Mitglied
- Beitritt
- 02.09.2006
- Beiträge
- 10
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Der Walnussbaum
Der Walnussbaum
In irgendeiner wunderschönen aber recht kleinen Stadt, am Rande, wo nur noch ganz vereinzelt schmucke Häuschen gebaut worden sind, wohnt Herr Nimmerlein. Herr Nimmerlein ist ein bescheidener aber fröhlicher Zeitgenosse. Seit zwei Jahren ist er nun Pensionär und vermisst seine Arbeit als Postbeamter. Nur zu gerne hatte er seine Kunden in der kleinen Postfiliale ein paar Straßen weiter bedient. Auf Korrektheit und Sorgfalt ist er stets bedacht gewesen. Den einen oder anderen Plausch hatte er am Schalter gehalten und jeder, der in gekannt hat, mochte ihn sehr gerne.
Aber vorbei ist die Zeit und Nimmerlein hat sich seinen Ruhestand redlich verdient. An seinem Häuschen ist immer genug zu tun. Vor allem der große Garten macht viel Arbeit und Nimmerlein liebt es in ihm zu wüten. Er hat an jeder Ecke und in jedem Beet mit Liebe und Ausdauer viele Pflanzen eingesetzt. So ist der Garten sehr schön anzusehen.
Nur zu gern sitzt Nimmerlein abends bei Sonnenuntergang auf seinem Schaukelstuhl unter dem alten Walnussbaum, dort raucht er genüsslich sein Pfeifchen und betrachtet mit Stolz die Pracht seines Gartens.
Eines Tages kommt Herr Susemehl, ein ehemaliger und ebenfalls pensionierter Kollege, zu Besuch. Nimmerlein freut sich sehr und hat mit viel Freude den guten Küchentisch und die dazugehörenden zwei Stühle gepackt und sie in der Mitte seines Gartens aufgestellt. So kann sein Besuch die Schönheit dessen auch ganz besonders gut beäugen.
Susemehl ist auch stark beeindruckt von Nimmerleins Werk. Und – natürlich auch neidisch, denn er hat überhaupt keinen Garten, sondern nur eine klitzekleine Mietswohnung im dritten Stock.
Susemehl fängt an, den Garten ganz kritisch zu betrachten und sucht nach Mängeln.
Er schaut unter anderen nach oben und sieht in die Krone des riesigen Walnussbaumes hinauf. „Der ist ja riesig!“ lässt er verlauten und kann sich an dem Grün des Baumes nicht satt sehen. „Ja, der soll schon um die hundert Jahre alt sein.“ Auch Nimmerlein schaut ehrfürchtig in den übergroßen Baum hinauf.
„Ein guter Freund von mir hat auf seinem Anwesen auch drei solcher Bäume gehabt. Aber die machten wohl nur Dreck und Arbeit. Und – die ganzen ollen Walnüsse im Herbst, drei neue Messer in drei Jahren musste er für seinen neuen Benzinrasenmäher kaufen. Einfach stumpf geworden durch die lästigen Walnüsse. Und im Frühjahr der Dreck von den Trieben. Und, was hat der gemacht? Das einzig Richtige. Ratzekahl abgehauen den ungeheuerlichen Bastard. In tausend kleine Holzteile zerlegt und verbrannt den Mist! Seitdem keinen Ärger mehr mit Dreck, Nüssen und vor allem keine Viecher mehr! Keine Mäuse, keine Eichhörnchen, keine Krabbeltiere. Der ist seitdem heilfroh über diesen Entschluss.“
Triumphierend, doch einen Schönheitsfehler im schönsten Garten gefunden zu haben, schaut Susemehl auf Nimmerlein.
„Über eine Baumfällung habe ich auch schon länger nachgedacht!“, lügt Nimmerlein schnell und merkt, dass sein Gesicht ganz warm wird.
Noch eine Weile plaudern sie über Gott und die Welt. Dabei kommt das Thema „Walnussbaum-Fällung“ von seitens Susemehls immer wieder zur Sprache. Endlich schaut er auf seine protzige Armbanduhr und bemerkt, dass er so langsam mal nach Hause gehen müsste.
Nachdem er endlich gegangen ist, räumt Nimmerlein den Kaffeetisch nebst anderen Dingen weg und begibt sich in seine gute Stube, um den Abend mit Fernsehgucken ausklingen zu lassen. Aber egal bei welchem Fernsehsender er gerade zugeschaltet hat, konzentrieren kann er sich auf die Inhalte nicht. Immer wieder kreisen seine Gedanken um seinen Walnussbaum.
Die ganze Arbeit mit ihm würde im Laufe der kommenden Jahre nicht einfacher werden. Man kann ja nie wissen, was das Alter noch so alles mit sich bringt. Gebrechen, Rheuma, Asthma oder schwindende Ausdauer? Und wenn es sich Nimmerlein recht überlegt, ist die viele Arbeit rund um den Baum wirklich nicht von der Hand zu weisen.
Nach ein paar Tagen hat sich Nimmerlein zu einer Entscheidung durchgerungen. Ganz früh am Morgen hat er einen Forstbetrieb angerufen, der im Telefonbuch seine Künste als sehr sauber und preiswert verkauft.
