Was ist neu

Der Wüstenmann

Mitglied
Beitritt
27.07.2001
Beiträge
66

Der Wüstenmann

1)

Etwas brannte. Irgendwo her kannte er das doch. Er war wohl wieder einmal mit brennender Zigarette im Wäschekorb eingeschlafen. Es piekste auch so. Rasch schlug er die Augen auf, in der sicheren Erwartung, nur dem feurigen Flammentod in die Augen zu schauen. Aber nein, er sah keine Flammen. Eigentlich sah er nicht viele Dinge, besser gesagt nur eines, aber davon gleich eine ganze Menge: Sand. Nur Sand.
„Verdammt, ich muss vergessen haben, das Badewasser abzudrehen“, dachte er, doch dann fiel ihm ein, dass er dann ersaufen würde anstatt von Millionen und Abermillionen winziger Kieselsteinchen umweht zu werden.
Am liebsten hätte er die Augen gleich wieder geschlossen und auf einen spannenderen Traum gewartet, doch mit diesen furchtbar pochenden Kopfschmerzen würde er eh nicht mehr einschlafen können.
„Moment“, ging es ihm durch den Kopf, „seit wann hat man in Träumen Kopfschmerzen?“
Von einer Sekunde auf die nächste war er hellwach und ihm war schlagartig klar: Dies war kein Traum. Doch wo zum Geier war er? Und vor allem: Wie war er hierher gekommen?
Die U-Bahn hatte er nicht genommen, soviel war sicher. Da sich in seinem näheren Umfeld keine Anzeichen eines Wagens befanden, musste er davon ausgehen ... Nun ja, er wusste eigentlich nicht, von was er hätte ausgehen können. Vom typischen Einziger-Überlebender-eines-Flugzeugabsturzes bis hin zu der Vorstellung, dass die Wüste über das Mittelmeer bis nach Wanne-Eickel vorgedrungen war, konnte er sich so ziemlich alles ausmalen.
Wobei er allerdings einräumen musste, dass er nie in Wanne-Eickel gelebt hatte. Aber egal ob Wanne-Eickel oder Castrop-Rauxel, er war nicht mehr da, wo er sich am letzten Abend ins Bett gelegt hatte.
„Hmm, wo war das noch gleich?“ dachte er.
Nach dem zehnten Bier hatte er irgendwie nicht mehr allzu viel mitbekommen. Doch immerhin wusste er noch, dass er den Abend mit einer Frau verbracht hatte. Und dass es lustig gewesen war. Offenbar so lustig, dass er einen Filmriss gehabt hatte. Wenigstens hatte er nicht gekotzt, jedenfalls fand er keinen gefüllten Mülleimer neben sich. Nun, eigentlich fand er gar nichts neben sich. Außer Sand.
Er bückte sich, um eine Handvoll davon zu greifen. Dann ließ er ihn langsam durch die geschlossene Faust rieseln. Frau hatte ihm ja schon des öfteren vorgeworfen, eine ungepflegte Wohnung zu besitzen, aber so schlimm war es nun wirklich nie gewesen.
„Genau...“, sagt er sich und fing an zu buddeln, "... das muss eine dieser absurden Shows sein, wo sie Leute verarschen!"
Nach kurzem Graben fand er tatsächlich den Deckel zu einer kleinen Luke und hob ihn triumphierend hoch. Leider war da nur der Deckel, aber nichts, was er hätte abdecken können. Immerhin wusste er jetzt, dass der Müll auch vor der Sahara nicht Halt machte.
Er beschloss, noch ein weiteres Loch zu buddeln. Vielleicht würde er ja genug Müll finden, um sich daraus eine Hütte zu bauen, die ihn gegen die Sonne schützte. Gedacht, getan. Nachdem er eine Stunde unter der sengenden Sonne geschuftet hatte, konnte er stolz auf seine neuen Errungenschaften blicken: Einen alten Türknauf, ein chinesisches Micky-Maus-Heft und einen echten Wackerstein. Auf letzteren war er besonders stolz, konnte er sich doch darauf setzen und das chinesische Comicheft lesen. Jetzt musste er nur noch chinesisch lernen.
Oder weiterbuddeln und einen Chinesen finden, dessen Hobby die deutsche Sprache war. Da sich darauf allerdings keine großen Hoffnungen aufbauen ließen - welcher Chinese spricht schon Deutsch - entschied er sich, ein bisschen die Gegend zu erkunden. Wobei ... so einen Wackerstein würde er vielleicht nicht überall finden und ihn mitzuschleppen wäre lebensmüde.
Also beschloss er, erst einmal auf dem Wackerstein sitzen zu bleiben und über das Transportproblem nachzudenken. Bei mehreren Türknäufen hätte er diese als Rollen benutzen können, doch er hatte leider nur den einen, und der war zudem noch eckig. Also verwarf er die Idee wieder. Vielleicht konnte er ja den Wackerstein vor sich herrollen, doch leider hatte auch dieser Plan einen Haken: Der Stein war noch eckiger als der Türknauf. Schweren Herzens fasste er einen wagemutigen Entschluss: Er ließ den Wackerstein und die Luke liegen, schnappte sich das Micky-Maus-Heft und den Türknauf und wollte sich in Richtung Sonnenuntergang aufmachen. Dumm nur, dass die gerade erst aufgegangen war.
Kurzentschlossen ließ er die Sonne hinter sich und stapfte los. In der Annahme, Reis wachse da besser, wo nicht so viel Sonne ist, vermutete er in dieser Richtung am ehesten einen Chinesen. Andererseits gab es im sonnigen Italien wesentlich mehr Comics, so hätte ihn das Micky-Maus-Magazin nicht zu interessieren brauchen. Nach kurzem Zweifeln lief er aber weiter, wusste er mit italienisch doch ebenso viel anzufangen wie mit chinesisch.
Nachdem er einige Stunden gelaufen war (in Wahrheit waren's bloß 32 Sekunden, jedenfalls, wenn meine Uhr richtig geht), traf er auf einen anderen Wanderer, der eine Kloschüssel und einen Papierhut in der Hand hielt.
„Moin“, sagte er, da ihm nichts besseres einfiel.
„Morjen“, antwortete der andere und zog seinen Hut, obwohl er ihn ohnehin schon in der Hand trug.
„Sie sollten Ihren Hut aufsetzen. Hilft gegen Sonnenstich,“ erklärte er dem Fremden.
Der nickte nur, setzte den Papierhut auf und ging dann seiner Wege. Mehr Worte wechselten die beiden nicht. Wozu auch, es gab ja doch nichts spannendes zu berichten - außer Sanddünen.
„Hallo!“ hörte er eine Stimme von hinten und drehte sich um.
Eine Frau kam ihm entgegen gerannt: „Können sie mir helfen? Gerade habe ich einen Mann mit Kloschüssel aus dem Sand ausgegraben und nun ist er weg.“
Hektisch wedelte sie mit einem chinesischen Micky-Maus-Heft, das seiner eigenen Ausgabe entsprach.
„Was interessiert Sie denn an dem Typen?“ fragte er verwundert.
Sie keuchte: „Wie ich seinem Tagebuch entnommen habe, das mit im Sand steckte, ist er ein arbeitsloser Chinesisch-Übersetzer!“
„Au verdammt!“ rief er und rannte in die Richtung, aus der er gekommen war.
„Hey! Warten Sie!“ schrie die Frau. „Haben Sie mir nicht zugehört? Er ist verschwunden. In der Richtung liegt bloß wüster Wüstensand. Der kann Ihnen kein chinesisch übersetzen.“ Der Mann blieb stehen und kratzte sich am Kopf.
„Was soll ich dann noch mit dem blöden Heft? Wollen Sie es haben?“
„Nein danke, ich hab schon eins. Aber vielleicht finden wir ja noch jemanden, der Chinesisch kann. Oder eine Sanddüne mit Fremdsprachenkenntnissen.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Meinetwegen. Ist ohnehin langweilig so ganz allein in der Wüste. So habe ich wenigstens einen Gesprächspartner.“
Schweigend setzten sie den Weg fort.


2)

Zum ersten Mal hatte er eine Frau an seiner Seite, die nichts gegen seine Wohnung sagte. Nun gut, es bestand immer noch die Möglichkeit, dass das hier seine Wohnung war. Vielleicht war er geschrumpft worden und stampfte jetzt mit ein paar anderen in den Überresten eines Butterkekses der Firma Bahlsen. Und seine Stehlampe, die von Oma Hilde, schwankte neuerdings und jemand hatte die kaputte Birne ausgewechselt.
Er drehte sich zu der Frau um, die neben ihm lief: „Sind Sie eigentlich verheiratet?“
„Ja, mit dem Sand der Wüste, glaube ich.“
„Tschuldigung, dass ich gefragt habe. Ich sehe nur keinen Ehering.“
„Na und? Wir sind ja auch nicht in den USA, wo jeder vernünftige Republikaner noch einen Ehering hat, wenn er verheiratet ist. Ich hab meinen allerdings bloß verloren.“
„Das heißt also, Sie haben einen Mann?“
„Nein, ich bin geschieden. Ich hab den Ring schon vor zehn Jahren verloren. Ist unter einen Keks gefallen und nie wiedergekehrt.“
„Bahlsen?“
„Nein, war einer von 'Gut und Billig'.“
„Aha.“
„Warum haben Sie sich denn scheiden lassen?", fragte er neugierig.
„Er hatte was gegen die Kekse von Gut und Billig, und für Bahlsen wollte ich nicht immer mehr ausgeben. Und die Kinder kamen ganz nach dem Erzeuger.“
„Kinder, wie schön. Sind die bei Ihnen?“
„Ja, natürlich.“
Sie bückte sich und grub ein kleines Loch in den Sand, bis eine Hand zu sehen war. Die Frau packte zu und zog den Körper eines kleinen Jungen aus dem Sand, dann, auf gleiche Weise, ein älteres Mädchen.
„Ich könnte die Kinder nie alleine lassen, müssen Sie wissen.“
„Kann ich verstehen. Ich habe zwar keine Kinder, aber einen Hund.“
Er wühlte ein wenig im Sand, bis er 'Au!' schrie und seine Hand schnell zurückzog. „Leider ist der bissig.“
„Sie müssen Ihn besser erziehen.“ Die Frau griff in das Loch, aus dem jetzt eine Hundeschnauze herausschaute.
„Braver Hund. Bekommst auch ein Leckerli, wenn du mich nicht beißt.“ Sie streichelte den Hund, bis er schnurrte wie eine Katze.
„Luca, gib ihm einen Hundekuchen. Aber einen von Gut und Billig.“
Sie wandte sich an den Mann: „Die von Bahlsen sind zu teuer.“
Luca wühlte im Sand, bis er eine Tüte Hundekuchen in der Hand hielt.
Seine Mutter blickte ihn wütend an: „Ich sagte doch, nicht die von Bahlsen! Böser Junge. Du musst heute ohne Essen in den Sand.“
„Schlecht erzogen, Ihr Junge.“
„Das hat er von seinem Vater. Wissen Sie, der war bei der Geburt dabei, danach haben die beiden sich nie wieder gesehen, aber doch zweifle ich nicht an seiner Schuld.“
Sie liefen eine Weile, bis sie einige hundert Meter entfernt etwas blau schimmern sahen. In der Hoffnung, Wasser zu finden, rannten sie los. Doch als die fünf ankamen, entdeckten sie nur den Mann von vorhin. Er hatte wohl eine blaue Jacke entdeckt und diese übergezogen.
„Ist der Mann tot, Mama?“, fragte Luca.
„Nein, der tut nur so. Indem er eine Weile nicht atmet spart er Energie, dass ist sehr wichtig hier.“
„Vielleicht sollten wir den Mann wecken?“ fragte Luca.
„Genau, er muss uns ja noch das Comicheft übersetzen!“ sagte der Mann mit dem Türknauf. Die Frau schüttelte den Kopf.
„Nein, wir sollten uns besser dazulegen und Mittagsschlaf machen.“
„Jetzt schon?“ wunderte sich der Türnkauf-Mann. „Es ist doch noch nicht mal zehn. Jedenfalls, wenn ich nach meiner inneren Uhr gehe.“
„Die ist kaputt“, murmelte die Frau schon im Halbschlaf.
Der Mann mit dem Türknauf zögerte einen Moment, breitete dann sein Comicheft im heißen Wüstensand aus und legte sich ebenfalls hin.
Als er sich sicher war, das alle eingeschlafen waren, stand er leise auf. Auf Zehenspitzen schlich er zu den einzelnen Personen und klaute Klodeckel und Micky-Maus-Heft. Nun hatte er zwei derselben, eines zum einschweißen, das andere zum drauf liegen. Mehr ließ sich damit so oder so nicht anfangen. Unsicher, was er nun tun sollte, wand er sich an die nächste Düne, die ihm ins Blickfeld kam; es war diejenige zwischen der Düne rechts und der Düne links, also die Düne in der Mitte vor der dahinter.
Er ging auf die Düne zu und wagte den gefährlichen Aufstieg, der mindestens zwei Minuten dauerte. Von oben hatte er einen herrlichen Blick auf ... nichts. Außer Dünen. Und Sand. Und noch mehr Dünen. Und noch mehr Sand. Und ein Flugzeug, das am Horizont zu sehen war – und sich seltsamerweise schnell auf ihn zu bewegte. Rasend schnell, um genau zu sein. So schnell, dass er nicht mehr ausweichen konnte. Im letzten Moment packte er eines der Räder des ausgefahrenen Fahrgestells. Kaum hatte er sich festgeklammert, zog das Flugzeug in einer Steilkurve in die Höhe, so als hätte es nur darauf gewartet, ihn als Passagier aufzunehmen. Zwar nur als blinden, aber immerhin. Und er konnte ja trotzdem noch sehen.
Na gut, immer noch nur Sand. Aber immerhin gelben Sand und keinen grauen aus alten Kinderspielplätzen. Er zog sich am Fahrgestell hoch, in der Hoffnung, so ins Flugzeug zu gelangen. James Bond hatte es vorgemacht, er würde es nachmachen, aber erst später, da ihm eine Minute danach auffiel, dass es so eine Verbindung gar nicht gab, dafür aber eine tolle Stahlplatte, die alles wunderbar abschloss. Da wurden tausende Flugzeuge gebaut, und James Bond erwischte das, wo die Stahlplatte fehlte. Glück müsste man haben. In diesem Moment klappte das Fahrwerk, an dem der Mann sich festklammerte, zusammen, um im Rumpf des Flugzeugs zu verschwinden.


3)

Nun befand er sich also im Inneren des Flugzeugs. Irgendwie jedenfalls, denn aus dem Radkasten schien es kein Entkommen zu geben. Außerdem war es zu dunkel, um überhaupt einen Fluchtweg zu finden. Und so ganz im Dunkeln konnte ihm natürlich auch kein Licht aufgehen. Er beschloss also zu warten, denn irgendwann musste das Flugzeug ja wieder landen. Oder abstürzen, wenn ihm der Sprit ausging, aber daran wollte er lieber nicht denken. Schließlich hätte man dann neu auftanken müssen, und bei den heutigen Spritpreisen ... Nein, wahrlich kein angenehmer Gedanke. Nach fünf Minuten des Wartens wurde es ihm jedoch zu langweilig, und er begann doch, sich Gedanken zu machen, wie er aus seiner engen Umarmung mit dem rechten Vorderrand entkommen könnte.
Wobei so eine rechtes Vorderrand doch ganz nett war. Nicht so gut wie eine Frau, aber die Umarmung hatte was. Nur der Geruch störte. Also machte er sich an der Klappe zu schaffen, die das Rad nach unten hin abschirmte. Er drückte dagegen, nur um die Stabilität zu prüfen. Mit einem Ächzen sprang sie auf und er spürte den kalten Wind um seine Beine pfeifen. Auf einmal kam ihm die Radumklammerung doch ganz angenehm vor.
„Vielleicht sollte ich lieber nach oben rausklettern“, dachte er, doch es war zu spät.
Ein Luftloch schüttelte das Flugzeug durch und er flog durch die Klappe nach unten in die Tiefe.
„Verdammt, ich habe den Türknauf oben vergessen“, dachte er. „Muss denn heute alles schief gehen? Dabei hatte der Tag so gut angefangen.“
Bei genauerem Nachdenken musste er aber zugeben, dass das nicht so gewesen war. Schließlich war er heute Morgen mutterseelenallein in der Wüste aufgewacht. Und genau dorthin schien er jetzt zurückzufallen. Wenn der Wind ihn weiter vor sich hin trieb, konnte er aber auch im Meer landen. Das Schicksal hatte schließlich noch 2500 Meter Zeit, um sich zu entscheiden.
Er überlegte. Nun, er hatte das schon länger vorgehabt, aber jetzt wollte er die Sache in die Tat umsetzen. Er dachte an das Micky-Maus-Heft. Vielleicht konnte er auf den letzten 2500 Metern noch chinesisch lernen und wenigstens genussvoll mithilfe einer der Geschichten des berühmten Carl Barks zugrunde gehen. Er öffnete das Heft und sah noch, wie eines dieser nervigen kleinen Spielzeuge herausflog. Er sah ihm nach und betrachtete dann die Abbildung in der Heftmitte. Ein Minifallschirm.
„Verdammt“, dachte er und ärgerte sich über seine verpasste Chance. Aber Moment mal – er hatte ja zwei von den Dingern.
Also zog er das zweite Heft aus der Tasche und klappte es vorsichtig auf, damit ihm das Extra nicht gleich wieder fortgerissen wurde. Vorsichtig fummelte er den Mini-Fallschirm aus der Plastiktüte und fragte sich dabei, ob die chinesischen Micky-Maus-Heft-Extras auch in China hergestellt werden würden.
„Wahrscheinlich nicht, in den Zeiten der Globalisierung stammen die bestimmt aus Deutschland.“
Schließlich hatte er den Schirm aus seiner Umhüllung befreit und entfaltete ihn. Er hatte sagenhafte 20 Zentimeter Spannweite.
„Na ja, vielleicht bremst das meinen Flug ja soweit, dass ich zwei Sekunden länger lebe.“ Mit diesem frohen Gedanken im Hinter- und Vorderkopf ging er die letzten 1000 Meter an.
Er wickelte sich den Fallschirm um den kleinen Finger. Das musste einfach funktionieren. Den Klodeckel immer noch unter dem Arm geklemmt öffnete er ihn. Er stoppte seinen Fall. Nun ja, vielleicht war es auch der Schnee unter ihm. Aber er wollte ja nicht anfangen zu spekulieren. Er lebte, dachte er zumindest ... Sagen wir, er war davon halbwegs überzeugt. Und sein Kopf hatte nichts abbekommen. Es gab einen Schlag und etwas, das sich anfühlte wie eine Türklinke, traf ihn am Hinterkopf und ließ ihn ohnmächtig zusammensacken.


