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Der vierte Reiter
Hier sitze ich nun also. Die Welt um mich herum, sie geht vor die Hunde. Von dem was wir einst kannten, was wir einst als Berlin bezeichneten ist nicht mehr viel übrig geblieben, auch wenn ich vermutlich noch der Einzige bin, der das weiß. Ja, natürlich... die Häuser, sie stehen noch. Allerdings stehen sie leer, nur noch bewohnt von infizierten Menschen, die von ihrem Schicksal vermutlich noch nicht einmal etwas wissen. Überlebenskampf, Kämpfe um die letzten Nahrungsmittel der Erde... Geschichten, die wir aus Hollywood kennen, die so aber nicht passieren werden. Nicht, wenn das Verderben so schnell über uns kommt. Und es wird schnell gehen.
Schon jetzt, nach 24 Stunden wird das Virus sich über die halbe Welt verbreitet haben und ich habe die Befürchtung, dass hier in der Stadt kaum noch jemand gesund ist. Es ist entwickelt worden, damit es hochgradig ansteckend ist. Es ist entwickelt worden, um absolut tödlich zu sein. Es war jedoch nicht entwickelt worden, um freigesetzt zu werden. Noch nicht.
Wir waren damit beauftragt worden, es zu entwickeln. Wer „wir“ waren? Eine Gruppe von Wissenschaftlern. Biologen, Chemiker und Virologen. Und wir hatten eines gemeinsam. Wir hatten irgendwann in unserer Vergangenheit den Fehler gemacht, uns mit den falschen Leuten einzulassen. Die Gründe dafür waren unterschiedlich. Die einen brauchten Geld, die anderen wollten Macht. Manche von uns wollten, dass unliebsame Konkurrenz für immer verschwand. Ich gehörte zur ersten Gruppe. Ich habe gut verdient, habe mir ein Leben aufgebaut, welches teuer war, unglaublich teuer sogar. Und dann? Sparmaßnahmen. Ich wurde gefeuert, weil die Zuschüsse für das Projekt zusammengestrichen wurden. Aber meinen Lebensstandard aufgeben? Nein, das kam nicht in Frage. Ich brauchte also Geld. Eine Menge Geld, um ehrlich zu sein. Und ich bekam es auch, nahm es an obwohl ich wusste, dass es aus Quellen stammte, die man allenfalls noch als dubios bezeichnen konnte. Es interessierte mich nicht. Ich hatte was ich wollte und machte mir keine Gedanken darum, dass mich genau dieses „Geschäft“ irgendwann einmal dorthin bringen würde, wo ich jetzt stehe.
Vor vier Monaten schließlich klingelte mein Telefon.
>>Schneider,<< meldete ich mich wie gewohnt.
>>Professor Schneider, schön dass Sie zu Hause sind. Wir haben vor einiger Zeit eine Vereinbarung mit Ihnen getroffen und nun ist es an der Zeit, dass Sie Ihren Teil einlösen.<<
Ich legte auf, hielt den Anrufer für einen Verrückten. Das Geld war für mich mittlerweile zu etwas selbstverständlichem geworden und die besagte Abmachung hatte ich schon völlig aus meinem Gedächtnis verdrängt. Wieder klingelte mein Telefon.
>>Schneider,<< meldete ich mich wieder, diesmal mit einem deutlich wahrnehmbaren aggressiven Unterton in meiner Stimme. Aus dem Hörer war zunächst nur ein verächtliches Schnauben zu hören.
>>Aber, aber, Professor,<< erklang es und ich war schon versucht, wieder aufzulegen als der Mann mit dieser unglaublichen dunklen Stimme weiter sprach. >>Ihr Bankkonto erinnert sich hoffentlich besser an unsere Geschäftsbeziehung als Sie. Und falls dem nicht so sein sollte... ich beglückwünsche Sie zu ihrer ausgesprochen hübschen Tochter. Wie alt ist Patricia denn mittlerweile? 15? 16? Genau in dem Alter, in dem sich die Männer für sie zu interessieren beginnen, nicht wahr?<<
Patricia war zu diesem Zeitpunkt tatsächlich 16 und sie war bereits damals ein bildhübsches Mädchen. In meinem Hals bildete sich ein heißer Klos, der mir nicht nur das Schlucken sondern auch das Atmen beinahe unmöglich machte. Mein Schweigen deutete der unbekannte Anrufer offenbar als Zeichen dafür, weiter zu sprechen.