Schon am Nachmittag rollt ein kleiner Lastkraftwagen an. Beladen mit Kreis-, Motorsäge und Häcksler. In ihm sitzen drei Männer mit Blaumännern bekleidet. Routiniert machen sie sich ans Werk. Binnen drei Stunden hat der Baum das Zeitliche gesegnet. Kaum wieder zu erkennen liegt er, in viele kleine Holzteile zerlegt, auf einem beachtlich groß gewordenen Haufen. Den Rest erledigt der Häcksler. Und schon ist der Spuk vorbei!
Am Abend steht Nimmerlein im Garten und schaut auf den Haufen Holzspäne, die mal ein riesiger Wallnussbaum gewesen war. Der Garten hat nun keinen großen Schatten mehr. Aber viel Licht fällt nun in ihn herein.
Es vergehen die Tage! Nimmerlein tut so, als wäre nichts gewesen und wütet wie eh und je in seinem Garten. Durch die große Sonneneinstrahlung aber sind seine vom Schatten verwöhnten Pflanzen schnell ausgetrocknet. Nimmerlein gießt sie zwar ganz fleißig, aber sie gehen trotzdem allesamt ein. Des Weiteren kann Nimmerlein nachts nur schlecht schlafen, weil der helle Mond in ungewohnter Weise sein Zimmer so hell erleuchtet, dass er kaum zur Ruhe kommt. Hinzu kommen jede Mengen Mücken, die sich zu Scharen in seinem Schlafzimmer versammeln, denn ein Walnussbaum vertreibt sie nicht mehr. Viele Vögel haben das Weite gesucht, denn geruhsame Äste gibt es hier nicht mehr.
Im Herbst kommen immer die Nachbarskinder, weil sie Walnüsse für den Kindergarten zum Verzehren und Basteln sammeln wollen. In diesem Herbst bleibt das Kinderlachen aus. Keine Nüsse, keine freudigen Stimmen von glücklichen Kindern, die eifrig nach den braunen Früchten suchen. Auch die Gesellschaft der Eichhörnchen fehlt Nimmerlein. Nur zu gerne hat er die niedlichen Tiere beobachtet, wenn sie geschickt nach den Nüssen angelten und geschwind wie der Wind von Ast zu Ast des Baumes hüpften. Wie konnte er das nur vergessen.
Ohne Baum und ohne Blumen hat Nimmerlein bald die Lust verloren in seinem Garten zu sein.
Er verkrümelt sich fast ausschließlich in seinem Häuschen und vereinsamt immer mehr. Ohne frische Luft, Bewegung und Freude wird Nimmerlein immer rascher ein uralter Greis.
Er lädt keine Besucher mehr ein und wird nahezu menschenscheu.
Zwei Jahre vergehen.
Es ist Frühling! Nimmerlein geht in seinen Garten. Heute Nacht sagte ihm eine Stimme im Traum, dass er mal wieder in seinen Garten gehen solle. Hin und her hat er überlegt. Aber dann hat er sich von seinem alten Sofa her aufgerafft und mit Hilfe eines Stockes ist er wackelig in den Garten hinausgegangen.
Während er durch vertrocknete Sträucher und wildes Unkraut wankt, tritt er auf irgendetwas, was ihn umfallen und in sich zusammenfallen lässt wie ein Kartenhaus. Dort liegt er nun mit dem Kopf nach unten und regt sich nicht mehr. Nach ganzen 20 Minuten schafft er es, mühsam und langsam den Kopf zu heben und schaut aus seinen müden Augen auf das, was ihn zu Fall gebracht hat.
Er traut seinen Augen kaum. Es ist ein kleines Bäumchen. Aber nicht irgendein wildes, sondern tatsächlich ein kleines Walnussbäumchen. Kaum zwei Jahre alt ragt es aus dem wilden Boden hervor. Im Gegensatz zu Nimmerlein protzt es vor Vitalität, Kraft und Energie und scheint mit aller Gewalt der Unfruchtbarkeit um ihn herum zu trotzen.
„Recht so, mein Bäumchen, recht so!“ Fast krächzend kommen diese Worte über Nimmerleins Lippen.
Der Tag vergeht, der Abend kommt, Nimmelein findet nicht mehr den Mut, sich zu erheben. Zu müde und ausgebrannt sind seine Knochen und Glieder. Noch hebt sich sein Brustkorb, der Atem geht schwer. Dann, fast unscheinbar, atmet er zum letzten Mal, ein zuerst lang erfülltes und dann doch jähes Ende ist gekommen.
Ein Jahr später:
„Mama, schau mal hier, ich glaube, dass ist ein echter Walnussbaum!“ ruft ein etwas zehnjähriges Mädchen, welches beim Herumtollen den kleinen Baum entdeckt hat. „Ja, Du hast Recht! Wie schön! Den lassen wir natürlich stehen, denn in einigen Jahren wird er nur Freude bringen!“ sagt die herbeigeeilte Mutter. Sie, ihre Tochter und ihr Mann sind die neuen Eigentümer des frisch renovierten Häuschens, einst Nimmeleins . „Prima, Mama, dann backst Du mir Wallnussplätzchen an Weihnachten, oder?“, erwartungsvoll schaut sie ihre Mutter an. „Ja, süße Maus, aber ein paar Jahre werden wir uns noch gedulden müssen!“
Hand in Hand gehen sie ins Haus, voller Freude auf die kommenden Jahre.