4)

„Er lebt“, sagte die alte Dame.
„Hätte ich nicht gedacht“, sagte der alte Herr. „Sah ja ziemlich verfroren aus, der Ärmste.“ Die alte Dame schüttelte den Kopf.
„Kein Wunder, außer einem Klodeckel und zwei Micky-Maus-Heften hatte er nichts an.“
„Vergiss die Türklinke nicht.“
„Die war ja schon kaputt. Jedenfalls fehlte die dazugehörige Tür.“
Der alte Mann meinte: „Egal, ich habe sie trotzdem in die Garage gelegt. Wer weiß, wann man so was mal braucht.“
„Das hast du bei der Garage auch schon gesagt, 'man könnte so was ja mal brauchen'“, sagte die alte Frau. „Und jetzt leben wir seit 70 Jahren in Nepal und es ist immer noch keine Straße bis zu uns vorgedrungen!“ Der alte Mann schüttelte den Kopf.
„Wir haben Zeit, viel Zeit.“
„Haben wir nicht. Ich lebe in zwanzig oder wie viel Jahren jedenfalls nicht mehr, wer wird schon 110!“
„In 20 Jahren bist du erst 107, also nun übertreib mal nicht. Außerdem sind die bisherigen 87 Jahre auch wie im Fluge vergangen.“ Die alte Dame seufzte.
„Für dich vielleicht, du warst ja auch Kapitän, ich hingegen war bloß Einzelhandelskauffrau.“
„Kapitän war ich auch nur bis zum ersten Weltkrieg, und das ist schon mindestens so lange her wie unser Einzug in dieses Haus.“ Die alte Dame setzte sich auf den einzigen Stuhl im Haus.
„Weißt du, wir hätten uns statt der Garage damals ein paar mehr Möbel anschaffen sollen.“
„Nun mecker mal nicht, ich habe eben vor 50 Jahren einen kleinen Fehlkauf gemacht. Und Geld für weitere Käufe haben wir nicht.“
„Du könntest ja aus der Garage ein paar Stühle bauen.“
„Die ist aber aus Wellblech.“ Die alte Dame seufzte wieder.
„Dann gib dir halt etwas Mühe.“
Da stöhnte es aus der Zimmerecke.
Der Mann aus der Wüste öffnete langsam die Augen und blickte in die Gesichter der beiden alten Menschen. Er zuckte zusammen und versuchte näher an die Wand zu robben, um von ihnen weg zu kommen. Mit älteren Menschen hatte er keine guten Erfahrungen gemacht, besonders mit solchen, deren Tochter er den Kopf verdreht hatte.
„Wir tun Ihnen nichts“, sagte der alte Mann im tadellosem Deutsch. „Und keine Panik, Deutsch habe ich 1917 gelernt. Kriegsgefangener.“
Der Wüstenmann sagte nichts.
„Vielleicht spricht er kein Deutsch“, sagte die alte Dame.
Der alte Mann versuchte es in anderen Sprachen: „Do you speak englisch? Parli italiano? Hablas espanol?“ Doch der Wüstenmann kroch nur noch weiter in die Ecke, er verschmolz fast mit ihr.
„Vielleicht ist ihm kalt“, meinte die alte Dame.
„Papperlapapp, hier drin ist's so warm wie beim D-Day.“
„Das war der andere Krieg, da warst du doch gar nicht dabei.“
„Aber Karl, der war dabei, und der hat's mir erzählt, wie ihm da eingeheizt wurde.“
„Woher kennst du denn Karl?“, fragte die alte Dame.
„Na, aus der Gefangenschaft. Habe ich dir doch erzählt, damals, am 1. Juli 1919, als ich zurückkam.“
„Ach ja, stimmt. Wo habe ich nur mein Gedächtnis?“
„Wer ... sind ... Sie?“ fragte der Mann aus der Wüste.
„Also ich bin Nepasontio Trigozió Palakowtchick, und das ist meine Frau, Rigruenta Kaela Palakowtchick. Man nennt uns der Einfachheit halber aber nur Nepaso und Rigu“, antwortete der alte Mann lächelnd.
„Ah ja. Und wo bin ich?“
Die alte Frau kam ihrem Mann zuvor: „Grapotschniso, sie sind in Grapotschniso!“
Der Wüstenmann stand auf und lehnte sich gegen die Wand, bevor er sagte: „Welches Land? Können Sie mir sagen, wie dieses Land heißt?“
„Nepal“, sagte der Mann, und die Frau fügte hinzu: „So ganz sicher sind wir aber nicht, vielleicht mittlerweile auch Indien oder China, wer weiß das schon. Hier kommen so selten Fremde hin. Na ja, Sie sind der erste.“
„Und bei der heutigen unsicheren politischen Situation ... Na ja, Sie wissen ja, wie das ist.“
“Haben Sie denn keinen Kontakt zur Außenwelt?“ wollte der Wüstenmann wissen.
„Klar haben wir den, wir haben Internet, aber leider nur, wenn wir Benzin für unseren Stromgenerator haben“, erklärte der alte Mann.
„Nur, in der Wikipedia steht unser Ort nicht drin, darum wissen wir nicht, in welchem Land der liegt.“
„Dann schauen Sie doch in Google Earth nach“, schlug der Wüstenmann vor. Der alte Mann schüttelte traurig den Kopf.
„Sie sind witzig. Ohne DSL kann man das vergessen.“ Der Wüstenmann seufzte.
„Na ja, egal wo ich bin, ich muss jedenfalls hier weg.“
„Bleiben Sie doch noch bis zum Tee. Oder wenigstens bis Weihnachten“, schlug die alte Frau vor. „Wir haben so selten Gäste.“
„Ich auch“, sagte der Wüstenmann, „und die meisten haben nach einer Nacht auch genug. Na ja, was soll's, ich muss dann mal wieder. Eine Frage hätte ich aber noch: In welche Richtung sollte ich laufen, um in den kommenden Jahren auf Zivilisation zu treffen?“
„Ach“, sagte die Frau, „Osten ist immer gut. Da sind die Chinesen, die öffnen sich ja gerade. Dort wird bestimmt ein Plätzchen für Sie frei sein.“
Nach einem kurzen Abschied wanderte der Mann aus der Wüste los. Dann fiel ihm ein, dass er etwas wichtiges vergessen hatten. Der Klodeckel schlug ihm gegen den Rücken, als er zurückrannte, um seine Türklinke zu holen.
„Die Türklinke? Was wollen Sie denn mit der, so ganz ohne Tür?“ fragte der alte Mann.
„Man weiß ja nie, wann man auf verschlossene Türen trifft“, erklärte der Wüstenmann.
„Aber wir können sie viel eher gebrauchen, falls uns mal einer die Klinke in die Hand gibt“, meinte der alte Mann.
„Ja, genauso gut wie die Garage“, sagte die alte Frau seufzend.
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie überlassen uns die Türklinke und wir geben Ihnen dafür was viel nützlicheres mit: Wir haben da noch ein chinesisches Micky-Maus-Heft. Das kann Ihnen in China bestimmt einer übersetzen.“ Mit einem Aufschrei rannte der Wüstenmann Richtung oben, schnurstracks auf China zu, das nur 2573,87 Kilometer entfernt war.


5)

Nach fünfzehn Minuten überkamen ihn Zweifel. In dieser einen Werbung wäre der Typ ohne Türklinke ziemlich aufgeschmissen gewesen; und am Ende bekam er sogar noch ein Auto. Na gut, man kann nicht alles haben, der hatte mit Sicherheit kein chinesisches Micky-Maus-Heft und erst recht nicht drei derselben. Weil er nichts anderes zu tun hatte, fingerte der Wüstenmann das kleine Spielzeug zwischen den Seiten seiner neuen Errungenschaft heraus: einen Mini-Helikopter, den man durch eine Spirale, die schnell mit einer Schnur gedreht werden konnte, in die Lüfte entgleiten lassen konnte. Vielleicht dauerte der Weg nach China ja doch nicht so lange. Er versuchte, sich den Helikopter auf den Rücken zu schnallen. Unweigerlich musste er an einen gewissen Karlsson von einem gewissen Dach denken. Gut, dass Lillebror nicht in der Nähe war. Nur gab es jetzt ein Problem. Karlssons Propeller tuckerte von alleine, seinem musste er dauernd mit der Schnur Schwung geben, und das kriegte er kaum hin, wenn das Ding auf dem Rücken saß. Also schnallte er sich das Teil auf den Kopf. So war es viel besser erreichbar. Er holte tief Luft, schloss die Augen und zog an der Schnur.
Er flog! Nein, er stürzte, aber immerhin, er flog. Zwar nur nach unten, aber wer wird schon so kleinlich sein. Um besser in den Himmel zu entschweben, hatte er kräftig Anlauf genommen und war so geradewegs in eine Schlucht gelatscht, an deren Grund ein reißender Strom floss. Erwartungsgemäß wurde er mitgerissen, den Klodeckel um den Hals, Helikopter auf dem Kopf und drei Micky-Maus-Magazine mit letzter Kraft über Wasser haltend. Nun war guter Rat teuer. Der Wüstenmann wurde von kräftigen Stromschnellen durchgeschüttelt und ein fernes Rauschen, das immer mehr anschwoll, konnte nur auf eines hindeuten: Einen Wasserfall, und dem Getöse nach zu urteilen war es nicht der Rheinfall von Schaffhausen und auch keine popeligen, von einem Wasserkraftwerk gezähmten Niagarafälle.
„Verdammt, und nirgends ein Deus Ex Machina in Sicht. Bei James Bond explodiert doch in so einem Fall immer irgendwas oder ein Bungeeseil fällt vom Himmel.“
In dem Moment explodierte am Himmel ein Bungeeseil. Der Wüstenmann, der zum Strommann geworden war, seufzte.
„Gott muss schwerhörig sein.“
Plötzlich tauchte über dem Wüstenstrommann ein dunkler Schatten auf.
Eine Wolke! Er hatte eine Wolke entdeckt! Nun, das half ihm nicht weiter, aber immerhin nahm es ihm die Angst, dass es sich bei dem Schatten um einen Flugdinosaurier, eine Telefonzelle oder seine Mutter handeln könnte. Das Rauschen kam immer näher. Der Fluss bog um eine Kurve. Er sah, was das Geräusch verursacht hatte. Irgendein Depp hatte an einem winzigen Strandabschnitt einen Generator aufgestellt, der röhrend seine Runden drehte. Der Mann war erleichtert; bis er eine Kurve weiter einen langen Strand entlang blickte, der langsam anstieg und in in den Fels gehauenen Behausungen mündete.
Er schwamm durch das Wasser, das sich inzwischen etwas beruhigt hatte und nicht mehr so laut toste. Das konnte aber auch an dem lärmenden Generator liegen, der alle anderen Geräusche um ein vielfaches übertönte.
„Bestimmt Made in China. Bei der Lautstärke käme der nie durch den TÜV.“
An dem langen Strand kroch der Wüstenstrommann ans Ufer. Er blickte auf die Felswohnungen. Kein Mensch zeigte sich.
„Die hat bestimmt alle der Generator vertrieben“, dachte er.
Als sich der Mann einem der Häuser näherte, bemerkte er jedoch, dass er sich geirrt hatte. Leider zu spät.
Die Wolke war wieder da. O nein, es war doch eine Art Amateur-Version eines Baseballschlägers, welchen ihm jemand in diesem Moment über den Kopf zog.
„Klatsch!“ machte es und sein sowieso schon in Mitleid gezogener Kopf verursachte erneut eine Ohnmacht. Man schleppte ihn zu einem der Häuser, weiter, immer weiter, bis sie in einer großen, aus dem Stein geschlagenen Halle ankamen. Dort saß ein Häuptling auf einem Thron und benutzte den Wüstenstrommann bis zu dessen Erwachen einige Minuten später als gut gepolsterte Fußstütze.
Der Häuptling, der seine Füße gerne noch länger ausgeruht hätte, überlegte gerade, ob er dem Wüstenstrommann noch mal eins überziehen sollte, als der anfing zu schimpfen wie ein Rohrspatz – oder ein Piepmatz, je nachdem aus welcher Sicht man das betrachtete. Der Häuptling war nämlich tiefere Töne gewohnt, und als er mit seinem dröhnenden Bass zu einer Gegenrede ansetzte, war der Wüstenstrommann auch schnell mucksmäuschenstill. Dabei hatte der Häuptling eigentlich nur nach seinem Dolmetscher gerufen, der auch prompt ankam.
“Ich bin ja schon da Häutpling, bin ja schon da. Wo brennt's denn?“ fragte der Dolmetscher und kam hinter dem Thron hervor gelaufen.
„Sie müssen mich auch immer stören, Häuptling, gerad' war ich dabei, die letzten paar Passagen von Günther Grass' neuem Werk zu übersetzen, aber ich sag Ihnen schon mal, gell, da ist nichts spannendes mehr hinten drein, gar nichts. Eigentlich kann ich mich auch gleich an den neuen Harry Potter setzen ...“
Der Häuptling unterbrach ihn ungeduldig und zeigte auf den Wüstenstrommann.
“Ah, sehn's, da haben wir's wieder. Ständig wird man hier unterbrochen. Wir haben doch erst vor zwei Jahren einen Gast da gehabt. Hach, hatte der gut geschmeckt. Na, egal. Ich soll also wieder mal übersetzen, gell?“ plapperte der Dolmetscher. Der Häuptling seufzte.
„Ja, du sollst übersetzen, dazu habe ich dich schließlich herbeordert. Frag den Kerl da, wer er ist, wo er herkommt und ob er lieber mit Salz oder Pfeffer gewürzt werden will.“ Der Dolmetscher betrachtete den Wüstenstrommann.
„Aber ich weiß doch nicht mal, welche Sprache er spricht.“
Der Wüstenstrommann seufzte: „Ich würde gerne wissen, worüber die gerade beratschlagen. Wahrscheinlich ist das der Leibkoch des Häuptlings und der überlegt gerade, ob er mich salzen oder pfeffern soll.“
“Also, Häuptling, wenn's meine ehrliche Meinung mal hör'n möchten: Salz, Pfeffer, das ist total eintönig, das kann doch auf die Dauer nicht gut sein. Vielleicht mal einfach räuchern oder einlegen! In was auch immer.“
Der Häuptling überlegte: „Salz und Pfeffer haben wir jede Menge, da können wir ihn gerne einlegen. Aber nun, das können wir auch noch später überlegen, tu nun, was ich von dir verlangte!“
Der Dolmetscher verdrehte die Augen und wandte sich an den Wüstenstrommann. Ganz intuitiv und zufällig fragte er zuerst auf deutsch, da die Deutschen, Österreicher, Schweizer und manch Liechtensteiner grundsätzlich am ehesten in reißende Flüsse fallen.
“Joa, könn's mi' denn au' versteh'n, guter Mann?“ fragte der Dolmetscher.
„What the f...?“ antwortete der Wüstenstrommann. „Welche Sprache soll denn das sein?“
„Er versteht mich net, Häuptling. Was soll i denn jetzt machen?“
Der Häuptling seufzte: „Na, du kannst doch sicher noch mehr Sprachen sprechen. Immerhin hast du an der Fachhochschule Buxtehude studiert.“
„Naa, Castrop-Rauxel war's.“ Der Häuptling seufzte, wie so oft.
„Würdest du jetzt bitte weitermachen?“
Der Dolmetscher schaute dem fremden Mann tief in die Augen: „Hey, here's looking at you.“ Der Wüstenstromman verzog angewidert das Gesicht. Der Häuptling seufzte wieder.
„Schön, jetzt wissen wir schon mal, dass er nicht schwul ist. Aber trotzdem würde ich viel lieber wissen, wer er ist, wo er herkommt und vor allem. welche Sprache er spricht.“ Diesmal seufzte der Dolmetscher.
„Ich geb mir ja schon alle Mühe, aber der Kerl ist wirklich eine harte Nuss.“
“Also... sag'n's doch mol, wer's sind! Ig kann in den holändise Agsent sbrächen, wänn sie dahs bessär finden tun würden. Ikke könnt uch dat Ossideutsch imidieren. Schwyzerdütsch? Irch glaube niarcht.“
Der Wüstenstrommann atmete tief durch und sagte dann: „Deutsch. Ich spreche deutsch. Und ich heiße ... Na ja, sehen Sie in den Polizeiakten nach. Jedenfalls wollte ich fragen, was Sie mit mir vorhaben.“
“Na also, warum sagen's des denn net gleich? Is doch koa Problem.“ Der Wüstenstrommann seufzte.
„Also, dürfte ich nun eine Auskunft von Ihnen erbitten?“
„Nun, um es kurz zu mach'n. Mögen's lieber Salz oder Pfeffer?“
„Seltsame Frage. Aber Salz ist mir lieber. Von Pfeffer kriege ich immer Niesanfälle.“
„Also Salz, gut. Niesendes Essen mag i au net, vom Herrn Häuptling ganz zu schweigen.“
Der Wüstenstrommann riss die Augen auf: „Moment, nur damit ich das richtig verstehe: Sie wollen mich essen? Sie sind Kannibalen?“ Der Dolmetscher nickte.
„Und das ist auch nicht 'Verstehen Sie Spaß'?“ Wieder schüttelte der Dolmetscher den Kopf.
„Oder sehen's hier irgendwo den Frank Elstner?“
„Nein, zum Glück nicht.“
„Gut. Dann hätten mer des ja geklärt. Folgen's nun bitte unserem Koch in die Küche. Er wird Ihnen sagen, wie des hier weitergeht.“ Neben dem Dolmetscher erschien ein wohlgenährter, älterer Herr mit riesiger Kochmütze, die ihm beinahe vom Kopf fiel.
„Nun denn, aufi geht's!“ sagte der Koch grinsend und zückte ein Küchenmesser. Unschlüssig, wie er sein Leben retten könnte, lief der Wüstenstrommann hinter dem Koch her. Nun ja, täte er gar nichts, würde er binnen ein paar Minuten schön garniert auf einer Platte liegen, angemacht mit den schönsten Soßen. Es gab sicher nicht viele, die je von einem Häuptling verspeist worden sind, besonders im 21. Jahrhundert. Aber irgendwie zweifelte er daran, dass er damit großartig angeben könnte.
„Nun, hinlegen, aber ein bisschen plötzlich!“ sagte der Koch und zeigte auf einen Küchentisch. „Seit ich einem Elefanten nur mit dem Fingernagel des Daumens den Hals abtrennen musste, ist mein Arm etwas schwach, das Anheben ist meine Sache nicht.“
Das brachte den Wüstenstrommann auf eine Idee. Er tastete seinen Kopf ab, der Hubschrauber aus dem Micky-Maus-Magazin war noch da. Vielleicht konnte er so fliehen. Die Decke war hoch genug, um über dem Koch davonsegeln zu können, ohne dass er mit seinem lahmen Arm nach dem Wüstenstrommann greifen konnte. Also zog er am Seil und erhob sich auch prompt in die Lüfte. Leider hatte er eines nicht bedacht. Unter der Decke der Küche befand sich ein Ventilator, angetrieben vom Stromgenerator am Fluss, und in dem verhedderte sich die Zugleine des Kopfpropellers.
Also ging's rund. Nicht nur unter der Decke, wo der Wüstenstrommann zum Drehstrommann wurde, sondern auch unten, denn der verdatterte Koch datterte nicht lange und rief sofort die Wachen des Häuptlings. Die kamen jedoch nicht an die Decke ran, sodass jemand anders her musste. W!iIl'i, der Hofhausmeister. Er hatte eine Klappleiter im Schlepptau und stellte diese unter dem Ventilator auf. Gerade als er sie in Position gebracht hatte und die Leiter erklimmen wollte, geschah etwas Unglaubliches. W!iIl'i war auf die Leiter gestiegen, um sich den Wüstenstrommann zu greifen. Dieser schaffte es, ihn im letzten Moment mit den Füßen wegzustoßen. Die Leiter kippte um und knallte nur knapp neben dem wütenden Koch zu Boden, der es in seiner Wut schaffte, sich mitsamt dem lahmen Arm in die Höhe zu schwingen, um den Mann am Ventilator in Stücke zu hacken. Allerdings traf er nicht ihn, sondern das Herz der rotierenden Flügelkreisers. Er kappte das Stromkabel, das den Ventilator mit Strom versorgte und direkt vom Generator in die Küche reichte. Der Koch wurde von einem Schlag getroffen und fiel zurück auf den Boden. Einen Moment zuvor war es dem Wüstenstrommann in letzter Verzweiflung gelungen, vom Ventilator loszukommen und auf einen Küchentisch zu springen. Mit dem Koch fielen auch die Reste des Ventilators zu Boden, der das zuckende, unter Hochspannung stehende Kabel mit sich zu Boden zog und über den interessanterweise leitenden Boden die anderen Anwesenden mit tödlichen Stromschlägen zu Tode brachte.
“Erinnert mich irgendwie an den Hai in 'Deep Blue Sea', der von Hochspannung gegrillt wird“, dachte der Wüstenstrommann, zog an der Schnur und schwang sich wieder in die Höhe, darauf bedacht, bloß den Boden und die Wände nicht zu berühren - schließlich hätten die auch den Strom leiten können.
Zwar kam er manches Mal den Wänden gefährlich nah, doch schließlich gelang es ihm, nach draußen zu schweben. Unterwegs begegnete ihm kein einziges lebendes Wesen - dafür aber ein paar, die ein bisschen tot aussahen. Eigentlich ein paar vielen. Nun ja, würde das herauskommen, bekäme er es wohl von den Reportern ohne Grenzen über Greenpeace bis zur PETA mit so ziemlich allen Organisationen zu tun, die irgendwelche gegrillten Überreste der jeweils ihrigen hier in Nepal fanden. Er schaffte es unbehelligt bis nach draußen, sah man einmal von einem Geruch zwischen verbrannter Pizza und faulen Eiern ab, der ihn die ganze Zeit begleitet hatte. Nun sah er, dass der Generator ebenfalls verrückt spielte und zur Hälfte im Wasser lag. In selbigem zuckten in kurzem Abstand grelle Blitze. So wie es aussah, hatte er es geschafft, mit einem Spielzeug aus einem Micky-Maus-Magazin eine eigenständige Zivilisation komplett auszulöschen. Und nicht nur das, auch den Lebewesen im Wasser schien die Hochspannung nicht sonderlich zu bekommen, jedenfalls schwammen einige Fische kopfüber an der Wasseroberfläche, und er erblickte sogar ein totes Nilpferd und ein paar Krokodile.
„Bloß weg hier“, dachte er.
Nur wie? Er befand sich in einem tiefen Canyon, auf dem Landweg schien man nirgendwo hinzukommen und der Wasserweg stand unter Strom. Es gab also nur eine Lösung: Er musste alles aus dem Minipropeller herausholen und versuchen, über den Canyon hinwegzufliegen. Und er würde es schaffen; wäre das ein kitschiger Roman. Aber so knallte er knapp zwei Meter unter dem Rand der Schlucht gegen den Felsen, wobei er sich eine blutige Nase holte und sein hübsches Spielzeug, nämlich den Propeller, verlor. Die Wand fiel nicht senkrecht herab, sodass er nicht ganz so schnell in den Tod stürzte. Er schlitterte herab und riss dabei Gestein mit. Schreiend kam er dem tödlichen Wasser und den toten Tieren darin immer näher.
Plötzlich tauchte ein drohender Schatten über ihm auf. Aus dem Augenwinkel sah er eine riesige Gestalt auf sich zukommen. Er schloss die Augen. Mit einem Mal wurde er hochgehoben und konnte so in letzter Sekunde dem unter Hochspannung stehenden Wasser entkommen. Als er die Augen wieder öffnete, fand er sich auf dem Rücken eines riesigen Drachen wieder, der eine elegante Schleife zog und ihn auf der Oberkante des Canyon wieder absetzte. „D-danke“, stammelte er.
„Keine Ursache“, dröhnte der Drache. „Gestatten: Deus X. Machina, Experte für brenzlige Situationen. Pass künftig bitte etwas besser auf, ich habe noch mehr zu tun.“
Bevor der Wüstenmann (den Strom ließ er jetzt lieber weg, aufgrund der schlechten Erfahrungen) antworten konnte, hatte sich der Drache schon wieder hoch in die Lüfte erhoben und segelte dem Horizont entgegen.
„Sachen gibt's“, sagte der Wüstenmann kopfschüttelnd und machte sich wieder auf den Weg Richtung China.