>>Schön, dass Sie zumindest so vernünftig sind, nicht wieder aufzulegen, Herr Schneider. Es wäre doch äußerst unerfreulich, wenn man Ihre Tochter irgendwo in einer Gosse finden würde. Und noch unerfreulicher wäre es doch, wenn man ganz genau sehen würde, dass vorher jemand... seinen Spaß mit ihr gehabt hat. In meiner Position ergeben sich da einige sehr interessante Möglichkeiten.<<
Schon der Gedanke daran jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken, die ich so noch nicht erlebt hatte, ließ mir die Tränen in die Augen steigen. Tränen der Angst, der Abscheu und der blanken Wut, die ich in diesem Moment in mir verspürte
>>Nun da ich endlich Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit habe, möchte ich auch direkt zum Punkt kommen. Sie schulden uns einiges, Professor und es ist an der Zeit, diese Schulden zu begleichen. Ich möchte, dass Sie eine Tasche packen. Ein paar Kleidungsstücke, den nötigsten Hygienebedarf, wenn es sein muss auch ein paar persönliche Gegenstände. Ihr Handy werden Sie abschalten. Auch werden Sie nach diesem Gespräch weder telefonieren oder Ihren Computer benutzen. In einer Stunde werden wir Ihnen einen Wagen schicken. Sie werden keine Fragen stellen, sondern einsteigen. Sie werden sich von niemandem verabschieden. Nicht von Ihrer Ex-Frau, nicht von Ihrer Tochter. Halten Sie sich an diese Anweisungen, wird niemandem etwas passieren. Halten Sie sich nicht daran, wird Ihre Familie leiden. Und es wird bei Patricia anfangen.<<
Danach wurde das Gespräch unterbrochen. Einige Minuten lang stand ich nur da und starrte den Hörer an, den ich noch immer in der Hand hielt. Was sollte ich tun? Natürlich, jeder vernünftig denkende Mensch wäre zur Polizei gegangen. Aber glauben Sie mir, in solchen Situationen denken Sie nicht mehr logisch. Sie handeln instinktiv. Ich tat das, was man mir aufgetragen hatte, packte ein paar Klamotten zusammen, setzte mich in mein Wohnzimmer und wartete. Ich glaube, in dieser Stunde habe ich mindestens eine Schachtel Zigaretten geraucht – obwohl ich schon seit Jahren Nichtraucher war. Diese eine Schachtel Zigaretten, die immer mein Notnagel gewesen war. Das Wissen, sie noch im Haus zu haben hat mich immer beruhigt, wenn ich schwach zu werden drohte. Dieses Mal jedoch gab ich dem Verlangen nach. Schließlich fuhr ein schwarzes Fahrzeug die Auffahrt hinauf, die ich durch die großen Fenster meiner Villa sehr gut im Blick hatte. Ich drückte meine letzte Kippe im Aschenbecher aus, stand auf und ging zur Tür. Eine der Fonds-Türen wurde von innen heraus geöffnet und ich stieg ein. Neben mir saß ein junger Mann, blond, weiche Gesichtszüge, und Augen die so grün waren, dass er damit wahrscheinlich jede Frau herum kriegte, die er nur haben wollte. Wenn er nur nicht so schrecklich blass, ja fast schon fahl, gewesen wäre, hätte er eine äußerst sympathische Person sein können. Dieser Eindruck verflüchtigte sich bei mir jedoch unmittelbar, als er anfing zu sprechen.
>>Professor Schneider, es freut mich, dass Sie kooperieren.<< Es war die Stimme vom Telefon. Dunkel, tief. Verdorben.
