Der Vorhang
Er stand einer Statue gleich am Fenster, als die beiden anderen eintraten. Keine Regung war zu sehen, deshalb räusperte sich der junge Mann vernehmlich. Die Schultern bewegten sich unter dem Hemd, und liessen ungeheure Kraft vermuten. Die Geschmeidigkeit, wie die Muskulatur spielte, faszinierte die Begleiterin des jungen Mannes, und liess sie den Mann am Fenster bewundern.
Plötzlich tauchten Sonnenstrahlen den Raum in helles Licht, Staub wirbelte lustig durch die Stille. „Ich hab Euch gehört.“ Die Worte eierten durch die Zeit, als hätten sie nicht gesagt werden gewollt. Langsam drehte er sich vom Fenster weg, sein Blick glitt über die Möbel, Bücher, Sessel – und blieb an ihrem Gesicht hängen. Jetzt löste sich etwas in ihm und kreiste wie die Zeiger einer überdrehten Uhr rückwärts. Er schwieg. Alle drei schwiegen. Der junge Mann nestelte nervös an seiner Jacke, die Frau stand kerzengerade, hielt den Kopf hoch und erwiderte den Blick ihres Gegenübers mühelos. Die Augenbrauen leicht gehoben – das Einzige Zeichen einer Gemütsregung.
Einst stand Abigail an jener Stelle. Sie hatte ihr glattes, schwarzes Haar straff nach hinten gekämmt. Der Ansatz formte aus ihrem Gesicht ein Herz, in dem zwei schwarze Opale glitzerten. Er hatte getobt, sie angeschrien – und sie blieb reglos stehen. Als er ihr drohte, zog sie die linke Augenbraue spöttisch nach oben und kräuselte ihre Lippen, sagte dennoch – nichts.
Am Liebsten wär er um den Tisch gegangen, hätte ihr seine riesigen Hände um ihren weissen Hals gelegt – oder er hätte sie geküsst. Stattdessen blieb er stur am Fenster stehen. Er erkannte nur Hohn und Spott in ihrer Haltung und in ihrem Gesicht. Er hatte verloren. Seufzend ging er zu seinem Schreibtisch, öffnete die kleine Schublade, nahm den Zwischenboden raus, und fühlte das Geld. Seine Fingerspitzen wanderten sacht darüber. Er wollte nicht – aber hatte er eine andere Wahl? Langsam zog er das Bündel aus der Lade, ging um den Tisch. Davor blieb er noch einmal stehen, und suchte ihn ihrem Gesicht nach Verständnis.
Während er seine Entscheidung noch mal überdachte, und angestrengt das Geld in seiner Hand betrachtete, hörte er das leise Klicken der Tür, die ins Schloss fiel. Er stand noch länger da, hörte zu, wie sie ihn verliess. Er wusste, nie wieder würde sie zurück kommen. Stunden später zog er den Vorhang zu und schwor sich – hier sollen keine Sonnenstrahlen mehr hereintanzen können.
17 Jahre und zwei Monate später erhielt er einen Brief. Weisses Papier mit blauer Tinte beschrieben. Sie würde ihn besuchen kommen, stand da. Ihre Mutter sei vor drei Jahren verstorben. Da sie nun heiraten wolle, bräuchte sie das Geld, welches ihr zustünde, und den Segen für die Hochzeit. Er hatte sich allerhand ausgedacht, warum er sie nicht empfangen konnte. Beim Nachdenken lief ihm die Zeit davon, und da stand sie nun. Hannah, die Tochter seiner grossen Liebe, die Tochter, die er nie haben wollte. Wegen ihr hatte Abigail ihn verlassen.
Er ging zu seinem Tisch, öffnete die Schublade, nahm den Zwischenboden raus, erfühlte das Geld. Er hob den Kopf und starrte die junge Frau erneut an. Das Geld lag ihm schwer in der Hand, als er um den Tisch ging. Konnte er noch mal darüber nachdenken? Die Wanduhr tickte leise, der junge Mann schniefte. Hannah stand da, und rührte sich nicht. Sie würde nicht wie Abigail ohne das Geld gehen. Sie würde auch keinen Schritt näher kommen, sich das Geld zu holen.
Seine Gedanken kreisten wie Geier über seinem Kopf – er riss sich zusammen und übergab dieser fremden und doch so schmerzlich vertrauten Frau das Bündel. „Der Segen?“ ihre Stimme liess ihn innehalten. Als hätte sie eine Harfe in seinem Herzen zum Leben erweckt – er wünschte sich, sie würde noch mehr sagen… Unsinn schalt er sich. „Meinen Segen habt ihr.“ Sagte er hölzern. „Danke“ dieses eine Wort zerschnitt alles, was war. Er ging zurück zu seinem Tisch, und hörte zu, wie die zweite Frau in seinem Leben ihn für immer verliess.