6)

Er ging und ging und ging, tagelang, einfach nur geradeaus. Er hatte keinen Orientierungspunkt, sondern nur eine lange Leiter, die genau über ihm verlief und zum chinesischen Stromnetz gehörte. Nachdem er seinen praktischen Hubschrauber verloren hatte, musste er wieder Gefahr von unten fürchten, da er nicht entflattern konnte, wenn es brenzlig wurde. Gerade dachte er daran, von nun an positiv in die Zukunft zu schauen, als ein Schatten hinter einem Baum hervortrat. Die dazugehörige Person war ihm bekannt und er war verwundert, sie hier zu sehen.
“Mama!“ rief er, doch bei genauerem Hinsehen erkannte er seinen Irrtum. „Papa! Was machst du denn hier?“
„Das wüsste ich auch gerne“, sagte der Vater des Wüstenmanns. „Eben habe ich noch gemütlich in meinem Schaukelstuhl gesessen, da trifft mich wie aus heiterem Himmel ein Blitz – gut, es hatte gerade gewittert – und im nächsten Moment stehe ich hinter einem Baum und sehe dich von da kommen, von wo du gerade gekommen bist.“
Der Wüstenmann runzelte die Stirn: „Was erzählst du da für einen Unsinn? Deinen Schaukelstuhl haben wir doch vor Jahren auf den Sperrmüll gebracht.“
„Waaas?“ erboste sich der Mann. „Meinen Lieblingsstuhl? Wie konntet ihr nur? Und warum habt ihr mir nichts davon gesagt?“
„Nun ja“, sagte der Wüstenmann, „das liegt daran, dass du seit acht Jahren tot bist.“
“Äh ... wirklich? Und das stand ganz sicher nicht nur in der Bild-Zeitung so, sondern du weißt es ganz bestimmt?“ fragte der Vater des Wüstenmannes erstaunt und betrachtete sich selbst. „Wow, hey, dann bin ich ja ein lebender Untoter, wie in diesen Romanen von ... ach, wie hieß er gleich?“
Der Wüstenmann setzte sich auf den Boden und starrte vor sich hin. Jetzt war er endgültig verrückt geworden. Nun gut, er war mit zwei Spielzeugen aus dem Micky-Maus-Magazin nur knapp dem Tod entronnen, und das mehrfach. Aber das toppte alles.
Der Vater schaute sich die Gegend an, während sein Sohn weiter ins Leere blickte: „Und was denkst du, mein Sohn, wer von uns beiden ist denn nun wirklich tot? Vielleicht bist ja auch du tot, nicht ich.“
“Nerv mich hier nicht mit philosophischen Fragen!“ schrie der Wüstenmann (immer noch ohne Strom). „Ich muss nachdenken.“
„Dann denk mal. Werde ich auch tun. Weißt du, man erfährt nicht alle Tage, dass man tot ist. So was ist schwer zu verkraften, glaube ich. Da könnte man ein Trauma von bekommen, und ich weiß nicht, ob Psychiater einen behandeln, wenn man tot ist. Bestimmt ist das auf den Krankenversichertenkarten gar nicht vorgesehen, dass neben dem Geburtsdatum auch noch das Sterbedatum steht. Und das würde die Psychiater dann ja total verwirren, sodass die selber einen Therapeuten bräuchten, und das wäre dann ja ...“
„Klappe, verdammt!“ brüllte der Wüstenmann.
„... irgendwie komisch“, schloss der alte, untote Mann seinen Satz kleinlaut.
“Denken, denken, denken, für das alles gibt es eine logische Erklärung“, sagte der Wüstenmann und biss auf die Zähne. „Entweder bist du selbst bekloppt, der Typ vor dir ist bekloppt oder die ganze Sache im Allgemeinen ist bekloppt.“
Er schaute zu seinem Vater, der auf einem Stück Pflanze herumkaute, die er so nicht identifizieren konnte. Wollte er auch nicht. Nun, es stand definitiv fest, das er ein Mitglied seiner Familie vor sich hatte. Und es war sein Vater. Sein Vater, der tot war, und nicht hier sein konnte, war da. Der Wüstenmann stand auf und lief im Kreis. Irgendwas musste er tun, um die Verhältnisse wieder ins Lot zu bringen. Er klatschte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn: Natürlich! Wenn sein Vater tot sein müsste, er es aber nicht war, müsste er ihn eben noch mal umbringen und alles würde wieder stimmen! Ein Mensch mehr oder weniger, den er auf dem Gewissen hatte, würde nun auch nicht mehr viel bewegen.
Natürlich würde es ihn viel Überwindung kosten, einen Menschen absichtlich umzubringen, noch dazu seinen Vater, aber er korrigierte ja nur einen Fehler, und sein Vater war ja eigentlich schon tot - und einen Toten umzubringen wäre genauso harmlos wie einen Lebenden wiederzubeleben. Und ein Gesetz dagegen gab es bestimmt auch nicht, denn bisher hatte er noch von keinem Menschen gehört, der wahrhaftig untot war (außer in irgendwelchen Romanen oder Horrorfilmen). Nur wie sollte er es anstellen, seinen Vater umzubringen? Das letzte Mal war er an einem Herzinfarkt gestorben. Vielleicht konnte er seinen Vater mit haufenweise Maxi-Menüs oder King-Size-Burgern zu Tode füttern. Das Dumme war nur, er befand sich mitten in der Wildnis zwischen China und Nirgendwo und es war weit und breit kein Schnellrestaurant in Sicht.
Vielleicht könnte er ja schnell eins eröffnen.
Nun ja, möglicherweise ging es ja auch anders. Gerne hatte man bei feucht-fröhlichen Familienfesten eine Geschichte erzählt, die von seinem Vater berichtete, der bei einer Übung der Bundeswehr drei Tage in einem alles in allem rund fünf Quadratkilometer großen Waldstück in der Nähe von Berlin als verschollen galt. Wenn er ihn abhängen könnte, würde sich das Lebend-Tot-Problem mit Sicherheit bald von selbst lösen und sein Vater würde irgendwo abstürzen oder gefressen werden. Also entschied der Wüstenmann sich, seinen Plan in die Tat umzusetzen.
Er sprach seinen Vater an: „Ich ... hol mir um die Ecke kurz Zigaretten, bin gleich wieder da, warte du nur.“
“Warte!“ rief der alte Mann, doch der Wüstenmann dachte gar nicht dran.
So schnell er konnte, raste er durch die Wildnis, im wahrsten Sinne des Wortes immer am Rande des Abgrunds, denn er hatte den Canyon mit dem Stromfluss noch lange nicht hinter sich gelassen. Da er solche körperlichen Anstrengungen nicht gewohnt war, bekam er schnell Seitenstiche, doch er versuchte, sie so gut wie möglich zu ignorieren. Dennoch musste er nach zwei bis drei Kilometern aufhören und kurz verschnaufen. Der Wüstenmann schaute hinter sich und war froh, seinen Vater nicht mehr zu sehen. Er setzte sich unter einen Baum, den er nicht näher identifizieren konnte (und nicht näher identifizieren wollte) und war innerhalb weniger Sekunden eingeschlafen. Doch der Schlaf währte nicht lange, denn plötzlich schreckte er hoch, da er an der Schulter berührt wurde. Er blickte nach oben und sah - seinen Vater.
„Was rennst du denn so, Sohn? Da komme ich ja gar nicht mit. Ich wollte dich doch bloß bitten, mir auch eine Schachtel mitzubringen. Weißt du, ich war acht Jahre tot, da kriegt man schon mal wieder Lust auf eine Zigarette.“
Der Wüstenmann hätte sich nun am liebsten selbst in den Canyon gestürzt, doch vor lauter Verzweiflung fiel ihm nichts anderes ein, als seinen Vater hineinzuschubsen. Dummerweise hatte er die Rechnung ohne einen bestimmten Drachen gemacht.
Deus X. Machina flog unter den abstürzenden Vater und fing ihn auf. Vom Sturz war dieser allerdings bewusstlos geworden und hing nun lasch auf dem Rücken des Drachens.
Dieser drehte sich zum Wüstenmann und sagte verwundert: „Sag mal, passiert selten, dass ich jemandem zwei Mal begegne.“ Er nickte in Richtung des bewusstlosen Vaters, was schwer war, da er ja auf seinem Rücken lag. „Aber eigentlich bin ich wegen dem da hier. Gehört der zu dir?“
„Äh, nö ... Ich meine ... das ist ein Klippenspringer, kennst du die nicht aus dem Fernsehen? Die Springen zum Spaß die tiefsten Canyons hinunter, deine Rettungstat war also unnötig.“
„Oh“, seufzte der Drache und pflückte den Vater von seinem Rücken. Mit einem kleinen Wurf schmiss er ihn in den Canyon zurück: „Dann lass ich ihn mal weiter springen.“
Der Wüstenmann hätte nun gerne gejubelt, aber irgendwie war ihm nicht danach. Immerhin hatte er jetzt quasi seinen Vater auf dem Gewissen. Aber zumindest wusste er nun, dass sich ein altes Sprichwort bewahrheitet hatte: Man stirbt immer zwei Mal im Leben. Um sich abzulenken, versuchte er auf dem weiteren Weg, das chinesische Micky-Maus-Heft irgendwie zu entziffern, doch bei den zigtausend chinesischen Schriftzeichen fiel ihm das doch eher schwer (und während er lief, musste er sich ja nebenbei auch noch auf den Weg konzentrieren, sonst hätte er ein ebensolches Ende gefunden wie sein Vater).
Nachdem er etliche Tage gelaufen war, ohne dass etwas erwähnenswertes passierte, gelangte er an eine Höhle, durch die der Weg hindurch zu führen schien. Nun war guter Rat teuer. Er hatte zwar eine Kloschüssel um den Hals hängen, aber eine Taschenlampe hatte er in der Wüste nicht ausgegraben.
„Hätte ich doch damals nur danach gesucht“, schimpfte er über sich selbst.
Allerdings hatte er da noch nicht gewusst, dass er einmal an einer Höhle ohne elektrische Beleuchtung vorbeikommen würde. Wie sollte er nun also Licht ins Dunkel bringen?
Er hätte natürlich die gesamte Höhlendecke wegsprengen können, aber dazu fehlte ihm der nötige Sprengstoff. Als zweite Möglichkeit hätte er eine Eule suchen, ihr in einer kleinen, aber feinen Operation die Augäpfel abnehmen und sie sich selbst einpflanzen können. Aber irgendwie glaubte er nicht, dass das funktionierte. Die dritte Möglichkeit bestand im Umgehen der Höhle, was er aber sofort, aus für ihn selbst nicht ersichtlichen Gründen, kategorisch ablehnte. Also schritt er frohen Mutes in das schwarze Loch, hinter dem sich wohl noch mehr Schwärze verbergen mochte. Und er sollte recht behalten. Im Inneren der Höhle war es schwärzer als schwarz, so schwarz, wie er noch nie zuvor gesehen hatte (und auch jetzt nicht sah, denn es war ja rundherum alles schwarz). Er taumelte vorwärts und stieß sich den Kopf ständig an irgendwelchen Tropfsteinen, während er sich fragte, ob man die von oben herabhängenden Exemplare nun Stalagmiten oder Stalaktiten nannte. Im Endeffekt war es aber egal, Kopfschmerzen verursachten sie beide, nur dass er gegen die einen mit dem Kopf stieß und über die anderen stolperte, sodass er hinfiel und sich den Kopf stieß. Als er nun mehrere hundert Kopfstöße gegangen war, hörte er plötzlich ein seltsames Wispern hinter sich, dann vor sich und plötzlich überall um sich herum.
Das konnte alles sein; ausgenommen Fledermäuse, die lebten bekannterweise nur in verstaubten Kirchtürmen. Ängstlich machte er sich darauf gefasst, von einer Horde Nilpferde überrannt oder von einem tollwütigen Troll erschlagen zu werden. Wobei er noch nie eine wispernden Troll gesehen hatte, geschweige denn einen Troll überhaupt. Nun ja, sehen würde er so oder so nichts. Plötzlich ging das Licht an. Nun wusste er, dass ihn Augen angestarrt hatten; und er stand mitten auf einem Teppich, der überfüllt war von Nahrungsmitteln. Anscheinend war er direkt in ein mittägliches Picknick von seltsamen graubraunen Gnomen gelatscht.
“Iiieh, eine Ameise!“ grollte einer der Gnome.
„Spinnst du, seit wann haben Ameisen Klodeckel um den Hals hängen?“ wisperte ein anderer.
„Na ja, dann ist das halt ein Ameisenhausmeister. Bei dem Hochbetrieb im Ameisenhaufen braucht man das sicher.“ Drei weitere Gnome, die um das Picknick saßen, nickten zustimmend.
„Egal, jedenfalls stört das Vieh. Mach es tot“, meinte eine Gnomin.
„Nee, lass mal, Ameisen gehören zum Picknick dazu“, sagte ein Gnomjunge.
„Stimmt, dein Sohnemann hat recht“, sagte ein älterer Gnom.
„Na gut, aber seht zu, dass das Tier nicht an unsere Torte geht“, meinte die Gnomin. Der Wüstenmann betrachtete die Torte, und als er erkannte, dass die aus mit Trollen garniertem Nilpferdfleisch bestand, wusste er, dass er garantiert nicht davon kosten würde.
„Macht das Licht wieder aus“, sagte die Gnomin, „ich will in Ruhe essen.“ Es klickte und schon war es wieder zappenduster.
Der Wüstenmann dachte: „Verrückt, was man in Höhlen so alles erlebt. Die hatten doch tatsächlich eine rosa-grün karierte Picknickdecke. Was für eine Geschmacksverirrung.“ Er stolperte weiter durch die Dunkelheit.
Abertausende Stalaktiten und Stalagmiten-Treffer später sah er endlich Licht am Ende der Höhle. Er hatte es also geschafft, war ganz knapp einer Horde vespernder Gnome entkommen und blickte nun in die Freiheit. Als er dem Ausgang näher kam, sah er eine riesige Leuchtreklame vor sich aufblitzen, glücklicherweise in zwei Dutzend Sprachen geschrieben: „Willkommen in Peking, der Stadt der chinesisch-deutschen Micky-Maus-Übersetzer.“
Nun rannte er. Der Wüstenmann war aus der Wüste und dem Himalaya entkommen, zudem emporgestiegen aus den Tiefen eines Canyons, doch nun hatte er sein Ziel erreicht, seine Leidensgeschichte würde ein Ende haben. Theoretisch. Wäre da nicht dieses dämliche Loch, in das er aus lauter Freude blindlings hineinstolperte und kreischend im Dunkel verschwand.