>>Ich bedauere sehr, dass wir Ihnen noch weitere Unannehmlichkeiten zumuten müssen, aber Sie werden nach unserer Ankunft verstehen, dass diese Sicherheitsmaßnahmen notwendig sind. Wenn ich Sie bitten dürfte, dass hier aufzusetzen?<<
Mit diesen Worten reichte er mir eine schwarze Maske, ähnlich einer Sturmhaube. Allerdings ohne Ausschnitte für die Augen. Ich zögerte einen Moment und sofort verschwand jede Freundlichkeit aus der Stimme des Mannes.
>>Sofort. Denken Sie an Patricia.<<
Da war es wieder, dieses Zauberwort welches mich ganz automatisch seinen Anweisungen folgen ließ. Ich zog die Maske über und die Welt verschwand in Dunkelheit.
Ich weiß nicht, wie lange die Fahrt gedauert hat. Ich hatte zu Hause das letzte Mal auf die Uhr gesehen, es war gerade einmal 14:15 Uhr gewesen, als sie mich abholten. Jetzt war es schon dunkel – was aber nicht viel bedeuten mochte, immerhin schrieben wir den 4. Dezember und die Tage waren kurz. Die Maske wurde mir abgenommen und ich wurde in ein Gebäude gebracht, welches von außen so heruntergekommen war, dass ich mir nicht einmal im Ansatz vorstellen konnte, welchem Zweck es wohl dienen mochte. Das änderte sich schlagartig, als man mich in den Keller führte, der von einer Sicherheitstür verschlossen war. Dahinter befand sich eine Luftschleuse, Sie wissen schon. Diese Dinger, die man aus den Filmen kennt. Zu jenem Zeitpunkt war sie noch ohne Funktion und so dauerte es nicht lange, bis dieser große Laborkomplex, der dahinter lag sich mir eröffnete. Auf den ersten Blick bestens ausgestattet. Nichts, was auf die Schnelle aus dem Boden gestampft werden konnte. Und nichts, was sich ohne großen finanziellen Aufwand hätte realisieren lassen. Zu diesem Zeitpunkt ging mir vor allem ein Gedanke durch den Kopf. Drogen. Was sonst würde dieser Mensch wohl von einem Chemiker wollen, den er gerade entführt hatte? Was wirklich dahinter steckte, wurde uns erst später bewusst. Und die Erkenntnis war mehr als nur erschreckend.
Ich wurde meinen neuen Mitbewohnern vorgestellt, jeder von ihnen hatte mindestens einen Doktortitel, die meisten mehrere. Sie alle kamen aus den Naturwissenschaften und sie alle teilten mein Los: keiner von ihnen war freiwillig hier. Einige von ihnen hatte man erpresst, andere ganz offensichtlich mit Gewalt hierher gezwungen, jedenfalls sprach ihre körperliche Verfassung dafür. Man führte uns in der Anlage herum, zumeist wortlos. Wir brauchten keine Erklärungen, jeder von uns kannte die Geräte, die sich hier befanden. Mir machten sie keine Angst, was aber sehr wohl ein schlechtes Gefühl hinterließ, waren die drei Glaszellen, welche ganz offensichtlich darauf ausgelegt waren, Menschen gefangen zu halten. Auf einen Stuhl gefesselt. Was zum Teufel ging hier vor sich? Die weitaus bessere Frage war aber: wollte ich das denn wirklich wissen? Das Ende der Tour führte uns schließlich in den Wohntrakt, welcher sich erstaunlich komfortabel darstellte. Es mangelte an nichts, außer an Kommunikationsmöglichkeiten nach außen. Keine Telefone, kein Internet. Gar nichts. Uns wurde klar, dass wir nichts anderes als Gefangene waren, denen man eine Aufgabe zudachte.
In den ersten Wochen war uns noch nicht bewusst, woran genau wir arbeiteten, ich war noch immer der Überzeugung, dass es sich um eine neuartige Droge handeln müsse. Doch ein paar meiner neuen Kollegen stellten das von Anfang an in Frage. Ihre Befürchtungen waren noch weitaus schlimmer als die meinen. Zwar fütterte man uns immer nur mit den notwendigsten Informationen, doch jemand der in seinem Gebiet gut war, erkannte Zusammenhänge auch ohne dass man sie ihm haarklein vorkaute. Und die beiden Virologen unter uns schossen sich schnell auf die Meinung ein, dass wir an einer Extremform der Lungenentzündung forschten. Sie müssen wissen, diese Krankheit ist eine der tödlichsten überhaupt. Nein, falsch. Es ist die tödlichste Krankheit überhaupt. Aber, so muss man es im Nachhinein leider deutlich sagen, es ist durch ihre ohnehin schon hohe Verbreitung auch eine eher unauffällige Krankheit.
