Der Wald und seine Bewohner
Lars saß allein in dem kleinem Raum und blickte traurig aus dem Fenster. Wie gern hätte er jetzt mit seinen ganzen Kumpels Fußball gespielt, aber nein, seine Eltern mussten ihn ja mit in den Urlaub nehmen, mitten in die Pampa, ein Ferienhaus für grad mal drei Familien, wobei seine die einzige war. Seine Eltern machten Tagein Tagaus Spaziergänge und darauf hatte Robin am wenigsten Lust, andererseits war es in dem Ferienhaus auch verdammt langweilig. Überall hingen Geweihe herum oder Tierköpfe von Hirschen, Wildschweinen oder Rehen und ausgestopfte Hasen, Eichhörnchen und Vögel standen auf den Kommoden und Tischen.
Um das Ferienhaus waren nur Bäume, nichts anderes betrachtete Lars nun Tag für Tag, während seine Eltern spazieren gingen. Seufzend zog er seinen alten Gameboy unter seinem Kopfkissen hervor und spielte ein längst veraltertest Mario-Spiel.
Draußen pfiff der Wind und es klang, als würde er eine Melodie pfeifen, die sich immer schlagartig änderte. Leichter Nieselregen prasselte auf das Holzdach und Lars begann zu gähnen. Er schaltete den Gameboy aus und ging ans Fenster, wobei er dem Wind lauschte.
<Mama und Papa müssen doch bald zurückkommen, bei so einem Wetter wollen sie doch bestimmt nicht wandern, es ist viel zu windig und außerdem könnte sich der Regen verstärken.> dachte er und lehnte sich mit seinem Oberkörper ans Fenster, wobei er sich mit seinen Händen auf der Fensterbank abstützte. Plötzlich gab der Fensterrahmen nach und Lars wäre vor Schreck fast aus dem Zimmer gefallen, doch er konnte sich gerade noch rechtzeitig fangen. Sein Zimmer lag im obersten Stock, genau über einer Wassermühle und einem kleinen Bach. Der Bach war schon längst über die Ufer getreten, denn auch wenn der Regen nicht sehr viel aufeinmal war, so kam nach fünf Stunden Regen ohne Unterbrechung schon sehr viel Wasser zusammen.
Lars` kinnlangen, hellblonden Haare wehten im Wind und das pfeifen des Windes wurde bedrohlich. Seine Haare streiften sein Kinn und es war ihm, als drücke ihm jemand die Kehle zu, so sehr wurden seine Haare in sein Gesicht geschleudert. Seine Augen waren noch nicht sehr viel verdeckt und da sah er seine goldene Kette, die er von seiner verstorbenen Oma bekommen hatte, in dem Bach treiben. Fast hätte Lars sie gar nicht mehr gesehen und einen Moment später war sie auch schon verschwunden; von dem Wasser in die Tiefe gerissen.
Ohne lange zu überlegen rannte Lars aus seinem Zimmer, ohne groß auf die Verwüstung zu achten die der Wind dem Zimmer beigebracht hatte, es schien, als würde er immer lauter pfeifen und heftiger wehen, Er wurde fast zur Tür geschleudert, als er auf sie zurannte. >Ein Orkan!> dachte er für ein paar Sekunden, doch seine Gedanken schweiften ab, zurück zu seiner Kette.
Die Tür bekam er fast gar nicht zu, mit seinem ganzen Gewicht stemmte er sich dagegen, und erst nach einem harten Kampf, den die Tür gewann, ließ er von ihr ab und rannte, so schnell ihn seine Füße tragen konnten die Treppe hinunter, in die Eingangshalle, wo der alte Mann dem das Haus gehörte, auf einem Schaukelstuhl saß und Pfeife rauchte.
„Deine Eltern sind gerade wiedergekommen, sie wollen sich nur schnell abtrocknen, dann kommen sie dir Guten Tag sagen und eine heiße Schokolade trinken, du kannst gleich hier bleiben, Kleiner!“, sagte er freundlich und zeigte auf ein pechschwarzes Sofa, das noch älter als der Mann zu sein schien. „Mist, ich bin gleich wieder da, ich muss nur schnell meine Kette holen, sonst bringt Ma mich um!“, erwiderte Lars und wollte die Tür aufmachen, doch der Mann schüttelte den Kopf: „Deine Kette geht bei einem solchen Sturm nicht verloren. Der Wind möchte dein Kette nicht, er will etwas ganz anderes. Außerdem sollte man nie alleine hinaus gehen, nicht bei solchem Wetter, schau, du wirst dich verlaufen, es ist schon ganz dunkel draußen!“
Lars blickte aus dem Fenster und sah nichts. Die Wolken waren schwarz, die Bäume waren schwarz, alles war in tiefes Schwarz gehüllt.
„Ich verlauf` mich nich` es nur um die Ecke, bin gleich wieder da!“, verkündete Lars und stürzte nach draußen, der Wind zog ihn mit, immer in die Entgegengesetzte Richtung in die er eigentlich wollte.
„Auf Wiedersehen mein Junge, ich vergesse dich nicht.!“, murmelte der Mann und begrüßte Lars` Eltern freundlich, die gerade aus dem Badezimmer kamen. Die Tür war wieder verschlossen und der Wind pfiff nicht mehr so laut.
Lars wurde die ganze Zeit im Kreis gewirbelt und versuchte sich an einer Mauerwand festzuhalten, doch er sah nichts und fühlte nur Bäume um sich herum. Seine Augen hatte er geschlossen, doch der Staub brannte immer heftiger in seinen Augen, er versuchte zu schreien, doch sofort war sein Mund voller Sand, der von dem Wind aufgewirbelt wurde. Lars hatte seine Orientierung verloren und versuchte zu gehen, doch er wurde auf den Boden geschleudert und es war ihm, als lache der Wind ihn aus.