7)

„Willkommen in der Unterwelt“, sagte ein Mann mit erkennbar-chinesischem Akzent, als sich der Wüstenmann aus einer schlammigen Pfütze in einem Kanal erhob.
„W-wo bin ich hier?“ fragte er. „Du hast dich gerade aus einer schlammigen Pfütze in einem Kanal erhoben“, sagte der deutsch sprechende Chinese mit chinesisch-deutschem Akzent.
„Aber wie komme ich hierher?“ wollte der Wüstenmann wissen.
„Von oben“, sagte der Chinese und deutete nach oben. „Alle unsere Leute kommen von oben. Ich bring dich erstmal zu unserem Chef, der freut sich bestimmt über Verstärkung.“ Der Wüstenmann hatte zwar keinen Schimmer, wovon der Mann redete, aber er folgte ihm, da er keine Ahnung hatte, was er sonst tun sollte.
„Kennst du dich in Entenhausen aus? Und kannst du eigentlich chinesisch?“ wollte der Mann auf dem Weg zu seinem Boss wissen.
„Öh, na ja, wie soll ich sagen – nö, eigentlich nicht“, sagte der Wüstenmann und lief verängstigt hinter dem Mann her. Er schritt durch seltsam natürlich-unnatürliche Gänge, die verlassen aussahen.
„Wieso sollte ich mich denn damit ... auskennen?“
„Ach, na ja, du musst wissen, hier unten ist es extrem langweilig, also haben wir vor einigen Jahren mal ein Loch nach oben gebohrt, nur um zu schauen, was sich so getan hat. Na ja, wir wollten nicht raus, die meisten von uns wären oben auch nicht viel freier, wenn du verstehst. Jedenfalls haben wir gebohrt und gebohrt und waren irgendwann oben. Wir haben ein Lagerhaus getroffen, besser gesagt eines, in dem Micky-Maus-Hefte aufbewahrt werden. Und seitdem fallen die eben zu uns runter, und da wir nichts zu tun haben ... sind wir eben Donaldisten geworden.“
„Oh Mann, ich bin mitten in einem Nest voller Donaldisten gelandet“, dachte der von Panik erfüllte Wüstenmann, „da waren mir die Gnome ja noch lieber gewesen, trotz ihres katastrophalen Farb- und Tortengeschmacks.“
Die Gänge weiteten sich zu einer großen Höhle, von der viele weitere Gänge abzweigten. Mitten in der Höhle saß auf einem riesigen Thron in Schnabelform, der direkt aus Disneyland Hongkong geklaut hätte sein können, ein älterer Mann mit langem Rauschebart.
„Das ist unser Boss, aber du darfst Präsidente zu ihm sagen“, wisperte der Mann.
„Ah, sieh an, ein Neuling. Hat er den freiwilligen Mitgliedsbeitrag schon bezahlt?“ wollte die Präsidente wissen, die eigentlich ein der war.
„Nein, aber er hat drei Micky-Maus-Hefte dabei. Zwei von denen sind leider dieselben. Aber wir haben die alle schon.“
„Wir haben alle, Mitglied Kassenwart, merk dir das endlich. Und Spielzeuge, hat er Spielzeuge dabei? Die überleben den Absturz zu uns nach unten ja so selten“, sagte die Präsidente.
„Nein, meine Präsidente, leider nicht. Ich habe ihn diesbezüglich schon durchsucht.“
„Was wollen wir dann mit ihm?“
„Ich dachte, ich bringe ihn zu Ihnen, eure Präsidente.“
„Das nächste Mal denkst du gefälligst, bevor du denkst!“
„Verzeiht, eure Präsidente. Aber was soll mit ihm geschehen?“
„Sperr ihn ein, zu Barks und den anderen.“ Der Wüstenmann schaute entnervt in eine Ecke. Irgendwie wollten ihm alle an den Kragen, denen er begegnet.
Dann schaute er auf: „Barks eingesperrt? Der Carl Barks? Berühmtester aller Donald-Duck-Zeichner?"
Die Präsidente stand auf und schritt auf den Wüstenmann zu: "Genau der. Genau wie Gottfredson, Scarpa, Carpi und all die anderen, die wir schrittweise gefangen nehmen, um ihren Tod vorzutäuschen. Und Rosa, Vicar und die Van Horns sind auch bald dran! Egal ob sie durch Micky Maus, Goofy oder eine andere Figur ihren Ruhm erlangt haben!“
Der Wüstenmann stotterte: „Und wieso das alles?“
„Für unseren Lieblingszeichner, auf das ihm das gesamte Magazin gewidmet wird, wenn er der einzigste, letzte, größte Zeichner aller Zeiten ist!“ schrie der Kassenwart begeistert.
Dann ertönte von überall ein Grölen: „Xavi!“
Der Wüstenmann bekam große Augen. Xavi, der schlechteste – und unbeliebteste – Disney-Comic-Zeichner aller Zeiten. Das dachte er zumindest bis vor einer Minute.


8)

Der Wüstenmann erwachte aus seinem Schockzustand, umgeben von lauter vermeintlich verstorbenen Größen der Zeichnerwelt.
„Er wacht auf!“, sagte Scarpa.
„Gut, dann erfahren wir jetzt endlich, wer er ist. Ich habe den noch nie zuvor gesehen“, sagte Barks.
„Ich habe Giovan Battista auch nie zuvor gesehen, trotzdem wusste ich gleich, wer er war, als er hier eintraf“, sagte Gottfredson.
„Ihr Amis lebt ja auch hinterm Mond, kein Wunder, dass du mich nie gesehen hattest“, meldete sich Carpi aus einer Ecke des Kerkers.
„Der Arsch der Welt tritt dir gleich in selbigen!“ war die Antwort.
„Hey, hört auf zu streiten. Wir sollten uns lieber um den Neuen kümmern, der sieht ziemlich fertig aus.“
„Kein Wunder, wenn ihn diese angeblichen Donaldisten in ihre Fittiche bekommen haben. Ich erinnere mich noch dran, wie es mir ging, als ich hier eintraf“, sagte Barks.
„Immerhin haben sie deine Leukämie geheilt“, sagte Gottfredson.
„Ja, aber wofür das alles? Nur, um hier ewig zu leben und zu versauern?“
„Nun mecker mal nicht", sagte Gottfredson. "Du bist erst seit sechs Jahren hier, ich schon 20.“
„Das kann nicht wahr sein“, keuchte der Wüstenmann, „ich stehe dem genialsten Disney-Zeichner aller Zeiten gegenüber.“
„Danke!“ antworteten Carl Barks, Romano Scarpa, Floyd Gottfredson und Giovan Battista Carpi im Chor.
„Er hat mich gemeint, du kritzelnder Italy-Schmierfink!“ fauchte Floyd.
„Bild dir bloß nichts ein, Gottfredson, von deinen billigen Kurzgeschichten wird er ja kaum so begeistert sein!“ antwortete Giovan Battista bissig.
„Lieber kurz und dafür ansehnlich gezeichnet, Carpi! Und vor allem: Ich habe mehr lange Geschichten gezeichnet als du je gelesen hast!“
„Wie käme ich auch dazu, eine von deinen Geschichten zu lesen, Gottfredson, ich leide doch nicht an Geschmacksverirrung!“
„Das war ganz allgemein gemeint, Carpi!“
„Mir doch egal – das war auch ganz allgemein!“
Carl Barks trat zwischen die beiden: „Hört doch mal auf, was machen wir denn für einen Eindruck auf den Neuen.“
„Einen chaotischen, würde ich meinen“, sagte Scarpa.
„Wir sind alle schon viel zu lange hier unten, da wird man halt streitsüchtig“, sagte Gottfredson. Die anderen nickten zustimmend.
„Was soll denn Alfred Taliaferro erst sagen? Der ist seit fast 40 Jahren hier unten“, meinte Barks.
„Ja, der Ärmste. Er war schon nicht mehr bei Verstand, als ich hier auftauchte“, sagte Gottfredson. „Wer weiß, wie's dem Neuen in ein paar Jahren geht.“
„In ein paar Jahren?“ sagte der Neue nun. „Ich habe nicht vor, hier so lange zu bleiben. Ich muss mir ein Micky-Maus-Heft übersetzen lassen. Hmm, wo habe ich das denn?“
„Gut, das mit den paar Jahren war übertrieben“, sagte Barks, „er ist schon jetzt verrückt.“
„Ah, da ist es ja.“ Der Wüstenmann hielt Carl Barks das Micky-Maus-Heft vor die Nase. Der blätterte darin und sah sich kurz die Geschichten an.
„Ah, da bin ich, seht ihr?“ sagte Carl dann und zeigte auf das Titelbild einer Geschichte.
Gottfredson kam zu ihm und schaute die Rückseite an: „Ah, da ist ein wunderbarer Einseiter von mir. Mit Bill Walsh als Autor. Ach ja, der Gute ist tatsächlich tot umgefallen, als sie ihn gefangen nehmen wollten.“ Carpi trottete heran und befingerte das Heft ebenfalls.
„Wieso ist da nichts von mir drinnen?“
„Die wollten dich da genauso wenig drin haben wie ich dich hier, Carpi.“
„Sei nur still, wer will schon in so einem Schundheft drin stehn!“
„Du, bis gerade eben!“
Giovan Battista ballte die Faust, dann zeriss er mit einem lauten "Ratsch" das Heft und warf die Reste in eine Ecke.
Der Wüstenmann stolperte hinter ihnen her und kniete vor ihnen nieder: „Mein Heft! Oh, verdammt!“
Er hob die Reste hoch, sie waren in einer trüben Pfütze gelandet. Eindeutig unübersetzbar. Der Wüstenmann erhob sich roboterartig und stapfte zu Carpi, der finster dreinblickend in einer Ecke stand.
„So, du Italiener!“, schimpfte der Mann und setzte seine grimmigste Miene auf: „Du gehst jetzt und holst mir ein neues Heft!“
„Du bist witzig, wo soll ich hier denn ein neues Heft herbekommen? Oder siehst du hier irgendwo einen Kiosk?“ schimpfte Carpi.
„Dann eröffne halt einen!“ schrie der Wüstenmann.
„Hey, beruhigt euch, wir sitzen alle im selben Kerker“, sagte Barks.
„Das ist ja das Problem“, grollte Gottfredson.
„Können wir nicht die Wachen rufen und sie um ein neues Heft bitten?“ fragte der Wüstenmann.
„Hier gibt's keine Wachen“, sagte Barks seufzend.
„Keine Wachen? Warum flieht ihr dann nicht?“
„Denkst du, das haben wir in all den Jahren noch nicht versucht? Hier gibt's keine Wachen, weil's aus diesem Kerker kein Entkommen gibt, ganz einfach.“
„Also nichts ist's mit 'Oh, ich habe solche Bauchschmerzen – Wache kommt – ein anderer knüppelt sie nieder'?“ fragte der Wüstenmann.
„Ganz genau“, antwortete Gottfredson.
„Und wer bringt euch das Essen?“
„Niemand, wir haben keinen Hunger.“
„Warum denn nicht?“
„O je – Carpi war ja schon schlimm als er ankam ...“
„Hey!“ schrie der Angesprochene.
„... aber du toppst in Sachen nerven wirklich alles!“
Der Wüstenmann hockte sich in eine Ecke und dachte nach. Dann hatte er einen Einfall und ging zu den Gitterstangen, die zwischen ihm und der Freiheit standen.
„Hey!“ brüllte er so laut er konnte, „braucht da draußen jemand den nagelneuen 'Hall Of Fame'-Band mit den tollsten Geschichten von Xavi? Habe hier zufällig ein originalverpacktes Exemplar dabei!“
„Er mag zwar nerven, aber dumm ist er nicht“, sagte Carpi anerkennend.
„Tja, jetzt müsste das nur noch einer gehört haben“, sagte Gottfredson abfällig.
Plötzlich ertönte ein leises Donnern, das langsam anschwoll und den ganzen Kerker zum Erzittern brachte.
„Ein Erdbeben?“ fragte Barks.
„Nein, dafür ist es zu rhythmisch, das sind ...“
Mit einem lauten Krachen brach die Tür auf, die den Vorraum des Kerkers verschloss und Dutzende von Xavi-Fans quetschten sich durch den Durchgang.
„Her damit!“ - „Meins!“ - „Ich will's!“ brüllten die Donaldisten durcheinander.
„Kommt doch rein und holt euch den Band. Ich habe übrigens gleich mehrere dabei“, sagte der Wüstenmann.
„Auf den Trick fallen wir nicht rein, ihr wollt doch bloß fliehen“, sagte die Präsidente.
„Die Alben sind signiert“, sagte der Wüstenmann mit einem Grinsen.
„Das ist was anderes.“
Das Donaldisten-Oberhaupt schloss die Kerkertür auf und alle Donaldisten drängten sich in die Zelle.
„Okay, Leute, raus hier!“ rief der Wüstenmann.
Das ließen sich die Disney-Legenden nicht zwei Mal sagen. Sie stürmten aus dem Gefängnis. Leider merkten die Donaldisten sofort, dass sie reingelegt worden waren und nahmen die Verfolgung auf.
„Auweia! Ich hoffe, ihr habt eine bessere Kondition als die“, meinte der Wüstenmann und spurtete los.
„Gott im Himmel!“ keuchte Barks nach einer Minute, „ich bin 105 Jahre alt, ich habe keine Kondition mehr zu brauchen! Normalerweise würde ich jetzt auf meiner Ranch im Schaukelstuhl sitzen!“
„Normalerweise lägst du schon längst unter der Erde, also mecker nicht rum“, sagte Floyd und joggte locker neben ihm her.
Barks antwortete angesäuert: „Mit 100 hätte ich dich auch überholt!“
Dann legte er einen Gang zu, um zum Wüstenmann aufzuschließen, der mit Romano Scarpa an der Spitze rannte. Floyd Gottfredson schaute sich um zu Carpi, der weiter zurück lag. Er überlegte kurz, dann stoppte er und wartete auf den Italiener.
„Das ist die ewige Raucherei, Carpi!“ sagte er, als sie auf gleicher Höhe waren.
„Red nicht, renn!“ mischte sich jetzt Daniel Branca ein.
„Du bist ja auch noch keine 60!“ riefen die Greise rund um ihn herum.
Der Wüstenmann fragte sich inzwischen, ob er sich nicht ein anderes Hobby als Disney-Comics zulegen sollte, aber er hatte sich vorgenommen, die Herren aus diesem Höhlenlabyrinth zu befreien, also würde er das auch tun. Dumm nur, dass er keine Karte hatte.
„Hat irgendwer von euch einen Ausgang gesehen?“ fragte der Wüstenmann seine Begleiter.
„Was? Ich dachte, du weißt, wo es langgeht!“ beschwerte sich Gottfredson.
„Um ehrlich zu sein, nicht wirklich. Ihr müsst bedenken, ich bin noch nicht so lange hier“, verteidigte er sich.
„Na super. Und was jetzt?“ wollte Carpi wissen.
„Wir könnten die Präsidente als Geisel nehmen!“ schnaufte Carl Barks.
„Der soll uns hier rausbringen!“
Die Idee hielten alle für besser, als bis an ihr Lebensende in finsteren Gängen umherzuirren, verfolgt von einer Horde geisteskranker Donaldisten. Also bogen sie bei der ersten Gelegenheit in die Richtung ab, von der sie erhofften, dass sie sie zum Thronsaal bringen würde.
„Herrje, Carpi!“ keuchte Floyd Gottfredson, „die Richtung kann doch nie und nimmer stimmen!“ Einen Moment später stolperten sie in den gesuchten Raum.
„Gut, dass du dich geirrt hast, Floyd. Wie üblich“, schnaufte Carpi.
„Und der Chefdonaldist ist auch schon wieder da“, sagte der Wüstenmann und zeigte auf den Thron.
„Ah, die Herren Entflohenen. Ihr wollt wohl freiwillig zurück in euren Käfig kriechen, krabbelige Käfer?“ begrüßte die Donaldente die Zeichner und den Wüstenmann.
„Eigentlich wollen wir viel lieber in die Freiheit zurück“, sagte Barks, „da helfen Ihnen auch keine Stabreime.“
„So, so in die Freiheit entfleuchen wie flatterige Fliegen. Und ihr glaubt, ich helfe euch dabei?“
„Das war unser Plan", stimmte der Wüstenmann zu. „Wenn Sie allerdings was dagegen haben ...“
„Das habe ich, und ob! Schwirrt ab, schwadronierendes Geschwülst!“ erboste sich die Präsidente.
„Tja, dann müssen wir Sie leider als Geisel nehmen. Das gehörte nämlich auch zu unserem Plan.“
„Pfoten weg, grabbelndes Gesocks, sonst rufe ich den kolossalen Kassenwart!“
Im Nu war eine wilde Schlägerei im Gange.
Barks versuchte, den Streit zu schlichten: „Hey, was ist denn das für ein Benehmen? Los, geht auseinander.“ Zum Dank bekam er von Carpi einen Nasenstüber ab, der eigentlich für Gottfredson gedacht war.
„Hey, man schlägt keine Greise!“ rief Gottfredson.
„Das musst du gerade sagen!“ tönte es aus Richtung Carpis.
Barks hielt sich die Nase und meinte: „Wenn ihr nicht sofort aufhört, werden wir ohne euch von hier verschwinden. Wir haben nämlich keine Zeit mehr, bestimmt entdecken uns die anderen Donaldisten bald. Und wenn sie merken, wen wir als Geisel haben, dann wird sie das sicher nicht freundlicher stimmen.“ Gottfredson und Carpi hielten inne.
„Das ist ein Argument“, meinte Letzterer.
„Also, Chef, sagen Sie uns, wo's hier rausgeht. Das ist gesünder für Sie – und vor allem für uns“, meinte der Wüstenmann.
„So leicht lasse ich mich nicht von euch liederlich lahmen Lumpen einschüchtern, da könnt ihr lallend lamentieren bis der Lenz kommt!“ schrie die Präsidente.
„Er ist zu laut“, sagte Branca, „da wissen die anderen sofort, wo wir sind.“
„Gut, dann knebeln wir ihn und lassen uns den Weg per Handzeichen zeigen“, schlug der Wüstenmann vor.
Man entschied sich dafür, knebelte die Präsidente und ließ ihn von den vier Jüngsten im Team, Branca, Scarpa, Carpi und Taliaferro an Händen und Füßen den Weg entlang schleppen. Zuerst hatte sich der Anführer der Donaldisten geweigert, den richtigen Weg zu offenbaren. Dann hatte Floyd Gottfredson angefangen, ihn mit verschiedenen Kicktechniken doch zur Mitarbeit zu bewegen. Carl Barks gab ihnen derweil Rückendeckung, falls ihre Verfolger sie entdecken sollten.
Schließlich standen sie vor einer Leiter, die durch einen Kanaldeckel nach oben führte.
„Ich schau mal, ob's da wirklich nach draußen geht“, sagte der Wüstenmann.
Er stieg die Leiter hoch, schaute sich oben um - und traute seinen Augen nicht. Kopfschüttelnd stieg er wieder runter und berichtete: „Na ja, nach draußen geht's da schon, aber das ist nicht mehr Peking, und auch nicht mehr China. Das da draußen sieht aus wie ... Rom.“
„Sehr schön, da wollte ich schon immer mal hin“, meinte Gottfredson.
„Wozu? Ihr Amis kommt doch eh nie aus eurem Land raus“, sagte Carpi, der dafür gleich einen Tritt in den Hintern kassierte.
„Ja, kapiert ihr das denn nicht?“ rief der Wüstenmann aufgeregt. „Das ist Rom, Italien! Das ist tausende Kilometer von China entfernt.“
„Ja und? Wir sind ja auch weit gelaufen. Hauptsache, wir kommen aus diesem Drecksloch hier raus“, meinte Branca.
„Von einem Drecksloch ins andere, bitte, wer will schon nach Rom“, schimpfte Gottfredson und erntete dafür wiederum einen Tritt Carpis.
„Du kannst gerne hier bleiben, Floyd, ich vermiss dich auf keinen Fall. Aber wenn du mitkommst, muss ich dir eines sagen: Gegenteiliges fällt auf.“
„Wie meinen, Carpi?“
„Die Stadt ist schön, das will ich damit ausdrücken.“
Bevor es erneut zu einer Schlägerei kommen konnte, drängte sich Barks zwischen die beiden: „Es ist doch egal, ob das jetzt Rom oder Santa Monica ist, die Hauptsache ist, wir sind wieder daheim!“
Der Wüstenmann drehte sich langsam zu Barks um: „Nun ja, nicht ganz. Ich meine, dass da ist schon Rom, ja. Aber das Kolosseum sieht irgendwie nicht so zerbröckelt aus, wie es in unserer Zeit sein sollte.“