Unsere Arbeit schritt offensichtlich zur Zufriedenheit unserer Auftraggeber voran. Meine Befürchtung, dass wir an einer experimentellen Droge arbeiteten hatte sich in eine Hoffnung verwandelt, nachdem der Verdacht aufgekommen war, dass wir einen Virus entwickelten. Eine Hoffnung, die Mitte Januar vollends zerstört wurde. Die Versuche begannen. Zunächst nichts weiter ungewöhnliches. Ratten, Hamster, Mäuse. Sie infizierten sich. Und sie starben schnell. Unsere Experimente bewiesen, dass sie sich untereinander anstecken konnten, der Erreger aber nicht in der Lage war, auf andere Rassen wie Hunde oder Katzen überzugreifen. Wir wurden angehalten, das zu ändern und zum ersten Mal regte sich eine Art Widerstand in uns. Wir versuchten zeitgleich eine Art Impfstoff zu entwickeln – die Voraussetzungen dafür waren gut, schließlich war diese neuartige Krankheit unser Werk. Wir hatten alle Mittel in der Hand. Natürlich, wir mussten nach außen hin den Schein wahren, auch weiter das zu tun, was man von uns verlangte. Ich dachte noch immer an Patricia. Fragte mich, was sie wohl von mir dachte, schließlich hatte ich, ihr Vater, sich zu Weihnachten nicht einmal gemeldet. Wurden wir mittlerweile von der Polizei gesucht? Warum hatte unser nun schon mehr als einmonatiges Verschwinden nicht dazu geführt, dass Ermittlungen eingeleitet wurden? Ich weiß es bis heute nicht. Vielleicht, ganz vielleicht, hatten unsere Entführer aber auch für diesen Fall vorgesorgt. Ich weiß es nicht und jetzt ist es auch müßig, darüber nachzudenken. Es gibt ja kaum noch jemanden, der nach uns suchen würde.
Wir arbeiteten weiter, waren erfolgreich und es dauerte nur einen weiteren Monat, bis die ersten Menschen „zu Besuch“ kamen. Eines morgens als wir das Labor betraten sahen wir einen Mann in einer dieser grauenhaften Zellen. Offensichtlich ein Obdachloser, eine arme Seele die sich, vermutlich in der Aussicht auf ein paar Euro oder auch nur eine warme Mahlzeit, dazu hatte überreden lassen in diese schwarze Limousine zu steigen. Jemand, den wahrscheinlich nie jemand vermissen würde. Die Menschenversuche... die wohl schlimmste Zeit unserer Gefangenschaft. Man zwang uns, das von uns entwickelte Virus zu injizieren. Wir wurden gezwungen zu beobachten, was mit diesem bemitleidenswerten Menschen passierte. Ja, er starb. Aber er litt. Er litt lange, bevor seine Schreie nach Tagen endlich verhallten und sich eine unheilvolle Ruhe über das Labor legte. Es war nicht das Ergebnis, welches man von uns erwartet hatte. Das wurde uns auf sehr schmerzhafte Art bewusst gemacht. Der sympathische blonde Mann tauchte wieder auf. Er hielt eine lange Ansprache darüber, wie enttäuscht man über unsere Leistungen in der letzten Zeit war. Er erklärte uns, dass es in unserer aller Sinn wäre, sich wieder mehr auf das Ziel zu konzentrieren. Und er hielt fest, dass wir ihn dazu zwingen würden, ein Exempel zu statuieren. Dann erschoss er Doktor Wilkens, einen der Biologen. Ohne mit der Wimper zu zucken. Sein Blut und seine Gehirnmasse spritzten auf die Umstehenden – ich denke bis heute, dass das eine besondere Art von psychologischer Wirkung ausüben sollte. Ich denke auch, dass es gelang, denn nach der ersten Panik war unsere private Arbeit an dem Gegenmittel vergessen. Die Angst hatte um sich gegriffen und dafür gesorgt, dass wir unsere hohen Vorsätze über Bord warfen und wieder das taten, was man von uns verlangte.
