieser Schock. Meine Mutter übergab mir damals nüchtern einen Briefumschlag mit den Worten: „Das ist dein Vater. Er ist Arzt und kommt aus dem Iran. Wenn du Fragen hast, ich bin nebenan.“ Als ich das Foto aus dem Umschlag nahm, traf es mich wie der Blitz. Fassungslos starrte ich dieses Bild an. Eine Welt brach für mich zusammen. Den ganzen Tag heulte ich allein vor mich hin. Am nächsten Morgen beschloß ich, nicht mehr darüber zu reden - vielleicht aus verletztem Stolz oder Angst schwieg ich monatelang, jahrelang dazu. Meine lieben Großeltern und andere eingeweihte Verwandte sprachen mich auch nicht auf dieses heikle Thema an.
Ich komme mir heute noch vor wie ein exotischer „Fremdkörper“, der nicht weiss, wer er ist und woher er kommt und wohin er gehört. Womit habe ich es verdient, diesem Menschen, der meine Mutter und mich im Stich ließ, ähnlich zu sehen. Oder war alles doch ganz anders?
Ich kenne ja diese Erzählungen nur aus ihrer Sicht: daß sie sich in der U-Bahn kennenlernten, er hier in Hamburg seinen Doktor med. und mich gemacht hat, sie angeblich ein halbes Jahr zusammen waren, meine Mutter nicht heiratete, weil er in einer anderen Stadt eine Verlobte sitzen hatte, die er dann ehelichte und mit der er drei Töchter hat.
Ob ich diese Halbschwestern je kennenlernen werde, ob sie von meiner Existenz wissen?
Wut, Enttäuschung, aber auch Traurigkeit kriecht in mir hoch. Tränen kullern über mein Gesicht. Ich hätte so gerne beide Elternteile, eine intakte Familie gehabt. Manchmal fühle ich mich „wurzellos“, so , als wenn ich nur ein Bein hätte, oder wie nichts halbes und nichts ganzes. Irgendetwas fehlt. Aber vielleicht ist mein leiblicher Vater ja gar nicht so toll. Dann kann er auch da bleiben, wo der Pfeffer wächst.
Mein Blick fällt wieder auf das Foto von meinem leiblichen Vater. „Hast du dich in Deutschland wohl gefühlt?“ denke ich.
Und dann denke ich : „ Hast du mal an mich gedacht. Wie es mir so geht. Was ich so mache. Wie ich lebe.“ Meine Mutter hatte ihm bis zu meinem 7. Lebensjahr Kinderfotos von mir zugeschickt. Dann bekam ich an meinem Geburtstag regelmäßig Geschenke von ihm. Mal war es ein Poesiealbum, ein Türkisring, ein Schulwebrahmen, natürlich ein Doktorkoffer, ein Porzellanteller, auf dem eine Rose abgebildet war und dann ein großer Tuschkasten, den ich am liebsten mochte. All diese Geschenke hatten eine symbolische Bedeutung. Wie es mir erst später klar wurde, hatten sie immer einen Bezug zu Persien. Es waren landestypische Dinge. Die Medizin, Dichtung und die Malerei, Teppichweberei, die Rose und Edelsteine wie der Türkis spielen im Iran immer noch eine große Rolle. Ich habe schon immer gerne bunte Edelsteine gesammelt und aus meinem zeichnerischem Talent einen Beruf (Grafikerin) gemacht.
Ich frage mich dabei, welche Eigenschaften ich von meinem Vater geerbt haben könnte. Sind nicht nur das Aussehen, sondern auch Eigenheiten, Vorlieben und Abneigungen, das Temperament vererbbar?
Wenn das so sein sollte, dann komme ich so gar nicht nach meiner Mutter. Sie ist ein flippiger, impulsiver Typ, während ich ruhig und ein wandelndes Phlegma bin. Sie interessiert sich für Mode und Schmuck, während ich lieber in Büchern lese und im Internet surfe. Manchmal denke ich, wir beide leben auf verschiedenen Planeten. Und doch haben wir ein fast inniges Verhältnis. Wir ergänzen uns eben.
Dann muß ich wohl oder übel nicht nur meinem Vater ähnlich sehen, sondern auch ihm vom Wesen her ähneln oder bin ganz aus der Art geschlagen. Ich hätte viele Fragen an ihn. Um mehr über ihn und damit auch über mich selbst zu erfahren, müßte ich Kontakt zu ihm aufnehmen.
Deshalb habe ich mich heute mit 28 Jahren entschieden, mich auf die Suche nach meinem nichtehelichen Papa zu machen. Papa, dieses Wort konnte ich nie zu meinem deutschen Stiefvater sagen, obwohl meine Mutter mich immer dazu drängte. Schon als ich 5 Jahre alt war, spürte ich instinktiv, das so einer nicht mein Vater sein kann.
Nein, dieser angebliche Hamburger Ersatzvater entsprach nicht meinen Vorstellungen. Zu einfach, zu stur und meckerte immer so viel herum. Allerdings hat er eher einen gutmütigen Charakter, das muss ich ihm zugestehen. Als ich einmal beim Spielen meinen geliebten blauen Flummiball aus den Händen verlor, hat er ihn fast mit einem Hechtsprung vor der herannahenden Straßenbahn aufgefangen und gerettet. Ganz nett war es auch, dass er mir sein altes Kofferadio anno 1953 schenkte, weil ich mit 14 Jahren ständig Sender aus weit entfernten Ländern auf der Kurzwelle hörte. Mit diesem Gerät konnte ich sogar Radio Japan empfangen. Dass er mit mir und meiner Mutter in romantische Gegenden wie das Rheinland und Oberbayern reiste, gefiel mir auch ganz gut. Er plant und organisiert alles immer sehr genau und hat wie ich Sinn für Schönes. Schöne Dinge und schöne Frauen. Mit der Treue nimmt er es allerdings nicht so genau. Trotzdem sind sie jetzt schon 32 Jahre verheiratet.
Ich sehe mir die Rückseite des Fotos von meinem persischen Vater an. In einer etwas wackeligen Schrift steht dort die Widmung:
„ Für meine liebe Tochter. Dein Vater." Plötzlich spüre ich starke Zweifel in mir. Vielleicht sind diese Worte ohne tiefere Bedeutung für ihn gewesen. Was ist, wenn er mich gar nicht sehen will. Er hat sich ja sein eigenes Leben aufgebaut. Wie würden seine Töchter von ihm denken. Vielleicht hat er schon genug Frauen um sich herum. Und seine Ehefrau ist sicherlich froh, wenn ich mich dort nicht blicken lasse.
Ich fühle mich innerlich hin- und hergerissen. Habe ich den Mut, auch wenn ich schon 28 bin, ihm gegenüberzutreten. Oder würden wir uns in die Arme fallen, vor Rührung heulen und mir würde ein großer Stein vom Herzen fallen. Sollte ich lieber mit meinem Überraschungsbesuch warten und besser einen Brief an ihn schreiben.
Ich entschließe mich dazu, ihn in seiner Arztpraxis anzurufen. Seine Telefonnummer hatte ich sorgfältig aus dem Telefonbuch aufbewahrt.
Nervös wähle ich 678 56 45... Eine helle Frauenstimme meldet sich am anderen Ende: „Praxis Dr. Sörensen“. Verwundert frage ich: „Ist dort nicht die Praxis von Herrn Dr. Kermani ?“ Sie antwortet : „Herr Dr. Kermani ist vor einem halben Jahr verstorben...“
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