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Der verschwundene 8. März

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21.06.2008
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Der verschwundene 8. März

Meist, eigentlich immer wenn ich zu Hause bin, reiße ich die Kalenderblätter ab. Ein Blick auf die Rückseite, um zu erfahren, was es für Ratschläge gibt, die ich im Garten beachten sollte. Welche Menschen vor 425 Jahren geboren wurden oder starben. Manchmal ein kleines Gedicht oder ein kurzer Sinnspruch von Goethe oder Heine. Der Tag läuft dann rund. Selten passiert es mir, daß ich zwei Blätter auf einmal fasse und abreiße. Dann muß das „amtierende Kalenderblatt“ mit etwas Speichel befeuchtet und wieder an den Kalender angeklebt werden. Merkt niemand, interessiert eigentlich sowieso niemanden. Die Ausgabe für den Abreißkalender zum Ende des Jahres könnte man sich sicherlich sparen, ohne wirklich einen fühlbaren Verlust von Lebensqualität zu erleiden. Doch darüber will ich gar nicht weiter schreiben, weil ich etwas anderes berichten möchte.
Am Samstag trete ich wieder vor den Kalender und reiße ein Blatt herunter. Schau mir die Rückseite an und gehe anderen Geschäften nach. Einige Zeit später fällt mir die rote Ziffer neun auf, die mich anzulächeln scheint und mir einen Sonntag vorgaukeln möchte, der erst kommen wird. Ist das Leben nicht schon beschleunigt genug, muß es jetzt noch solche Kapriolen schlagen?
Also steht die Diagnose schnell fest: Ich habe mal wieder zwei Blätter abgerupft. Allein, meine Suche nach dem achten bleibt vergeblich. Auf dem Stapel, auf dem die abgerissenen Blätter eine Weile noch ruhen dürfen, bevor sie dem Altpapier zugeteilt werden, findet sich der siebente Tag des Monats, auch die sechs und so weiter. Aber der achte März 2003 fehlt! Es gibt diesen Tag in meinem Kalender nicht! Es ist Sonntag!
Man stelle sich vor, der Kalender, dieser Abreißkalender hätte eine höhere Bedeutung als die bei mir, nur so die Tage anzuzeigen. Man stelle sich vor, der Kalender stünde auf dem Schreibtisch des ovalen Büros in der amerikanischen Bundeshauptstadt. Der Präsident dieses Landes würde sich freuen, daß sein Ultimatum an den Irak schneller abläuft. Man stelle sich vor, ein Mensch hätte sich das ganz große Ding für diesen Tag vorgenommen und nun findet der Tag nicht statt. Der Mensch hätte nicht Superstar werden können. 1860 München hätte nicht sechs Tore gegen Hertha kassiert und Klitschko nicht unangenehme Berührung mit dem Boxringboden gemacht. Der Tag wäre ausgefallen. Also bloß gut, daß das ein Samstag war und vielleicht war es ja auch nur mein Kalender und alle anderen hatten das Blatt des achten März in ihrem Packen. Was aber, wenn ich morgen zur Arbeit erscheine und um eine Entschuldigung für den gefehlten Montag gebeten werde. Vielleicht hat der Kanzler ja die Samstage abgeschafft und das Bruttosozialprodukt wird dadurch erhöht. Aber dann hätte er jetzt einen Tag weniger Zeit, um seine große Rede zu formulieren, in der er nun endlich diesem Volk sagen will, wo es langgehen soll.
Irgendwie hat mir das Kalenderblatt doch gefehlt, fast so wie der Tag mir selbst gefehlt hätte, wenn er denn tatsächlich abgeschafft worden wäre. Ja gab es denn ihn nun oder was?
Übrigens, der achte März ist sogenannter Weltfrauentag.
Also bei mir fiel er nun eben aus.

 

Hallo M. P.

eine nette, kleine Kalendergeschichte hast du da präsentiert. Sie liest sich leicht, schnell, mit einer kleinen, feinen Spitze am Ende. (Die vielleicht noch ein bisschen feiner und spitzer ohne den allerletzten Satz geworden wäre: denn wenn der vorletzte Satz noch als böse Finte der Kalendermacher gegen den Weltfrauentag gewertet werden kann, holst du das Fehlen wieder auf die persönliche Ebene zurück, obwohl du zuvor ja den Bogen zur ganz großen Weltpolitik bereits geschlagen hattest.)

Irritiert hatte mich der Einleitungssatz:

Meist, eigentlich immer wenn ich zu Hause bin, reiße ich die Kalenderblätter ab.
Ich ahne, was du meinst. Aber bei mir kommt da unweigerlich das Bild von einer netten alten Dame, die den ganzen Nachmittag damit verbringt, Kalenderblätter um sich zu streuen. Oder was soll der Plural "Kalenderblätter" bedeuten? Bist du so selten zu Hause, dass du - wenn es denn einmal passiert - Blätter en masse entfernen musst? Oder ist es eben doch nur ein Frühstücksritual - ein Blatt, eine kleine Lebensweisheit am Morgen, damit der Tag rund läuft? Du merkst: mit dem Satz hast du bei mir viel mehr Fragen aufgeworfen, als wahrscheinlich beabsichtigt war.

Die Frage, was eigentlich wesentliche Charakteristika für eine Kurzgeschichte sind, schenke ich mir. Du hast ein Ereignis - wenn auch ein sehr minimalistisches: das fehlende Kalenderblatt. Du ziehst deine Schlüsse daraus, was durchaus metaphorische Züge annimmt und so die Geschichte über sich selbst erhebt. Und irgendwie scheinen durch all das die Züge des Ich-Erzählers hindurch. Eine kleine Kalendergeschichte eben. Die ein gutes Gefühl beim Lesen hinterlässt.

Dank dir,
Ennka

 

Hi M.P.,
ich fand deine Geschichte nett und leicht zu lesen. Während des Lesens habe ich mir schon überlegt, dich zu fragen, ob es was mit dem Weltfrauentag zu tun hat, aber du hast es ja am Ende selbst verraten ;). Sind die von dir beschriebenen Ereignisse alle tatsächlich am 8. März 2003 passiert? Einen kleinen Logikfehler hab ich noch entdeckt:

Was aber, wenn ich morgen zur Arbeit erscheine und um eine Entschuldigung für den gefehlten Montag gebeten werde.

Wenn heute Samstag ist, warum würdest du dann morgen zur Arbeit erscheinen? Auch nach dem "falschen" Kalender wäre morgen erst Montag und keiner würde dir dann sagen, warum du am Montag gefehlt hast.

lg
Roland

 

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