Nach einem weiteren Monat schien sich unsere Entwicklung dem Ende entgegen zu neigen. Wir hatten in der Zwischenzeit einige Obdachlose kommen und gehen sehen. Wir hatten gesehen, was mit ihnen passierte, wenn man sie dem Erreger aussetze. Es dauerte nicht mehr lange, bis sie starben. Und das war bei der Hälfte von ihnen der Fall. Die andere Hälfte? Ich weiß nicht, was mit ihnen passierte. Ich vermute, dass man sie einfach irgendwo „entsorgt“ hat. Die Inkubationszeit lag bei nicht einmal mehr 12 Stunden, die Ansteckungswahrscheinlichkeit gemäß unseren Tests bei einhundert Prozent. Wir hatten etwas entwickelt, was ich jetzt als die Wohl mächtigste Waffe der Menschheit bezeichnen würde. Keiner von uns hatte an diesem Projekt mitarbeiten wollen. Wir konnten also nichts dafür, zumindest redeten wir uns das gerne ein. Dass wir nichtsdestotrotz schuldig waren übersahen wir. Wir mussten es übersehen, mussten irgendwie versuchen die Tragweite unseres Handelns auszublenden, um nicht auch noch den Rest an geistiger Gesundheit zu verlieren, an der wir bereits jetzt ernsthaft zweifelten. Und doch waren sie immer noch nicht zufrieden. Diese Waffe, denn nichts anderes war es mittlerweile für mich, sollte nicht nur hochgradig ansteckend sein, sie sollte auch eine möglichst hohe Mortalitätsrate haben. Fünfzig Prozent waren nicht gut genug. Zu diesem Zeitpunkt regte sich erneut der Widerstand in mir. Ich hatte gesehen, was mit Wilkens passiert war, hatte gesehen wozu diese Menschen bereit waren. Ich durfte nicht zulassen, dass sie dieses Virus in die Hände kriegten.
Ich erinnere mich noch an diesen Morgen. Ich hatte um Zigaretten und ein Feuerzeug gebeten. >>Wegen dem Stress,<< hatte ich mit einem halbherzigen Grinsen erklärt und zu meiner großen Überraschung wurde dieser Wunsch mir auch gewährt. Ich hatte mit niemandem über mein eigentliches Vorhaben gesprochen. Aus Angst, dass man mich verraten würde. Als wir mit unserer Arbeit beginnen wollten, ergriff ich meine Chance. Ich nahm das Feuerzeug aus der Tasche und hielt es an einen Stapel Papiere. Glauben Sie mir, ich dachte in diesem Moment, dass ich das einzig Richtige tun würde. Ich wollte, dass diese Einrichtung in Flammen aufging und dabei alles vernichtete, was mit der Entwicklung des Erregers zu tun hatte. Ja, ich hätte wissen müssen, dass dieses kleine Strohfeuer nicht dazu ausreichen würde, aber ich war verzweifelt. So verzweifelt, dass mir die Konsequenzen meines Tuns nicht bewusst wurden. Ich hatte mir die falschen Unterlagen ausgesucht, irgendwelche unwichtigen Notizen und ich hatte zudem auch nicht damit gerechnet, dass es tatsächlich jemanden unter uns gab, der freiwillig hier war.