9

„Oh Mann, ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum, auch das noch“, stöhnte Gottfredson.
„Du hast zu viel 'Star Trek' gesehen“, meinte Carpi.
„Dabei kennt er die neuen Serien noch nicht mal“, sagte Branca.
„Hey, Leute, hört auf zu streiten, wir sollten uns vielleicht mal entscheiden, ob wir diesen Ausgang nehmen oder den nächsten“, meinte der Wüstenmann.
„Mglmhmpf!“ sagte die Donaldente.
„Was?“ fragte Carpi.
„Nehmt ihm den Knebel ab“, befahl der Wüstenmann. Sie taten es.
„Ich wollte euch sagen, ihr widerlich weiches Gewürm, dass das da der einzige Ausgang ist“, erklärte die Präsidente.
„Aber ich bin in China reingekommen“, sagte der Wüstenmann.
„Das ist ja auch ein Eingang, ekliger Erdwurm. Aber da kommt man nicht wieder raus, weil es da keine Leiter gibt.“
„Na toll. Also bleibt uns nur das alte Rom oder hier drin zu versauern.“
„Also ich wäre fürs Versauern“, meinte Gottfredson, wurde aber rasch von allen anderen überstimmt, indem sie ihn einfach stehen ließen und nacheinander die Leiter erklommen.
„Schon gut, schon gut, ich habe verstanden“, seufzte er. „Stürmen wir also Rom.“
Nach einer Weile waren alle wieder am Tageslicht. Die wortwörtlich Alteingesessenen mussten sich an die neue Helligkeit erst gewöhnen, der Wüstenmann war viel zu entsetzt, um sich an irgendwas zu gewöhnen. Nicht nur, dass er in der Vergangenheit gelandet war, er war auch noch zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt dort eingetroffen.
„Die Barbaren kommen, die Barbaren kommen!“ brüllte ein Römer und lief die Straße entlang. Schreie ertönten von überall her, Türen wurden verrammelt. Kleine Einheiten an römischen Bodentrupps marschierten mit angstbleichen Gesichtern durch die Gassen zu den Stadtmauern.
„Die Barbaren kommen?“ fragte Floyd Gottfredson mit dümmlich-verstellter Stimme, „aber Giovan Battista ist doch längst da.“
“Noch ein Wort und ich schieße dich hinter den Mond, wo du hingehörst!“ rief Carpi.
Barks seufzte und sagte zum Wüstenmann: „Glaub mir, so geht das seit Jahren bei denen.“
Der Wüstenmann fragte seine Begleiter: „Und was machen wir jetzt? Wollen wir uns irgendwo verkriechen und hoffen, dass die Barbaren die Stadt nicht einnehmen?“
„Wieso das? Bekämpfen wir die Barbaren doch einfach!“ rief Gottfredson. „Ich fang gleich mal mit dem hier an!“ Er verpasste Carpi einen Kinnhaken.
„Okay, jetzt reicht's!“ schrie dieser. „Attackeeee!“
Er stürzte sich auf Gottfredson und die zwei waren im Nu wieder in eine Schlägerei vertieft. Dabei bemerkten sie nicht, dass Carpis Kampfgeschrei von der römischen Armee falsch verstanden worden war und sie nun einen Ausfall machte und den Barbarenhorden vor der schützenden Stadtmauer entgegenrannte.
“Hört jetzt auf, ihr beiden!“ schrie Barks und trat wieder zwischen die zwei. Ihr schafft es noch, die ganze römische Zivilisation umzukrempeln! Und ihr wollt ja wohl nicht für den Untergang einer eigenständigen Kultur veranwortlich sein!“
Der Wüstenmann errötete. In seinem Fall wäre das dann die zweite, aber das musste er ja nicht überall rumerzählen.
Währenddessen hatte Gottfredson den Staub von seiner Kleidung abgeklopft und sagte: „Ich würde vorschlagen, wir verziehen uns. Hier gibt es wohl bald Ärger.“
Dieses Mal widersprach selbst Carpi nicht.
Die Gruppe verzog sich in das Gewirr der Gassen von Rom.
„Einen Stadtplan hat nicht zufällig einer dabei, oder?“ fragte Gottfredson.
„Nein, ich habe dummerweise vergessen, an der Touristeninformation einen zu kaufen, bevor die Barbaren anrückten“, meinte Carpi spitz. Gottfredson gab bloß ein Knurren zur Antwort. Barks schüttelte traurig den Kopf.
„Manchmal könnte man meinen, die zwei wären miteinander verheiratet.“
„Die Barbaren haben das Osttor gestürmt!“ schrie es plötzlich aus Richtung Stadtmauer.
„Hmm, ich fürchte, wir kriegen Besuch“, sagte der Wüstenmann und zeigte auf eine durch die schmale Gasse heranstürmende Barbarenhorde.
“Was sollen wir machen?“ ächzte Gottfredson, und sah sich erschrocken um, damit er die bleichen Gesichter seiner Kollegen ansehen konnte.
„Also du kannst beruhigt sein, die denken sicher , du wärst einer von ih ...“, wollte Carpi sagen, als Barks ihn am Kragen packte und mit den anderen Richtung Stadtzentrum stürmte.
„Wo willst du hin?“ keuchte Scarpa, als sie eine Weile gerannt waren.
„Zum Kolosseum, da können wir uns sicher ganz gut verstecken“, antwortete Barks bestimmt.
„Hoffentlich gibt's da nicht gerade Brot und Spiele“, meinte Branca.
„Also gegen Brot hätte ich nichts“, sagte der Wüstenmann, „ich habe ewig nichts gegessen.“
Als sie sich dem Kolosseum näherten, sahen sie, dass sie nicht die einzigen waren, die auf die Idee gekommen waren, dort Zuflucht zu suchen.
„Meine Güte, halb Rom scheint sich hier zu versammeln“, meinte Barks.
„Gut, dass es nur halb Rom ist, wenn die ganze Stadt hierhin unterwegs wäre, würden wir gar keinen Platz mehr finden“, sagte Scarpa.
„Also, Leute, dann auf ins Getümmel!“ rief der Wüstenmann.
Sie drückten sich durch die Gänge und mussten aufpassen, nicht niedergetrampelt zu werden. Nach einigen Minuten zeigte Barks auf eine Ausbuchtung in der Wand, in der sie eine kleine Pause einlegen wollten. Das Geschrei der Massen war kaum zu übertönen.
„Also, wohin?“ fragte Scarpa und verschaffte sich mit dem Ellbogen den nötigen Platz.
„Immer geradeaus, würde ich sagen!“ brüllte Gottfedson fast.
„Das Kolosseum ist rund, du Depp, da geht es selten geradeaus lang!“ schrie Carpi zurück.
Bevor ein erneuter Streit eskalieren konnte, stellte sich Barks zwischen die zwei: „Am besten versuchen wir irgendwie in den Untergrund zu kommen, da findet sich sicher ein Versteck!“
„In den Untergrund? Zurück zu den Donaldisten?“
„Nein, ich glaube kaum, dass wir irgendwie die Möglichkeit haben, wieder zu ihnen zurückkommen. Hat jemand eine bessere Idee?“
„Die Idee mit dem Untergrund ist schon mal nicht schlecht. Unter dem Kolosseum gibt's reichlich Gänge und Katakomben, da dürften wir uns gut verstecken können“, schlug der Wüstenmann vor.
„Solange wir nicht auf irgendwelche Löwen und Gladiatoren treffen“, meinte Branca. „Ach, die werden uns schon nichts tun“, meinte Gottfredson. „Wir haben ja Carpi dabei, der vertreibt die alle.“
„Ich vertreib dich auch gleich!“ schrie Carpi.
„Silenzio, Leute, benehmt euch!“ meinte Scarpa. „Also, wo geht's die Katakomben runter?“ fragte er.
„Ich denke, am besten kommen wir über die Arena rein“, schlug der Wüstenmann vor und deutete auf einen Eingang, der sich in der Arena befand, direkt gegenüber des Platzes, an dem schon Julius Cäsar gesessen hätte, wenn das Kolosseum nicht erst 100 Jahre später gebaut worden wäre.
So drängten sie sich wieder aus der Ausbuchtung und strömten eine Weile in der wie dahinfließenden Masse an Körpern. Bald teilten sich die Menschen in zwei Gruppen, die einen rannten rechts entlang, die anderen links. Nur einige wenige liefen geradeaus, darunter der Wüstenmann samt Zeichnerlegenden. Die anderen, die den Weg in die Arena stürmten, sahen nicht gerade so aus, als sollte man ihnen im Normalfall irgendwohin folgen.
„Äh, Leute, ich sag's ja nur ungern, aber ich habe das Gefühl, dass die anderen Leute, die den gleichen Weg nehmen wie wir, ihn auch genommen hätten, wenn nicht die Barbaren draußen an die Tür klopfen würden“, meinte der Wüstenmann.
„Geht das auch auf deutsch?“ fragte Barks.
„Oder auf italienisch, wenn du schon mal dabei bist?“ meinte Carpi.
„Was ich damit sagen will“, begann der Wüstenmann, „die anderen Leute hier unten sind alles Gladiatoren, und diejenigen, gegen die sie kämpfen wollen, kommen gerade von da, wo wir eigentlich hingehen wollten. Und sie haben eine ziemlich lange Mähne.“ Der Wüstenmann deutete auf eine Gruppe ziemlich hungrig aussehender Löwen, die sich gerade auf die ersten Gladiatoren stürzten.
„Ich ... ich dachte, hier finden gerade keine Zirkusspiele statt“, meinte Branca.
„Tja, da haben wir uns wohl geirrt“, sagte Gottfredson.
“Wir?!“ ächzte Carpi, „das warst doch sicher wieder du, Gottfredson!“
Der Angesprochene drehte sich langsam zum Italiener um: „Jetzt hast du den Bogen überspannt, du kleiner Fiat-fahrender Italiener!“
Die beiden gingen aufeinander los, während die Löwen, ganz sicher, gleich einen ordentlichen Happen zu erbeuten, langsam auf sie zugingen.
„Von wegen Fiat, du Ford-Futzi!“ brüllte Carpi und versuchte, Gottfredson einen Faustschlag ins Gesicht zu verpassen.
Dieser wich aus und stolperte gegen den sonst so gleichgültigen Scarpa, welcher daraufhin, mittlerweile mit den Nerven am Ende, seinerseits um sich schlug. Dabei traf er nicht nur Barks, sondern auch Branca, der gerade angefangen hatte, sich mit dem Amerikaner für einen Fluchtplan zu besprechen. Barks versuchte noch zu schlichten, als Branca schon erzürnt mitmischte. Nachdem der Altmeister einige Kicke abbekommen hatte, platzte ihm ebenfalls der Kragen. Der Wüstenmann betrachtete erstaunt das konfuse Bild; eine Gruppe Greise prügelte sich im Kolosseum des antiken Roms. Zu seiner Überraschung war aber nicht nur er selbst erschrocken von den Geschehnissen, sondern auch die Raubtiere, die verwirrt zurückkrochen.
„Tja, offenbar sind die alten Herren ihnen zu zäh“, dachte der Wüstenmann.
Inzwischen hatten auch die Gladiatoren mitbekommen, was dort vor sich ging.
„Wer hat die senilen Wracks hier reingelassen?“ erkundigte sich einer.
„Das wüsste ich auch mal gerne. Die stehlen uns die ganze Show“, sagte ein anderer.
„Die Zuschauer scheinen's zu mögen. Die sind alle ganz aus dem Häuschen“, sagte der Wüstenmann und deutete auf die Zuschauerränge.
„Das kann aber auch an der Horde Barbaren liegen, die gerade den Zirkus stürmt“, vermutete einer der Gladiatoren.
„Auweia. Könnt ihr mir helfen, die Altherrenriege hier zu entknoten? Irgendwie fühle ich mich für die verantwortlich“, meinte der Wüstenmann.
„Ich versuch's mal“, sagte einer der Gladiatoren mit den Ausmaßen eines Sumo-Ringers - und sprang mitten zwischen die streitenden Zeichner.
Und tatsächlich stoben die Zeichner binnen Sekunden auseinander. Als wären sie aus einem Traum erwacht, stöhnten alle auf und blickten sich dann um. Die heranstürmenden Gladiatoren ließen sie endgültig in die Realität zurückkommen. Alle, samt Wüstenmann, rafften sich auf und flüchteten, ohne die Löwen zu beachten, zum einzigen Ausgang, der offen und nicht voller Feinde war. Währenddessen wurden die Tribünen ebenfalls von blutrünstigen Gesellen überfallen.