Schlagartig ließ der Wind nach, nur noch der kalte Regen fiel auf Lars` durchnässte Haut und der ganze Staub und Sand wurde einfach von seinem Körper gespült. Das Wasser wurde wärmer und als er seine vereisten Finger wieder bewegen konnte, wie den Rest seines fast eingefrorenen Körpers, wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen und warf mit einer Kopfbewegung seine Haare nach hinten. Er befand sich in einem Wald, seine Schuhe die er längst verloren hatte, brauchte er nicht, der Rasen fühlte sich wie Teppich an und durch das helle Blattgrün der Bäume strahlte die warme Sonne seinen ebenfalls nackten Oberkörper an. Um ihn herum war nichts von dem Sturm zu sehen, in dem er sich noch vor zwanzig Sekunden befanden hatte.
Lars hörte ein Laut hinter sich und drehte sich um. Seine hellblauen Augen streiften ein Mädchen, mit langen schwarzen Haaren und dunkelbraunen Augen. Ihre Augen waren so dunkel, das Lars auf den ersten Blick dachte sie seien schwarz. Das Mädchen trug ein langes weißes Kleid, das bis zu ihren Knöcheln ganz zerfetzt war. Die weiße Haut des Mädchen war gar nicht von ihrem Kleid zu unterscheiden, selbst Lars hatte mit seinen sonst so scharfen Adleraugen am Anfang Schwierigkeiten damit. Das Mädchen war klein, aber ungefähr im selben Alter wie er, vielleicht ein Jahr jünger, aber mehr auch nicht.
„H... Hi!“, stotterte Lars und ergriff die Hand, die das Mädchen ihm hinhielt. Sie war eiskalt. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und Langsam begann er einen neuen Satz anzufangen, während das Mädchen ihn hinter sich her schleifte. Die Sonne verschwand und er Mond kam hinter dem Horizont hervor. „Hast du auch diesen Wind mitgekriegt?“, fragte Lars das Mädchen, doch es gab keine Antwort.
Als beide auf einer Lichtung angekommen waren, dreht das Mädchen sich zu Lars um und Lars` Herz klopfte bis zum Hals. Das Mädchen umarmte ihn und ihr Mund näherte sich langsam Lars` Hals, in dem das Herz immer fleißig weiter klopfte. Lars wollte etwas sagen, doch das Mädchen hielt ihm einen Finger auf den Mund und küsste ihm an Hals.
Lars spürte einen kleinen Stich, es tat höllisch weh, doch gleichzeitig war es ein schönes Gefühl. Das Mädchen saugte an der Stelle die sie gerade eben noch geküsst hatte und Lars wollte sie zurück küssen, doch er nahm das alles gar nicht so richtig wahr.
Der alte Mann trat aus dem Haus. Der Sturm hatte schon längst aufgehört und Lars` Eltern machten sich Sorgen um Lars. Der Mann ging zu dem kleinen Bach und fischte die goldene Kette daraus hervor.
Als er wieder im Haus war, öffnete er ein kleines Kästchen mit einem Schlüssel und legte die Kette hinzu, wo ein versilberter Ring lag mit den eingravierten Buchstaben Anna.
Als Lars seine Augen öffnete, war das Mädchen verschwunden und Lars lag auf der Lichtung. Er träumte vor sich hin und langsam erschien die Sonne wieder und es wurde Tag. Lars leckte sich mit der Zunge über die Lippen, weil sie unerträglich trocken waren, aber es half nichts im Gegenteil; je mehr er leckte, desto trockener wurden sie und Lars hatte das Gefühl sie würden zerfallen. Plötzlich stach er sich mit der Zunge an irgendetwas spitzes das in seinem Mund war.
Lars` ganz Haut fühlte sich so an als würde sie austrocknen, die Sonne brannte immer heftiger und Lars rannte in den Wald, der ein bisschen Schatten bot, doch auch dort begann es nach einiger Zeit wieder zu brennen. Mit seinen Haaren versuchte er sein Gesicht zu schützen, seine Haare waren schwarz, ebenso wie seine Augen, doch er achtete nicht darauf.
Lars kauerte sich auf den Boden und da sah er eine Hand. Er blickte auf, in die Augen des Mädchens von letzter Nacht. Er fasste nach ihrer Hand und die war überhaupt nicht mehr kalt. Das Mädchen lief, im Schatten der Bäume wie Lars, vor ihm her und Lars vertraute ihr, wie einer Schwester, obwohl er das Mädchen gar nicht richtig kannte, aber er fühlte sich zu ihr hingezogen, verstanden und bei ihr spürte er seltsame Wärme, die er sonst nur bei seiner Mutter spürte.
Das Mädchen hielt an und im nächsten Augenblick war sie auch schon verschwunden. Lars ging an die Stelle wo er das Mädchen zuletzt gesehen hatte und sah eine Öffnung einer Höhle, die er ohne das Mädchen nicht gefunden hätte. Er setzte sich in die Hocke und rutschte durch die Öffnung durch. Lars freute sich über die eisige Kälte die ihm entgegenkam und sah das Mädchen.
Es schlief auf einem kalten Stein, ohne Decke, total ungemütlich. Doch Lars legte sich zu ihr und spürte wieder diese Wärme. Lars fand den Stein sehr gemütlich, es war wie ein Bett, aber so gemütlich wie er es gar nicht kannte.
Lars fielen die Augen beinahe zu und kuschelte sich an das Mädchen heran. Er wusste das er seine Eltern nie wieder sehen würde, seine Kette nicht, den alten Mann nicht, seine Freunde nicht. Er wusste das er jetzt hier lebte, zusammen mit dem Mädchen, auf immer und ewig.