>>Professor Schneider, Sie sollten wissen, dass manche von uns durchaus wissen, was sie hier tun. Aber arme Lichter wie Sie werden niemals erkennen, was für eine Macht diese Entwicklung uns geben wird.<<
Doktor Tietjen, einer der Virologen hatte meinen Sabotageakt mit einem Feuerlöscher schneller beendet als die Umsetzung gedauert hatte. Kurz darauf tauchte erneut der Blonde auf. Und wieder erläuterte er mit seiner tiefen, sonoren Stimme, dass mein Ungehorsam Konsequenzen haben würde. Ich rechnete damit, dass er mich ebenfalls erschießen würde. Wenn ich ehrlich bin, hoffte ich fast schon darauf, denn es hätte mich von dem Leid erlöst, welches das Wissen um die Art unserer Forschung mit sich brachte. Mit der Angst davor, was sie damit tun würden, wenn wir erst einmal ein fertiges Produkt vorzeigen könnten. Doch der erlösende Schuss blieb aus. Stattdessen wurde ich in mein Quartier gesperrt. Es müssen wohl mehrere Wochen gewesen sein, in denen ich dort alleine mit meinen Gedanken vor mich hin vegetierte, nur von kurzen Pausen zum Essen und Schlafen unterbrochen. Die Erlösung auf die ich gehofft hatte, ließen sie mir aber nicht zu Teil werden. Stattdessen wurde mir in dieser Zeit der Sinn hinter Tietjens Handeln erst richtig bewusst. Dieser Mann war freiwillig hier. Er wollte diese Waffe entwickeln, wollte dass man ihn damit in Verbindung brachte. Er würde alles geben, um sich selbst zu einem der mächtigsten Wesen dieser Erde zu machen.
Als man mich das nächste Mal ins Labor ließ, war eine der Zellen verhängt. Ich fragte mich natürlich, was das sollte, schließlich hatten sie bislang nie ein Geheimnis darum gemacht, wen sie dort einsperrten. Warum auch, es waren nur namenlose Gesichter, die ihre Armut zum Tode verurteilt hatte. Und genau deswegen machte sich in mir das Gefühl breit, dass es heute anders sein würde. Ich stand vor dem Glaskäfig und hing meinen Gedanken nach, als mich von hinten diese gleichermaßen bekannte wie auch verhasste Stimme ansprach.
>>Professor Schneider, schön Sie wieder zu sehen. Ich hoffe, Sie haben nicht vergessen, dass ihr kleines Abenteuer Konsequenzen haben würde.<<
Dann wurden mir die Arme hart auf den Rücken gedreht.
>>Ich hoffe, Sie genießen die Vorstellung.<<
Dann wurde das Tuch über der Zelle entfernt. Meine Augen weiteten sich angesichts der Erkenntnis. Es war tatsächlich anders als sonst. Dieses Mal war niemand auf diesen Stuhl gefesselt, der ein namenloser Unbekannter war. Dort drinnen saß mit einem verängstigten und offensichtlich von Schlägen angeschwollenem Gesicht Patricia. Meine kleine Patricia. Ich spürte förmlich, wie sich die Lippen des Mannes hinter mir zu einem bösartigen Grinsen verzogen, als er die Anweisung gab.
>>Injizieren Sie.<<
Einer der Laborgehilfen betrat die Zelle, zog eine lange Nadel auf und rammte sie meiner Tochter in den Arm. Sie war zu schwach zu schreien, zu schwach, sich zu wehren. Und sie war dem Tode geweiht, das war mir mittlerweile auch bewusst. Ich schrie meinen Hass und meine Verzweiflung heraus, versuchte mich aus dem Griff unseres Entführers zu befreien. Erfolglos.
>>Herr Schneider, ich will Ihnen noch mit auf den Weg geben, dass ich einen unglaublichen Spaß mit Ihrer Patricia hatte. Sie ist... sie war so rein. Und es war mir ein Vergnügen, ihren Widerstand zu brechen und sie auf meine ganz eigene Art gefügig zu machen.<<
Diese letzte Verhöhnung war es schließlich, die mir das entscheidende Quäntchen Kraft schenkte. Ich wand mich in seinem Griff, brachte alles an Kraft auf, was noch in mir steckte und schaffte es, mich zu befreien. Und plötzlich, war da noch etwas anderes. Eine zweite Person, die mit etwas nach dem Blonden schlug.
>>Das war für Wilkens und das Mädchen, Sie verdammter Mörder.<<
Dann fiel ein Schuss und Franke, einer der Virologen, brach mit einem blutigen Fleck auf dem Kittel zusammen. Aus den Augenwinkeln sah ich, was da seiner Hand entglitt. Eine Injektionskanüle.