10)

Als die Geflohenen aus der grellen italienischen Sonne in die dunklen Katakomben kamen, sahen sie erstmal überhaupt nichts.
„Ich bin geblendet!“ rief Carpi.
„Blödsinn! Geblendet bist du nur, wenn du aus der Dunkelheit ins Licht kommst. So bist du nur für einen kurzen Moment blind. Aber das müsstest du ja eigentlich gewohnt sein“, meinte Gottfredson.
Carpis Antwort bestand aus einem Tritt, der nur leider Scarpa traf.
„Hey, man schlägt sich nicht unter Italienern!“ meinte dieser.
„Tschuldigung“, sagte Carpi, „aber man sieht hier unten so wenig.“
„Verfolgen uns die Barbaren?“ fragte der Wüstenmann nach hinten.
„Nein, die sind noch damit beschäftigt, die Zuschauer zu massakrieren“, beruhigte einer der Gladiatoren die anderen. „Wahrscheinlich haben sie uns gar nicht fliehen sehen.“
Die Gruppe stolperte einige Zeit lang durch düstere Gänge und folgte dabei einem der Gladiatoren, der behauptete, sich in den Katakomben auszukennen, weil er als Zwangsarbeiter beim Bau geholfen hatte. Der Wüstenmann sinnierte gerade über die vergangenen brisanten Stunden, als er plötzlich eine wohlbekannte Stimme hinter sich hörte.
„Ihr windigen Wabberlinge!“ kreischte die Präsidente und stürzte sich von hinten auf Carl Barks. „Das ist unser Gefangener, und das wird er auch bleiben, ihr denkfaulen Dilettanten!“
Die Präsidente stolperte rückwärts und versuchte, zu einem offenen Kanaldeckel zu gelangen, der sich einige Meter vor der Wand befand. Der Wüstenmann reagierte als erster und stürzte der Präsidente hinterher. Mittlerweile kamen noch mehr Donaldisten aus dem Schacht und griffen nach den anderen Zeichnern. Die Präsidente hielt mit einer Hand den Kanaldeckel hoch, mit der anderen versuchte sie, Barks mit sich in den Schacht zu ziehen. Die Hand, die Barks' Arm umklammerte, wurde nun von den Tritten des Wüstenmanns bearbeitet, was aber nicht viel zu helfen schien. Stattdessen verschwand immer mehr von Barks' sich windendem Körper unter die Erde.
Mit letzter Hoffnung nahm der Wüstenmann Anlauf, um einfach auf den Kopf der Präsidente zu hüpfen. Es gelang ihm so tatsächlich, Barks zu befreien. Leider stürzte er dafür zusammen mit dem Anführer der Donaldisten in den Schacht. Der Wüstenmann fühlte sein Ende kommen und ging im Kopf schon mal alle Sünden durch, die er so begangen hatte. Doch der harte Aufschlag ließ auf sich warten, stattdessen landete er wie auf einer Matratze - in dem Fall auf der fülligen Präsidente.
Die hatte den Aufprall weniger gut überstanden, und stammelte: „Der Deckel darf sich nicht verschließen ... sonst ändert sich die Zeit und alle dort oben bleiben für alle Ewigkeit in der Vergangenheit gefangen.“
Der Wüstenmann sprang auf, um genau das zu verhindern. Er benutzte die Leiter, die zum Kanaldeckel führte und hatte ihn fast erreicht, als er mit einem Knall zuklatschte.
„Tja, was nun?“ fragte der Wüstenmann.
„Klappe zu, Affe tot, und du bist in ziemlich großer Not“, sagte die Präsidente.
„Toll, vom Stabreim zum echten Reim, der Typ entwickelt sich“, dachte der Wüstenmann.
„Aber da du kriechende Kröte Schuld bist an der Katastrophe, dass uns nun alle zauseligen Zeichner abhanden gekommen sind, wirst du gleich mächtig miese Probleme kriegen, du pubertierender Pumpernickel!“
„Hey, keine Beleidigungen bitte, ich bin schon seit Jahren aus der Pubertät raus, ich gehe bald auf die ... Mitte 30 zu – glaube ich jedenfalls. Ist so lange her, seit ich zuletzt einen Kalender gesehen habe.“
„Stopp das Schwadronieren, schwafelnder Scherge. Du bist jetzt in unserer Gewalt, und da wirst du nicht alt - siehst höchstens so aus“, reimte die Präsidente.
„Wer sagt das?“ meinte der Wüstenmann und stieß die Präsidente, die gerade die Leiter wieder hochkletterte, mit einem gekonnten Fußtritt wieder runter. „Mal schauen, wo ich lande, wenn ich den Deckel wieder öffne.“


11)

„Eine Schildkröte wäre doch perfekt, nicht?“ hörte der Wüstenmann eine Stimme reden, als er den Deckel öffnete. Schnell stieg er heraus, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Er machte den Deckel langsam zu, dann stellte er sich auf ihn, um der Präsidente ein eventuelles Nachkommen nicht zu ermöglichen.
„Oder ein Regenwurm, wirklich, ein Regenwurm kommt wirklich gut!“
Er blickte sich um. Er stand auf einem Bahnhof, irgendwann um 1900. Immerhin gab es hier keine Barbaren. Dann viel ihm etwas wichtiges ein, was ihn sein Leben kosten könnte, würde er es noch öfter vergessen: Er hatte Hunger. In der Hoffnung, Kleingeld zu finden, durchwühlte er seine Taschen – ohne Erfolg. Der Wüstenmann befürchtete, eingesperrt zu werden, falls er irgendwo etwas klauen würde, also sah er sich lieber um, ob man nicht so an Geld kommen könnte.
„Ha, ein Storch, das ist es, absolut! Intelligent, charmant und ellegant!“
Der Herr, der anscheinend Brehms Tierleben auswendig gelernt hatte, kam dem Wüstenmann reich vor, also tippte er ihm auf die Schulter: „Entschuldigung, hätten Sie wohl ein paar Dollar für mich?“
„Wie bitte, ich hab nicht richtig aufgepasst, was haben Sie gesagt?“ fragte der Mann leicht erschrocken.
„Geld. Ich wollte fragen, ob Sie ein paar Mäuse für mich haben!“
Der Herr schaute sich erstaunt um, bevor er antwortete: „Äh, nein, tut mir Leid.“
Entnervt zog der Wüstenmann von dannen, während der Gefragte vor sich hin sprach: „Mäuse ... Eine Maus, das wäre doch mal eine Idee. Mortimer hört sich doch gut an. Ja, genau: Mortimer Maus, die neue Figur aus dem Hause Disney.“
Der Wüstenmann ging über den Bahnsteig und schaute sich nach Leuten um, die so aussahen, als könnten sie ein, zwei Dollar entbehren, aber jeder, den er ansprach, tat so, als habe er gerade etwas wahnsinnig wichtiges zu tun oder ignorierte den Wüstenmann gleich ganz. Er seufzte und setzte sich auf eine Bank.
"Ich kenne das", hörte er eine Stimme neben sich. Er blickte auf und sah neben sich ein kleines, vielleicht zehn Jahre altes rothaariges Mädchen in völlig zerlumpter Kleidung sitzen.
„Sie scheinen nicht viel Ahnung zu haben, was das Betteln angeht“, sagte das Mädchen. Der Wüstenmann musste lachen.
„Nein, wirklich nicht. Ich bettle ja auch bloß, weil ich kein Geld habe.“
Das Mädchen schaute ihn verdutzt an: „Machen das nicht alle so? Wenn ich Geld hätte, bräuchte ich auch nicht betteln. Aber Sie packen das echt total falsch an.“
„Wie sollte ich es denn deiner Meinung nach machen?“ fragte der Wüstenmann.
„Nun, die ganz Reichen geben eh nix, die haben keine Ahnung, wie es bei uns zugeht. Sie müssen die Arbeiter fragen, die haben zwar auch nicht viel, aber die meisten von ihnen wissen auch, wie es ist, wenn man gar nichts hat.“
„Hmm, klingt einleuchtend. Danke für den Tipp, ich werd's gleich mal versuchen.“ Er stand auf und wollte sich wieder auf dem Bahnsteig umschauen, da fiel ihm noch etwas ein.
„Äh, das mag etwas seltsam klingen, aber welches Jahr haben wir?“
„1927 natürlich“, sagte das Mädchen verwundert.
„Ah, ja, natürlich“, meinte der Wüstenmann und steuerte einen eher arm aussehenden Mann an, der gerade aus einem Zug gestiegen war.
„Entschuldigen Sie bitte!“ sagte der Wüstenmann und lief eilig auf den Arbeiter zu. „Ich wollte Sie fragen, ob Sie nicht vielleicht ein, zwei Dollar hätten. Ich habe seit Tagen nichts mehr gegessen.“ Der Mann schaute ihn verwundert an und schüttelte dann den Kopf.
„Aber Sie können mit zu mir kommen, meine Frau kocht immer eine gute Suppe. Da bleibt bestimmt auch für Sie ein Löffelchen übrig.“ Der Wüstenmann wusste sich nicht anders zu helfen, also willigte er ein und folgte dem Arbeiter.
Als sie auf die Straße hinaustraten, bemerkte der Wüstenmann erst, wo er sich befand, nämlich mitten in New York, wenn auch in einem der weniger betuchten Viertel. Er folgte dem Arbeiter durch das Gedränge der Straßen und bewunderte die vielen Oldtimer, die mitten durch das Gewusel an Menschen fuhren.
„Wenn ich ein paar davon in die Gegenwart mitnehmen könnte, wäre ich reich“, dachte der Wüstenmann, und fügte den Gedanken hinzu: „Falls ich dort jemals wieder hinkomme.“
Schließlich erreichten sie eine typische Mietskaserne, die schon mal bessere Zeiten gesehen hatte. Der Wüstenmann folgte dem Arbeiter in ein verdrecktes Treppenhaus, durch das Babyschreie und ein Gewirr von seltsamen Gerüchen wehte. Im dritten Stock öffnete der Mann eine Tür. Der Wüstenmann folgte ihm in einen einzigen Raum, der sowohl zum Kochen als auch zum Schlafen und Wohnen benutzt wurde, und der vielleicht für eine Person ausgereicht hätte, für die offenbar sechsköpfige Familie aber viel zu eng war.
„Ah, ich sehe, du hast einen Gast mitgebracht, William“, begrüßte eine Frau den Arbeiter.
„Setzen Sie sich doch, ich denke, unsere Suppe wird auch noch für Sie reichen.“ Der Wüstenmann tat, wie ihm geheißen.
„Nun erzählen Sie doch mal. Woher kennen Sie meinen Mann? Wo kommen Sie her?“
„Clara, bitte löchere ihn nicht gleich mit Fragen.“
„Wie unhöflich von mir, tut mir Leid. Ich habe auch ganz vergessen, uns vorzustellen. Also, wir sind die Familie Smithson. Ich bin Clara, das ist mein Mann William, und das sind unsere vier reizenden Kinder Carl, Don, William jr. und Floyd. Und wie heißen Sie?"
Der Wüstenmann dachte kurz nach. Sein Name würde wohl auffallen, ein typisch amerikanischer wäre da sicher am Besten.
„Ich heiße ... äh ... George Clinton, ja, meine Name ist Clinton. George Clinton. Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.“ Die Frau war wohl zufrieden und deutete auf einen Platz am Tisch.
„Es tut mir wirklich Leid, dass wir Sie in einem so engen Raum bewirten müssen, aber unser Geld ist gerade knapp. Glücklicherweise hat mein Mann schon seit einigen Monaten wieder Arbeit, gut bezahlt ist sie dazu.“
Der Wüstenmann war verwirrt: „Und wieso hocken Sie dann noch in einer so armseligen Stube, wenn ich fragen darf?“
„Oh“, antwortete William Smithson, „das hat einen ganz einfachen Grund. Wir wollen das Geld lieber anlegen, und uns dann ein Landhaus kaufen. Irgendwo im Westen, raus aus der Stadt. Alles ist angelegt in Aktien, mein Herr, und wie Sie sicher wissen, hat der Dow Jones gerade ein Hoch, das, so wurde mir versichert, die nächsten Jahre nicht absacken wird.“ Clara nickte.
„Spätestens in drei Jahren haben wir so genug zur Seite geschafft.“
„Und wir haben jetzt 1927, oder?“ fragte der Wüstenmann.
„Klar, wieso fragen Sie?“ meinte William verwundert.
„Na ja, also ich an Ihrer Stelle würde die Aktien spätestens nächstes Jahr abstoßen und zusehen, dass ich mir schon dann irgendeine Immobilie kaufe.“
„Kennen Sie sich denn mit so was aus?“ fragte William.
„Nur ein wenig. Ich habe mich halt etwas mit Geschichte ... äh, mit dem Wirtschaftsteil in der Zeitung befasst.“
„Aber in allen Zeitungen liest man, dass es der Wirtschaft so gut geht wie noch nie, und dass es nur noch besser werden kann.“
„So? Äh, nun ja, ist ja Ihr Geld.“ Clara stellte einen dampfenden Suppentopf auf den Tisch und füllte den Teller des Wüstenmanns.
„So, nun habt ihr aber genug von Geschäften geredet. Esst erst mal, damit ihr groß und stark bleibt.“
Die Suppe schmeckte nicht schlecht. Aber sie schmeckte seltsam. Bevor der Wüstenmann wusste, wie um ihn geschah, sackte er zusammen und schlug mit dem Kopf im vollen Suppenteller auf.
Clara zog ihn heraus und legte ihn an die Wand, dann setzte sie sich wieder hin: „Der schläft fürs erste, kümmern wir uns erstmal um die Suppe, wir können ihn auch noch später wegschaffen.“ Die Familie schlürfte weiter ihr Essen, was keine zehn Minuten dauerte.
William schaute auf die Uhr: „Der Laster müsste jetzt eigentlich da sein, packen wir ihn drauf.“
Das Ehepaar legte einen Leinensack über den Wüstenmann und trug ihn heraus auf die Straße, wo ein kleiner Transporter stand. Mit wenig Vorsicht hieften sie ihn auf die Ladefläche.
„Das lohnt sich ja wieder“, sagte der Fahrer. „Wenn ihr noch mehr habt, sagt Bescheid, der Doc braucht dringend Nachschub an Nieren. Irgendwie klappt das mit den Transplantationen immer noch nicht so, wie er will.“ Der Fahrer wollte wieder in seinen Wagen einsteigen.
„Hey, haben Sie nicht was vergessen?“ meinte William und streckte die Hand aus.
„Ach so, ja, die Kohle. Hier sind 50 Dollar.“
„Danke.“
Und zu seiner Frau gewandt sagte er: „Damit rückt unser Landhaus immer näher.“
„Und, holst du noch einen?“ fragte Clara.
„Nein, für heute ist Feierabend.“
„Gut“, meinte der Fahrer. „Mehr als einen auf einmal können wir eh nicht bearbeiten. Und wer weiß, wann er wieder aufwacht.“
Damit fuhr der Wagen davon.
Er fuhr schon einige Minuten, als der Wüstenmann durch das Gerüttel wach wurde. Wie auch am Anfang seines Abenteuers sah er nicht viel, sondern tastete im Kartoffelsack alles ab. Seufzend gab er es auf, da er keine Möglichkeit sah, aus dem Gefängnis auszubrechen. Er legte sich in eine möglichst gemütliche Position – und der Sack riss vorne mit einem lauten „Ratsch“ auf. Verwundert kroch er aus der kleinen Öffnung und war froh, wieder etwas sehen zu können. Auch wenn es nur eine schlafende Wache war, die vor ihm im Lastwagen auf einem Stuhl hockte und schlief.
„Scheint keine Eliteorganisation zu sein“, dachte der Wüstenmann kopfschüttelnd. „Mafiosi würden jedenfalls nicht solche laschen Wachmänner einstellen.“
Er schaute sich im Wagen um. Passenderweise lagen ein paar Holzscheite neben dem Sack, aus dem er gerade gekrochen war.
Er sagte leise: „Glaub mir, das tut dir mehr weh als mir“, und verpasste dem Wachmann einen leisen, aber gezielten Schlag.
„Das nennt man dann wohl Tiefschlafphase“, dachte der Wüstenmann und grinste.
Jetzt musste er nur noch irgendwie den Fahrer überwältigen. Der schlief nur dummerweise nicht.
Aber bald würde er schlafen, wenn auch nicht ganz freiwillig. Nur konnte er nicht nach vorne gehen und ihn einfach umknüppeln, da er dann die Kontrolle über den Wagen nicht halten konnte, wenn ein Ohnmächtiger im Fahrerstand saß. Da der Lastwagen nach hinten fest verschlossen und der Laderaum leider auch nicht mit Kuhhäuten abgedeckt, sondern aus festen Holzplatten war, blieb nur die Flucht nach vorne, wo er ein kleines Türchen sah, dass Frontkabine mit Ladefläche verband. Er griff nach dem längsten Holzscheit, den er finden konnte und schlich sich nach vorne, um die Tür zu öffnen. Als er sie schon halb aufgezogen hatte, ohne den Fahrer auf sich aufmerksam gemacht zu haben, passierte etwas, das in diesem Moment besser nicht geschehen wäre.
„Junge, was machst du denn hier?“ hörte der Wüstenmann eine altbekannte Stimme hinter sich. Er zuckte zusammen.
„Papa? A-aber ich dachte, du wärst ... Und dann ... Und wieso hier? Und wieso verdammt gerade in diesem Augenblick? Ich wollte gerade irgendwie den Fahrer dieses verdammten Lastwagens überwältigen, und da versaust du mir meine ganzen Pläne. Der hat uns doch jetzt bestimmt bemerkt.“
„Was ist das denn für eine Begrüßung? Da wacht man unvermutet in einem Sack auf, kann sich mühsam daraus befreien und ist froh, ein bekanntes Gesicht zu sehen und dann das!“ rief der alte Mann erbost.
Erst jetzt schien der Lastwagenfahrer etwas bemerkt zu haben, jedenfalls dem plötzlichen Schlingern des Gefährts nach zu urteilen. Nach wenigen Sekunden hatte er es jedoch wieder unter Kontrolle und wagte eine Vollbremsung, um zu schauen, was hinten im Laderaum los war.
Diese Vollbremsung gelang ihm mehr oder weniger gut. Die Achsen knirschten und der Lastwagen drehte sich im Kreis. Der Wüstenmann konnte sich festhalten, während sein Vater durch die Gegend flog und hart mit dem Rücken gegen die Ladeklappe schlug. Sie sprang auf und er sackte vor ihr nieder, wurde jedoch im nächsten Moment herausgeschleudert. Dann hielt der Waen endlich an und der Fahrer maschierte mit einer Pistole nach hinten in den Laderaum, um sich den Wüstenmann vorzuknöpfen.
Der hatte keine Zeit, sich über das erneute Abdanken seines Vaters zu freuen, denn er musste nun überlegen, wie er dem Gangster vor sich entkommen konnte.
„Ich nehme an, Sie sind ein wenig unzufrieden mit unserem Komfort hier hinten?“
„Ja, bin ich. Ich hab das dem Zimmerservice auch schon klar und deutlich gesagt.“ Der Wüstenmann zeigte auf den betäubten Wachmann. „Ich musste ihn dazu allerdings erst aufwecken. Keine sehr zuverlässigen Angestellten haben Sie.“
„Mag sein, dafür sind sie billig. Und im Notfall kann ich auch alles alleine regeln. Wenn Sie jetzt bitte stillhalten würden, ich muss Sie mal eben erschießen und will dabei keine noch verkäuflichen Organe treffen.“
„Danke, kein Bedarf“, meinte der Wüstenmann und bückte sich blitzschnell, um nach einem Holzscheit zu greifen, mit dem er seinem Gegner die Waffe aus der Hand schlagen wollte.
Leider war der schneller und schoss dem Wüstenmann in die linke Hand.
„Aua!“ meinte der treffend, schnappte sich aber mit der anderen Hand eines der Holzstücke und schlug dem Lastwagenfahrer die Waffe aus der Hand, bevor der nachladen konnte.
„Aua!“ sagte dieser und machte sich daran, seine Waffe wieder zu holen.
Der Wüstenmann war schneller und kickte sie aus dem Wagen. Sie klatschte auf die Straße, der Fahrer hechtete hinterher. Sein Gefangener nutzte die Chance und warf sich hinters Steuer, um davonzufahren. Der entsetzte Fahrer wollte gerade wieder auf die Ladefläche springen, als der Wüstenmann aufs Gaspedal drückte, in der Hoffnung, so seinem Schicksal zu entkommen. Aber er brach ihm erstmal alle Knochen, als er aus Versehen rückwärts fuhr. Es knackste laut und der Wüstenmann biss die Zähne zusammen. Wieder einer mehr auf der Liste derer, die für sein skurriles Abenteuer das Leben hatten lassen müssen. Und seinen Vater hatte er noch gar nicht zum zweiten Mal notiert, fiel ihm jetzt ein.
Er schob sämtliche Schuldgefühle beiseite und machte sich mit dem Laster davon. Leider vergaß er in diesem Moment auch, dass er überhaupt keinen Führerschein hatte.
Der Wüstenmann wollte den Vorwärtsgang einlegen, erwischte dabei jedoch den Leerlauf. Und da der Wagen gerade an einem Hügel stand, rollte er weiter rückwärts, als der Wüstenmann die Kupplung durchtrat. Es knackste erneut und ein unterdrückter Schrei war zu hören.
„Ups“, meinte der Wüstenmann und probierte dabei einen anderen Gang aus. Diesmal erwischte er den ersten und bretterte mit heulenden Motoren und 20 Stundenkilometern den Hügel hoch. Auf der Hügelkuppe nahm er erstmal einen Briefkasten und zwei Mülleimer mit, weil er zu knapp am Bordstein entlanggefahren war (die drei Passanten, die dabei ums Leben kamen, sind nicht weiter erwähnenswert, das waren alles Bankiers, die sich ohnehin am Schwarzen Freitag vor einen Lastwagen geworfen hätten). Noch interessanter wurde es, als der Wüstenmann den Berg wieder hinab fuhr, denn der Wagen hatte doch einiges an Gewicht, und da er jetzt den vierten Gang eingelegt hatte, kam das Fahrzeug ziemlich in Fahrt. Und dummerweise hatte er auch keinen Schimmer, wo die Bremse war.
Es blieb ihm so nichts anderes übrig, als abzuspringen. Er wollte gerade mit einem beherzten Satz der Fahrerkabine entrinnen, als er am Gurt hängen blieb und hart gegen die Karosserie schlug. Er wurde mit bergab geschleift und raste zusammen mit dem Laster ins vermeintliche Verderben. Der Abhang endete nämlich im Atlantik – nicht seicht wie in Rio, sondern verbunden mit einem sicherlich schmerzhaften Klippensturz über rund 50 Meter. Der Wüstenmann krallte sich an der Fahrertür fest und versuchte den Gurt zu lösen, um der Falle zu entkommen. Als er es fast geschafft hatte, rollte der Laster über einen Felsen und wurde durchgeschüttelt, sodass der Wüstenmann zurückgeworfen wurde.
„Tja, jetzt ist guter Rat teuer, und kein Deus Ex Machina in Sicht. Wahrscheinlich ist der in diesem Jahr noch nicht mal geboren.“
Der Wüstenmann versuchte erneut, sich aus der Umarmung des Gurts zu befreien, und schließlich gelang es ihm auch. Dummerweise eine Sekunde zu spät, denn der Lastwagen war schon auf dem Weg nach unten. Der Flug kam ihm unendlich lang vor, doch schließlich landete der Lastwagen mit einem phänomenalen Platscher im Meer und sank wie ein ... nun ja, wie ein Lastwagen eben. Der Wüstenmann wurde durch das eindringende Wasser herausgespült und gelangte prustend an die Wasseroberfläche, ohne dass ihm ein Haar gekrümmt wurde (dafür waren alle seine Haare klatschnass). Er war froh, überlebt zu haben, doch als er sich umsah, verschwand diese Freude. Denn um ihn herum gab es nur steile Felsklippen, so weit er sehen konnte, ohne eine Chance, hochklettern zu können. Und das Wasser war zu tief, um sich hinstellen und ausruhen zu können. Also blieb ihm nur eines übrig: Schwimmen.
Die Frage war nur, wohin. Entweder geradeaus, um Kolumbus' Rückweg zu folgen oder die Klippen entlang. Er entschied sich für die Klippen. Mit langen Zügen durchschnitt er das Wasser und hoffte so, Energie sparend und schnell an Land zu kommen. Das war aber bei weitem schwerer als er dachte, schon nach wenigen Minuten machten sich die 20 Jahre Raucherleben bemerkbar und er war am Ende seiner Kräfte.
Mit letzter Not schwamm er zu den Klippen, in der Hoffnung, sich irgendwo festhalten zu können. Mit schwindender Kraft wollte ihm aber auch das nicht mehr gelingen, sodass er bald darauf abglitt und in die Tiefen des Atlantiks rutschte. Er sah sein Lebensende – mal wieder – nahe und versuchte verzweifelnd zur Oberfläche zurückzukehren. Er merkte, dass er keine Chance und ließ sich nach unten ins Schwarz treiben – bis er feststelle, dass ein Sog ihn in einen unterirdischen Höhleneingang zog.
Irgendwann erwachte er aus einer langen Ohnmacht und fand sich mitten in einer Grotte wieder, wo ihn das einströmende Meerwasser abgeliefert hatte. Da rundum alles mit Algen zugewuchert war, nahm er an, dass die Höhle bei Flut überschwemmt wurde, also sollte er wohl zusehen, dass er Land gewann – im wahrsten Sinne des Wortes. Er schaute sich in der Grotte um, in der ein seltsames Dämmerlicht herrschte, das von überall und nirgends zu kommen schien. Es reichte aus, um zu erkennen, dass sich mehrere Gänge und Risse in der Höhlenwand befanden, jetzt musste er nur noch herausfinden, welcher davon in die Freiheit führte.
„... bist du noch lange nicht, sag mir erst wie alt du bist!“
So kam er definitiv nicht weiter. Widerwillig entschied er sich, keine weiteren Kinderreime mehr zu testen, sondern einfach willkürlich einen der Gänge zu wählen. Der erste, den er nahm, war der falsche, wie er gleich merkte, war sein Ziel doch nicht, möglichst schnell zu ertrinken – er füllte sich nämlich recht rasch mit Wasser, was dem Wüstenmann weniger gefiel. Um den Fluten zu entkommen, nahm er als nächstes einen steigenden Gang, der ihn hoffentlich ans Tageslicht bringen konnte. Er ging einige hundert Meter weit und sah sich seinem Ziel, Sonnenlicht, schon nahe, als er in ein tiefschwarzes Loch stürzte, das sich plötzlich unter ihm auftat.
„Tja, nun sitze ich wirklich in der Scheiße“, sagte der Wüstenmann. „Könnten aber auch Algen sein, jedenfalls ist's ziemlich eklig.“
Der Wüstenmann versuchte, sich aufzurichten, glitschte aber unter dem glabbrigen Glibber weg und fiel erneut hin. Nach drei weiteren Versuchen mit gleichem Ausgang musste er erkennen, dass er hier unten wohl fest saß - und dummerweise war es hier stockfinster, sodass er nicht erkennen konnte, ob in irgendeiner Richtung irgendwelche weiteren Durchgänge waren. Also blieb ihm nur übrig, sich voranzutasten. Er versuchte, sich vorsichtig auf alle Viere aufzurichten und kroch durch das matschige Zeug voran, bis er mit der Nase auf eine Wand stieß.
„Gut, hier geht's also schon mal nicht mehr weiter“, stellte er fest. Er tastete sich weiter an der Wand lang, bis ihn plötzlich Wassertropfen von oben trafen.
„Igitt, Wasser“, ächzte er.
Da war ihm sogar der Glibber lieber. Da es nun darauf hinauslief, dass hier bald alles voll laufen würde, versuchte er hastig, einen Weg nach oben zu finden. Er tastete sich an der Wand entlang, als seine Hand ins Leere griff. In der sicheren Vermutung, dass es nicht weiter abwärts gehen konnte, rutschte er mit dem Rest seines Körpers hinterher. Einen Moment fand er Halt, dann stürzte er eine steile Rampe hinunter und landete hart auf Stein. Nein, es war Metall. Während er sich noch wunderte ging auf einmal das Licht an und eine unbekannte Quelle speiste den Raum mit bläulichem Dunst. Irgendwo zwischen Entsetzen und Erstaunen blickte er sich um und erkannte einen riesigen Kreis aus Metall, der in der Mitte des Raums aufgestellt war.