Panik zeigte sich auf dem Gesicht des Blonden, als ihm klar wurde, was da eben mit ihm passiert war. Er trug es in sich. Er war jetzt schon genau so tot wie Patricia. Doch anders als sie hatte er die Möglichkeit zu entkommen. Es fielen weitere Schüsse, doch ich bekam nicht viel von dem mit, was um mich herum passierte. Ich konnte nur daran denken, was eben in der Glaszelle passiert war. Dann traf mich ein Schlag, es wurde dunkel um mich herum. Als ich es schließlich schaffte, mich zu erheben, war der Raum leer. Niemand außer mir war hier. Wie es schien, hatten meine Mitgefangenen die Wachmannschaft überwältigt und die Chance zur Flucht genutzt, vielleicht hatte die veränderte Situation aber auch zu einer allgemeinen Panik geführt. Immerhin hatte zumindest zum Schluss jeder gewusst, woran wir hier arbeiteten. Ich warf einen Blick auf Patricia. Ich wusste, dass ich nichts für sie tun konnte. Und doch würde ich, getrennt durch das Glas, die letzten Stunden mit ihr verbringen. Es war eine mehr als harte Zeit. Zu Beginn waren da noch Tränen, sowohl bei ihr als auch bei mir. Ich wollte ihr erklären, was da mit ihr passierte, aber ich konnte es nicht. Wie hätte ich meinem kleinen Mädchen sagen soll, dass ich das, was da in ihrem Körper wütete entwickelt hatte? Dass sie sterben würde? Und dass es nichts gab, was ich dagegen tun konnte? Ich wanderte vor der Zelle auf und ab und immer wieder kam das Verlangen auf, mich einfach zu ihr zu setzen, ihre Hand zu halten, ihr in ihren letzten Stunden zumindest ein wenig Kraft und Zuspruch zu schenken. Ihr zu sagen, wie sehr ich sie liebte. Doch wie konnte ich? Das Recht darauf hatte ich verspielt, indem ich mit meinem Ungehorsam ihr Todesurteil unterschrieben hatte. Die Tränen versiegten irgendwann. Nach neun Stunden setzte der Husten ein, zunächst nur schwach, jedoch stetig stärker werdend. Nach vierzehn Stunden begann sie, Blut zu spucken, ein sicheres Zeichen dafür, dass das Virus tat, was es sollte. Auch würde sie mittlerweile Fieber haben. Nach 18 Stunden schloss sie immer wieder die Augen. In den wachen Momenten erkannte sie mich nicht mehr, sah mich an wie einen Fremden. Endlich, nach 22 Stunden öffnete sie ihre Augen nicht mehr.
Sie starb heute morgen, nur einen Tag, nachdem sie die Spritze bekommen hat. Zwar haben wir das Virus im Labor immer nur über das Blut injiziert, aber ich weiß, dass es auch auf andere Wege übertragbar ist. Wir haben es getestet. Erfolgreich getestet. Ich sitze nun hier in der Gewissheit, dass wir den Vierten Reiter der Apokalypse in Form eines blassen jungen Mannes mit blonden Haaren und grünen Augen auf die Menschheit losgelassen haben. Und ich weiß, dass er ihren Untergang einläuten wird. Es gibt nicht, was wir noch dagegen tun können.
Warum ich Ihnen das hier erzähle? Weil ich es muss, nicht nur für mich. Meine Geschichte musste erzählt werden, um jedem der diese Epidemie überleben wird klar zu machen, dass wir uns in unserem Leben nicht von der Gier nach Geld leiten lassen dürfen. Wir müssen uns vor Auge führen, dass die Skrupellosigkeit einiger weniger, gepaart mit genug krimineller Energie anzurichten in der Lage ist. Das was passieren könnte, lässt sich vielleicht unter bestimmten Umständen nicht mehr aufhalten. Es liegt an ihnen, den Überlebenden, dafür zu sorgen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Wie Einstein schon sagte: er weiß nicht, mit welchen Waffen wir im Dritten Weltkrieg kämpfen werden. Den vierten jedoch führen wir mit Stöcken und Steinen.