12)

“Captain, mein Tricorder registriert eine Lebensform, die sich auf uns zubewegt“, sagte ein seltsam bleich aussehender Mann.
„Die Lebensform sehe ich auch ohne Tricorder“, sagte ein glatzköpfiger Herr, der offenbar der Captain war.
„Oh. Ich grüße Sie“, meinte der Mann mit dem Tricorder in der Hand – auch wenn der Wüstenmann keinen Schimmer hatte, was genau nun eigentlich ein Tricorder war.
„Seltsam, was machen Menschen in diesem unterirdischen Höhlensystem?“ wunderte sich der Captain.
„Fragen wir ihn doch einfach“, sagte der andere. „Also, was machen Sie in diesem unterirdischen Höhlensystem?“
Der Wüstenmann meinte: „Das ist eine lange Geschichte.“
„Kein Problem, wir haben Zeit. Die hat man bei Zeitreisen eigentlich immer, denn schließlich hoffen wir, hinterher zu genau dem Zeitpunkt zurückzukehren, an dem wir gestartet sind. Natürlich kann eine gewisse Inkontinenz ... äh, Insuffizienz der Raum-Zeit-Krümmung ...“
„Danke, Mr. Data.“
„Wo bin ich gelandet?“, ächzte der Wüstenmann. „Erst Wüste, dann Rom, New York und jetzt Kampfstern Galactica, ich glaub es nicht.“
„Könnten Sie den letzten Begriff näher erläutern, meinem Identifikationssystem ist ein solches Wortgebilde fremd, weshalb ich Ihre Äußerung nicht zuordnen kann“, sagte Data emotionslos. Captain Picard trat zwischen die beiden und nahm den Wüstenmann an der Schulter.
„Das muss alles sehr verwirrend für Sie sein, einen Mensch von ... welches Jahr haben wir, Nummer Eins?“
„1927, Captain.“
„... für einen Menschen aus dem Jahr 1927. Wir kommen ...“ Der Wüstenmann winkte ab und machte einen Schritt rückwärts.
„Ich kenne Sie ja alle aus dem Fernsehen, bin mir aber nicht ganz klar, wie Sie aus der Glotze hierher kommen!“
„Glotze?“
„Jetzt nicht, Mr. Data!“
„Nun, erstmal muss ich sagen, dass ich aus dem Jahr 2006 komme. Plus Minus ein halbes Dutzend, so genau weiß ich das nicht mehr. Und dann will ich mich dafür entschuldigen, dass ich so einfach hier reingeplatzt bin. Ich wusste ja nicht, dass Sie hier gerade drehen.“
„Drehen wir uns? Also ich stehe still und der Captain und Commander Riker auch“, sagte Data. „Vielleicht haben Sie ja einfach Probleme mit den Hand-Augen-Koordinaten“, vermutete er.
Der Wüstenmann seufzte und dachte: „Diese schlampigen Übersetzungsfehler haben sie also auch schon beim Dreh, nicht erst bei der Synchro.“
Wobei ihm plötzlich bewusst wurde, dass er die Herren verstehen konnte, und sie sprachen eindeutig kein Englisch, sondern klares, verständliches deutsch – bis auf die Übersetzungsfehler.
„Nun ja, könnten Sie mir vielleicht helfen, an die Oberfläche zu kommen? Ich glaube, ich habe mich hier unten etwas verirrt.“
„Dieses Höhlensystem besitzt offenbar nur einen Ausgang nach draußen, der ist jedoch ständig vom Meer überflutet“, erklärte Commander Riker.
„Und wie kommen Sie dann hierher?“ wollte der Wüstenmann wissen.
„Mit unserem Transporter“, sagte Data.
„Sie haben einen Wagen hier unten?“ wunderte sich der Wüstenmann. „Seltsam, ich bis vor kurzem auch, aber der ...“ Er überlegte kurz und zeigte dann in eine Richtung. „...liegt jetzt da irgendwo.“
Data drehte sich um: „Da ist eine Wand, Sir.“
„Dahinter, meinte ich. Aber kommen Sie mir hier nicht mit Ungereimtheiten, sondern verraten Sie lieber, wieso Riker wieder mitspielt und nicht bei X-Factor seinen Verpflichtungen nachgeht!“
Die Crew der Enterprise schritt gemeinschaftlich einige Meter zurück und beriet sich kurz, bis Riker seinen Phaser hob und auf den Wüstenmann richtete.
„Ist nur auf Betäubung, keine Angst.“
Dann drückte er ab.


13)

„Was sollen wir mit ihm tun, Dr. Crusher, er kann unmöglich auf der Enterprise bleiben“, seufzte Captain Picard und klopfte mit den Fingerspitzen auf das Krankenbett, auf dem der Wüstenmann jetzt lag.
„In seine Heimat können wir ihn kaum zurückbringen, auch wenn er sehr verwirrt von den Umständen hier zu sein scheint und nicht viel wahrnimmt. Ihn alles vergessen zu lassen ist immer ein gewisses Risiko, welches wir nur in Notfällen eingehen sollten.“
„Brücke an Picard, Brücke an Picard!“ tönte es aus dem Sternenflotten-Emblem, das auf Picards Hemd aufgenäht war. „Es nähert sich ein ein Objekt mit Warp 6.“
Als Picard auf die Brücke trat, runzelte er die Stirn.
„Das Objekt da sieht aus wie ... Nein, das kann nicht sein. Bitte vergrößern.“
Data tat, wie ihm geheißen.
„Tatsächlich, das ist ein Raumschiff in Form eines riesigen ... Phallus. Gut, dass Wesley nicht hier ist, sonst müssten wir das Bild zensieren.“
„Sie rufen uns, Captain.“
„Auf den Schirm!“ Auf dem Bildschirm erschien ein etwas seltsam wirkender Mann, der dämlich grinste.
„Hier spricht Captain Picard von der U.S.S. Enterprise“, begrüßte Picard den fremden Captain.
„Ja, da schau her. Ich bin Captain Kork von der Surprise. Und das ist mein erster Offizier Mr. Spuck.“
Ein entfernt an einen Vulkanier erinnernder Mann drängte sich ins Bild: „Oh, der sieht aber gut aus. Ich liebe Männer mit Glatze.“
„Ah, geh, Spucki. Du siehst doch, dass sich hier Erwachsene unterhalten.“
„Pöh! Geh doch selber“, meinte Mr. Spuck. „Machst dich hier eh immer viel zu fett. Wenn das die Pulle wüsste, was du schon wieder wiegst.“ Picard räusperte sich.
„Oh, verzeihen Sie mir vielmals, aber ... äh ...“ Captain Kork überlegte kurz. „So ein Mist! Jetzt hab ich doch glatt den Text vergessen.“
Captain Picard blickte verwundert zu Nummer Eins, der aber nur mit den Schultern zuckte.
„Also Mr. ... Captain Kork von der Surprise, weswegen haben Sie uns angefunkt?“ „Angefuckt, des ist definitiv nicht wahr, wir haben gar niemanden angefuckt, stimmt's nicht, Captain?“ sagte Mr. Spuck entsetzt.
„Nein, noch nicht, aber jetzt geh doch mal aus dem Bild, schau mal, wenn du da rumstehst, komm ich einfach nicht zur Geltung, und ich geb nicht umsonst meinen ganzen Lohn für hübschere Uniformen aus. Schau mal, dieser Rollkragen war wirklich nervig und ...“
„Captain Kork, ich unterbreche Sie wirklich ungern, aber wir befinden uns auf einer sehr wichtigen und sehr eiligen Mission, wenn Sie uns jetzt also aufklären würden“, unterbrach ihn Captain Picard.
„Aufklären?“ platzte wieder Mr. Spuck dazwischen, „des hätten eigentlich Ihre Eltern machen ...“
„Sei still, Mr. Spuck, sonst streich ich die rosa Gardinen erstmal wieder von der Bedarfsliste und nehme den Bordtechniker wieder mit drauf, hast du verstanden! Also ...“, sagte der Captain der Surprise mit heiterem Ton, „... wie schon gesagt haben wir derzeit keinen Bordtechniker, und, na ja, wir wissen nicht, wie wir jetzt die Steuerung reparieren könnten, die leider defekt ist, weil gewisse Leute an Bord ...“ - er blickte zu Mr. Spuck - „... zu dämlich zum Kaffeetrinken sind.“
„Ich bin nicht dämlich!“
„Bist du wohl!“
„Nein!“
„Doch, doch, doch und lass mich jetzt weiter reden. Also, lieber Schon-Lück, wir können also weder nach rechts noch nach links und Sie rasen genau auf uns zu.“ Picard seufzte.
„Na gut, schicken wir Geordi rüber, damit die endlich Ruhe geben.“
„Ähm, Captain, vielleicht sollten wir auch unseren etwas durchgedrehten Gast bei denen abliefern, ich glaube, der würde gut dazu passen“, schlug Data vor.
„Klingt logisch, wenn das aus Ihrem Munde kommt. Gut, machen Sie's so.“ Der Wüstenmann wurde wieder aufgeweckt und in den Transporterraum geführt.
„Nicht schlecht, die Kulissen. Werden die Spezialeffekte eigentlich später eingefügt oder live erzeugt?“ wollte er wissen.
„Energie!“ befahl Captain Picard.
„Ah, also live“, hörte man den Wüstenmann noch sagen, bevor er dematerialisierte.
“Aba hallo, wen hom wir denn do!“ sagte der auf der Surprise im Transporterraum stationierte Gefreite und stapfte auf den Wüstenmann zu.
LaForge drängte sich dazwischen: „Können Sie mich bitte zum Steuerelement Ihres ...“ - er blickte sich um und betrachtete die lila-pink gestrichenen Wände - „... Raumschiffs bringen? Mein Schiff verfolgt eine wichtige Mission.“
„Nicht so oilig, gell, mir hoben Zeit.“
Langsam schritt der Mann vor dem Wüstenmann und LaFoge die Gänge entlang und erklärte, während er gemächlich voranschritt, die verschiedenen sanitären Einrichtungen für jede Gelegenheit. Als sie im Maschinenraum angekommen waren, wandte sich LaForge sofort dem schadhaften Teil zu.
„Möchten 's oinen Koffee oder oin Red Bull? Fanta, Spezi, Schpride, wir auf der Surprise sind beroit, sagen wir immer!“
„Nein danke, ich möchte mich nur beeilen.“
„Ach, für oinen Schluck wären's schon Zoit hoben, oder?“
„Nein!“
„Jo, meine Güte, wie benehmen Sie sich denn, bei Ihnen ist wohl ein Teil beim Beamen im All auf der Strecke geblieben!“
“Also ich hätte schon gerne was“, meinte der Wüstenmann. „Ehrlich gesagt weiß ich eh nicht, was ich hier soll. Ich hörte immer nur was von 'Surprise', da dachte ich, es gäbe eine Überraschung.“
„Die können's gern haben, aber erst nach Feierobend“, sagte der Ingenieur grinsend. LaForge räusperte sich.
„Entschuldigung, aber ich möchte heute gerne noch fertig werden. Zeigen Sie mir jetzt Ihren Kaffeeschaden oder nicht?“
„Nu sein's doch ned so ungeduldig. Wissen's, jetzt trinken wir erst mal ein Käffchen, dann werden's schon sehen, dass der keinen Schaden hat.“ Geordi seufzte.
„Da können's sich niederlassen.“ Der Ingenieur zeigte auf ein hässliches rosa Plüschsofa.
„Nein danke, ich steh ganz bequem“, meinte Geordi.
„Da sitz ich doch lieber auf dem Boden als auf dem Ding da“, flüsterte der Wüstenmann ihm zu. „Meine Güte, wo sind wir hier bloß gelandet?“
„Surprise, Surprise!“ rief Mr. Spuck hinter ihnen.
„Das ist einer dieser Momente, wo ich wieder gerne blind wäre“, nuschelte LaForge, als er sich auf das rosa Sofa niederließ.
„Möchten 's oin bissle Zucker rein, dem Captain ist moin Koffee zu stark, stimmt's ned, Mr. Spuck?“
„Ganz genau, aba der Captain, der ist zur Zeit eh so aufgeplüstert, der bildet sich was ein, Herrjemine.“
„Wollen 's sich nicht zu uns setzn, Mr. Spuck?“
„Na, supergerne, wenn der Kaffee denn für alle reicht, ich will ja wirklich niemanden was wegnehmen, gell.“
„Weswege sind 's eigentlich da, Mr Spuck?“
„Der Captain hat mich geschickt.“
„Wieso?“
„Die Entenscheiß ...“
„Enterprise!“ knurrte LaForge.
„Na gut, die Enterprise ist näher als gedacht und da die dort drüben jetzt auch niemanden mehr haben, der da was reparieren könnte, kommt's bald zum Zusammenstoß und der Captain hat gesagt, wenn wir nicht sofort hochkommen, müssen wir alle sterben. Aber erst gönn ich mir nochmal ein Tässchen, das muss schon sein.“
LaForge sprang auf: „Das ist nicht Ihr Ernst, dass das Steuerelement der Enterprise ebenfalls beschädigt ist?!“
„Nein, nein, hab ich doch nie behauptet!“
„Dann ist ja gut.“
„Der Warp-Antrieb hat schlapp gemacht.“
“Oh Gott, wir werden alle sterben!“ rief LaForge. „LaForge an Enterprise.“
„Äh, die Kommunikation ist auch ausgefallen“, meinte Mr. Spuck und ließ traurig die Ohren hängen.
„Funktioniert Ihr Transporter wenigstens?“
„Äh, seit ich versucht habe, ihn zu verbessern, nicht mehr.“ LaForge seufzte.
„Na gut, dann zeigen Sie mir jetzt Ihren verdammten Antrieb, damit ich den reparieren kann, bevor wir wirklich zusammenstoßen.“ Eine Erschütterung fuhr durch das Schiff.
„Äh, ich will ja nicht altklug klingen, aber ich glaube, dafür ist es zu spät“, meldete sich der Wüstenmann zu Wort.
„Warpkernbruch in fünf Minuten“, säuselte eine männliche Computerstimme und fügte hinzu: „Diese Ansage wurde Ihnen präsentiert von Martani Prosecco.“
„Ich will sofort zurück auf die Enterprise!“ fluchte LaForge und drehte sich entsetzt um.
„Mädels, herhören, der Captain spricht!“ ertönte es erneut aus dem Lautsprecher. „Bis auf den Antrieb und so eine hässliche Delle, die uns diese fiesen Typen bis auf den letzten Kratzer ersetzen werden, sind wir eigentlich ganz okay, nur die Enterprise, die ist ... ui, ja die ist ... ui, brennt die, das glaubt man gar nicht.“ LaForge schaute entsetzt.
„Ui, ich hätt nicht gedacht, dass Metall solche Flammen schlagen kann, hätte dem Chemielehrer besser zugehört, aber der war eben echt nett anzus ...“
LaForge schlug mit der Faust gegen einen Metallträger: „Das ist ein Schaden, denn wir dank euch am Schiff haben, dass wird Monate dauern, bis das wieder in Ordnung ist!“
LaForge rannte den Weg zurück zum Transporterraum, die anderen hinterher. Begleitet wurden sie von Captain Korks Meldungen.
„Mädels, ihr verpasst da was ... Ui, das hat gescheppert. Ratet mal: Was wiegt 10.000 Tonnen und driftet gerade glühend ins Weltall ab? Genau, das Heck der Enterprise. Das müsst ihr sehen!“
LaForge unterdrückte eine Träne und stürzte in den Eingang des Transporterraums. Da Beamen nicht möglich war, schlug der Mann von der Enterprise wie ein Wilder auf das Schaltpult ein. Wie durch ein Wunder funktionierte alles auf einmal wieder. LaForge stürzte zum richtigen Platze und winkte der Crew der Surprise verächtlich: „Viel Spaß noch, mich seid ihr los! Har!“
„Tschüssi, bis ba-aaald!“ säuselte Mr Spuck. Dann war LaForge verschwunden.
Wieder ertönte Captain Kork: “Ui, und jetzt, wo-ho-ho, das Ding macht ... macht ... Nun mach schon!“ Ein ohrenbetäubender Knall tönte bis ins Innere der Surprise, als die Enterprise explodierte und dabei Geräusche über den leeren Weltraum verteilte.
„Tja, die sind wir wohl los; Möcht jemand ein' Prosecco?“ fragte Mr. Spuck.
„Ja, ich glaub, ich könnte auf den Schreck was brauchen“, meinte der Wüstenmann.
„Siehste, ich hab's dir doch gesagt, dass er schwul ist“, flüsterte Spuck zu Kork.
„Ah, geh, der hat doch keine Ahnung, was Prosecco bedeutet“, meinte Kork.
„Na, wie auf den Kopf gefallen schaut er mir jedenfalls net aus“, sagte Mr. Spuck, fügte aber nach einem genaueren Blick auf den Wüstenmann hinzu: „Na ja, jedenfalls net allzu oft.“
Er grinste und sagte zu Kork: „Wirst schon sehen, ich beweis es dir, dass er schwul ist. Und wenn net, dann kremple ich ihn halt a bissl um.“
„Du, sag mal, mein Lieber, bist du denn verheiratet?“ fragte Mr. Spuck und stolzierte zum Wüstenmann.
„Ähm, nein“, antwortete dieser nervös, „auch nie gewesen.“
„Kinder?“
„Nein, auch nicht.“
„Freundin?“
„Nö.“
Mr. Spuck drehte sich wieder um und stellte sich grinsend vor dem Captain auf: „Siehst du, der is' doch schwul, schwuler geht's ja gar net. Denn schau mal: War einer von uns je verheiratet, hatte Kinder oder eine Freundin? Net, niemand, niemals gehabt!“
„Na, aber i hab ja euch, da brauch ich keine Kinder“, meinte Kork und schaute ein wenig betrübt.
„Wart mal, ich werd noch ein wenig mehr aus ihm rauskitzeln“, sagte Mr. Spuck mit einem obszönen Grinsen auf dem Gesicht (falls sich einer der Leser ein obszönes Grinsen nicht vorstellen kann – wir können's auch nicht).
„So, mein Lieber, hier ist dein Prosecco“, sagte Mr. Spuck und tänzelte um den Wüstenmann herum.
„Habt ihr keine Toiletten?“ fragte dieser.
„Doch, wieso?“ fragte Mr. Spuck verwundert.
„Vielleicht sollten Sie mal draufgehen, wenn Sie müssen“, antwortete der Wüstenmann.
„Ach, geh, bist du aber witzig“, sagte Mr. Spuck und kam näher heran. Der Wüstenmann versuchte, mehr Abstand zu gewinnen, was leider nicht ging, da er schon mit dem Rücken an der Wand stand.
„Was denn, sei doch ned so nervös. Ich werd schon ned beißen“, meinte Mr. Spuck und rückte ganz nah an den Wüstenmann heran.
„Du hast zwei Augen, weißt du das?“ fragte Mr. Spuck.
„D-die hatte ich schon immer“, stammelte der Wüstenmann.
„Faszinierend“, sagte Mr. Spuck bewundernd.
„Ach, wäre ich doch jetzt auf der explodierten Enterprise“, dachte der Wüstenmann.
“Solln wir di irgendwo hinbimmen, dir scheint's hier nicht so zu gefallen?“ fragte Captain Kork und ging zwischen die beiden. „Oda wie wärs denn mit einer kleinen Zeitreise? Oder willst du mit zur nächsten ...“
Der Wüstenmann drängte sich vor und stellte sich in die Mitte der Brücke: „Ich möchte hier einfach nur weg und zwar so schnell wie möglich. In meine Zeit, in mein Bett.“
„Also nein, an zweiter Stelle will der gleich in die Kiste, das hätten wir dem gar nicht zugetraut“, nuschelte Mr. Spuck zu seinem Chef.
„Geh, Spucki“, meinte Kork entnervt, „der meint doch bloß, er will aus seinem Albtraum aufwachen.“ Der Wüstenmann nickte.
Endlich verstand ihn einer, wenn auch keiner mit Verstand. „Genau. Können Sie das?“
„Aber klar doch! Wir kriegen Zeitreisen hin, da sind auch Raumreisen ein Klacks!“ meinte Kork selbstbewusst.
„Na gut, worauf warten wir dann?“ wollte der Wüstenmann wissen.
„Auf Schrotti. Schrooooottiiii!“ rief Kork. Sofort kam der Schiffsingenieur angerannt.
„Sie haben gerufen, Captain?“
„Ach, geh, Schrotti, natürlich hab ich das. Was fragst denn so doof? Hast's an den Ohren?“
„Aber nein, Captain, das war doch nur eine rhetorische Frage. Also, was gibt's?“
„Kannst du diesen Mann da in sein Bett runterbeamen? Möglichst im Jahre ...“
„2006, glaube ich, könnte aber auch 2027 sein, ich weiß nicht mehr genau“, sagte der Wüstenmann.
„2006 klingt gut, das nehmen wir. Bitte stellen Sie sich auf die Plattform da.“ Schrotti winkte den Wüstenmann zum Teleporter rüber. „So, und nun locker bleiben, es wird ein wenig britzeln.“
„Britzeln?“ fragte der Wüstenmann. „Was zum Geier ist denn britz ...?“
Es britzelte und der Wüstenmann war verschwunden.


14)

Als er erwachte, lag er tatsächlich in seinem Bett. Nein, genauer gesagt neben seinem Bett.
„Donnerwetter, war das ein verrückter Traum“, meinte der Wüstenmann und stand auf. Nachdem er eine halbe Stunde geduscht und ausgiebig gefrühstückt hatte (es kam ihm vor, als hätte er seit Wochen nichts gegessen), ging er zum Briefkasten und holte die Post heraus.
„So, so, eine Rechnung von einem gewissen Deus X. Machina. Den Namen hab ich doch schon mal irgendwo gehört“, murmelte er.
Als er den Brief öffnete und die Rechnung las, fiel es ihm wie Schuppen vom Heilbutt: „Rechnung für zwei Mal Lebensrettung, € 5000. Zahlbar innerhalb von 14 Tagen.“ Der Wüstenmann schüttelte sich.
„D-das kann doch nicht sein. Ich muss immer noch träumen.“ Er zwickte sich in die Seite.
„Nein, kein Traum. Oder das war nicht stark genug.“
Nachdem er mit dem Kopf gegen die Haustür gerannt war, jedoch nicht davon aufwachte, sondern bloß Kopfschmerzen bekam, musste er sich eingestehen, dass er wirklich wach war. Irgendwie war er auch froh darüber, denn immerhin befand er sich in seinem Haus, und wer weiß, wo er sonst aufwachen würde (er hatte die Ahnung, dass es irgendwelche Katakomben unter Peking sein könnten).
Er schaute die restliche Post durch. Ein chinesisches Micky-Maus-Heft und eine ziemlich alt aussehende Werbeanzeige für das Kolosseum in Rom legte er achtlos beiseite und schaute sich den Brief eines Ehepaars aus Nepal genauer an.
„Vielen Dank für Ihren Besuch, Herr ... Tut mir Leid, aber ich glaube, wir haben Ihren Namen vergessen. Wenn Sie möchten, dürfen Sie uns gerne jederzeit wieder beehren. Sie dürfen auch gerne die Türklinke wieder mitnehmen, sie passt an keine unserer Türen, und wer weiß, wann mal ein Türenvertreter vorbeikommt, der eine passende Tür für die Klinke dabei hat. Haben Sie eigentlich das chinesische Micky-Maus-Heft noch?“
Der Wüstenmann rammte seinen schon arg malträtierten Kopf erneut gegen die Tür, aber er wachte weder in einer Zelle mit lauter tot geglaubten Disney-Legenden auf noch verschwanden die ganzen Briefe - nur die Kopfschmerzen wurden schlimmer. In dem Moment klingelte es an der Haustür. Mit zitternden Händen öffnete er sie, erblickte ein altbekanntes Gesicht, taumelte ein paar Schritte zurück und stolperte über den Haufen Briefe hinter sich.


15)

Einen Moment blieb er benommen liegen. Dann öffnete er die Augen und blickte nach oben in das Gesicht eines freundlichen, alten Mannes. Obwohl er ganz genau wusste, dass er das, was er da sah, eigentlich gar nicht sehen konnte, war ihm nun schlagartig klar, dass er das, was er da sah, vor nicht allzu langer Zeit schon einmal gesehen hatte.
Bevor er sich einer längeren Ohnmacht hingab, starrte er noch einmal mit angsterfüllten Augen in das Gesicht über sich und flüsterte: „Papa?“

 

Ein paar kleine Anmerkungen zu der Geschichte:

Ich habe sie zusammen mit einem Bekannten geschrieben. Wir sind irgendwie auf die Idee gekommen, mal zu zweit eine Kurzgeschichte zu fabrizieren, und so haben wir uns gegenseitig immer einen kurzen Abschnitt (im Schnitt vielleicht zehn Zeilen) per ICQ zugeschickt und so ist innerhalb von zwei Wochen diese Geschichte herausgekommen.

Da sie doch teilweise etwas arg surreal wirkt habe ich sie einfach mal unter der Rubrik "Seltsam" veröffentlicht.

Bin gespannt, ob es einer wagt, dieses für eine Kurzgeschichte doch recht lange Werk durchzulesen :)

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom