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Der Wandel
Seit der Zauberer unter ihnen lebte, schien Golos Welt aus den Fugen zu geraten. Nichts war mehr wie zuvor. Die Erwachsenen, allesamt kräftige, kampfeslustige Trolle, rümpften die Nase, wenn sich ihre Söhne und Töchter auf den Weg zur Heldenlichtung machten. Dort, wo einst ihre Vorfahren die große Schlacht gegen die Drachen gewannen, wurde nun gestandenen Trollen Schulunterricht erteilt. Statt Lanzenstechen, Felsenschleudern und Morgensternwurf lehrte man den Halbwüchsigen nun Mathematik, Philosophie und Geschichte. Mit ihren riesigen krallenbesetzten Pranken mussten die Trollkinder grazile Federn halten, um damit auf Rollen aus Pergament zu kritzeln. Schreiben, so tönte der Zauberer vor den skeptischen Eltern, trug dazu bei, das Leben der jungen Trolle in richtige Bahnen zu lenken. Wie auch alle anderen Fächer, die er lehrte.
Die Meinungen gingen weit auseinander. So mancher der Alten hätte den wichtigtuerischen Magier lieber zum Frühstück verspeist, als dass er ihm seine Kinder anvertraute. Doch Dimarus hatte ihnen freien Zugang zu seiner Diamantmine gewährt, unter der Bedingung, die jüngeren Trolle unterrichten zu dürfen. Dieses Angebot konnten die monströsen Wesen nicht ausschlagen. Zu sehr waren sie von dem Gedanken besessen, die größte Waffe der Welt aus dem härtesten aller Materialien zu schmieden. Mit ihr würde der stärkste Gegner bezwungen werden, der zäheste Drache und der größte Riese besiegt.
In Golos Kopf schwirrten die Zahlen so wirr umher wie ein Schwarm Mücken. Wie viel war noch einmal sieben und neun? Er kniff die schwarzen Augen zusammen, um besser nachdenken zu können. Doch kurz darauf riss er sie wieder auf, so dass die roten Pupillen darin aufblitzten, als hätte jemand ein Feuer darin entzündet. Voller Eifer schrieb er die Lösung auf das Pergament und präsentierte sie stolz vor Dimarus.
Anfangs hatte sich Golo gegen den Unterricht aufgelehnt, wie jeder seiner Artgenossen. Doch als der Magier einen der Schüler verzauberte und statt seines hörnerbesetzten Trollschädels plötzlich ein niedlicher Hundekopf auf seinen wuchtigen Schultern saß, fügten sie sich in ihr Schicksal. Nichts war schlimmer für einen Troll, als sich der Lächerlichkeit preiszugeben.
Dimarus lächelte Golo zu, als er ihm das richtige Ergebnis vorlegte. Er hielt ihn mittlerweile für den begabtesten seiner Eleven. Natürlich gab Golo es nicht zu, doch wenn der Zauberer ihn beobachtete, so gewann er den Eindruck, dass dieser Schüler sogar Freude am Lernen fand. Auf ihn würde er ein besonderes Augenmerk legen.
Doch auch allen anderen jungen Trollen wollte Dimarus beibringen, dass das Leben nicht nur aus Kampf, Hass und Grausamkeit bestand. Ihre Eltern würde er nicht mehr davon überzeugen können. Sie hatten bereits Jahrzehnte lang gemordet, waren verroht und dachten an nichts anderes, als eine Waffe zu schmieden, die ihnen die Weltherrschaft sichern sollte. Dafür wühlten sie sich seit geraumer Zeit durch seine Diamantmine, klopften kübelweise Steine von den Wänden, um am Ende mehrerer Tage ein winziges Diamantkörnchen zu Tage zu fördern. Bis ihnen gelänge, so viel davon abzubauen, um ein Schwert daraus zu schmieden, sollte er die Jungen fertig ausgebildet haben. Er hoffte, dass viele der Alten diesen Zeitpunkt gar nicht mehr erleben oder dann bereits zu schwach für einen Kampf sein würden.
Dimarus erklärtes Ziel war es, die jungen Trolle zu kultivieren, ihnen Werte zu vermitteln und ein für alle Mal ihren Kampfesgeist auszulöschen. Niemand sollte sich mehr von ihnen bedroht fühlen. Die Drachen sollten fortan in Ruhe in den Wäldern leben, ohne Angst um ihre Haut haben zu müssen. Nie mehr würden menschliche Siedlungen abgebrannt und ihre Bewohner verspeist werden.
Nachdem zwei Winter vergangen waren, hatte sich Golo zu einer Art Anführer entwickelt. Die anderen Schüler respektierten ihn und bewunderten seine schulischen Leistungen. Jeden Streit, der unter ihnen entbrannte, vermochte Golo zu schlichten, jeden Kampfesversuch im Keim zu ersticken.
Dimarus war zu recht stolz auf ihn.
Bald beschloss er, dass die Zeit reif war, Golo ein wenig von der Welt zu zeigen. So nahm der Magier ihn eines Tages mit auf eine kleine Reise, die sie in die Nähe eines Menschendorfes führte. Auf dem Weg dorthin versuchte Dimarus, seinen Schüler für die Lebensweise der Menschen zu begeistern. Er erzählte ihm von den Häusern, in denen sie lebten, von Berufen, die sie ergriffen. Golo erfuhr, dass sie an Götter glaubten, denen sie huldigten, dass Männer wie Frauen ihren Leib mit Kleidung bedeckten, und dass sie außer Fleisch auch andere Dinge zu sich nahmen, die so seltsame Namen wie Kohl oder Rüben trugen. Dimarus berichtete von Ackerbau und Viehzucht, berühmten Medicussen, Dichtern und Gelehrten. Golo gewann bald den Eindruck, dass es sich um ganz besonders kluge Lebewesen handelte und schämte sich ein wenig für seine Eltern, die den Menschen so viel Unheil zugefügt hatten.
Am Waldrand versteckten sie sich hinter Bäumen und Büschen und spähten durch das Blattwerk hindurch. Golo erkannte ein kleines Bauwerk. Ein Haus, in dem Menschen wohnten, erklärte ihm Dimarus. Erstaunt betrachtete Golo das Gebäude, aus dessen Dach feiner Rauch aufstieg. Ganz anders als die Zelte aus Drachenhäuten, in denen die Trolle lebten. Hinter dem Haus vernahmen sie plötzlich Stimmen. Unwillkürlich hielt Golo den Atem an, als sich zwei Männer mit geschulterten Spaten zeigten und geradewegs auf den Eingang des Hauses zuschritten. An der Hauswand stellten sie ihre Werkzeuge ab und verschwanden dann lachend im Inneren. Golo atmete aus. So sahen also die Menschen aus. Von kleiner Gestalt waren sie, ohne Hörner und Hufe. Ihre Haut spannte sich glatt über den Körper und war nicht wie die seine von unzähligen rissigen Runzeln überzogen. Ansonsten erschienen sie ihm eher unspektakulär. Lebewesen, die ihrer Arbeit nachgingen, aßen und tranken. Das Bild, das sich Golo auf dem Weg hierher von ihnen gemacht hatte, verblasste zusehends, und er wollte Dimarus bereits vorschlagen, die Heimreise anzutreten, als sich die Haustür erneut öffnete. Ein Geschöpf trat daraus hervor, das sich gänzlich von den Männern unterschied, die es zuvor betreten hatten. Die Haut des Wesens leuchtete in einer zarten Blässe und schien noch viel feiner und glatter als die ihrer Artgenossen. Statt eines dunklen Schopfes hingen ihr helle, beinahe weiße feine Strähnen hinab bis zu den Hüften. „Wie schön, jetzt bekommst du auch noch das andere Geschlecht zu sehen. Ein Mädchen“, flüsterte Dimarus. „Ein Mädchen“, wiederholte Golo seufzend. Einmal hatte er in seiner Kindheit eine Elfin gesehen, deren Anmut in seinem Gedächtnis bis heute haftete. Nun wurde diese Erinnerung ausgelöscht, denn das Mädchen erschien ihm tausendmal schöner. Grazilen Schrittes ging es zum Brunnen und pumpte mittels eines langen Hebels Wasser daraus hervor.
„Jetzt können wir gehen“, schlug Dimarus vor, als das Mädchen wieder ins Haus zurückgekehrt war. Nur mühsam konnte sich Golo losreissen. Am liebsten hätte er gewartet, bis die Türe erneut aufschwang und das liebliche Kind daraus hervortrat. Doch Dimarus war schon vorausgeeilt. Rumpelnd erhob sich der Troll und stapfte seinem Lehrmeister hinterher.
Den Rest der Reise schwelgte Golo in Träumen. Er stellte sich vor, das Haar des Mädchens zu berühren, sie mit in das Trolldorf zu nehmen. Wie schön es wäre, wenn sie neben ihm in seinem Zelt schliefe. Wenn er morgens die Augen aufschlug und als erstes ihr schönes Antlitz erblickte. Unvorstellbar, wie sich ihre Haut anfühlen mochte. Glatt und warm wie ein vom Wasser geschliffener Stein, der in der Sonne lag? Oder eher geschmeidig wie ein frisches Drachenherz? Es bereitete ihm unsägliche Qualen, dass er es nie erfahren würde.
Traurig kehrte er zu den übrigen jungen Trollen zurück, die begierig auf seinen Bericht warteten, doch er fertigte sie nur kurz ab. Die anderen wunderten sich, denn die Reise schien Golo verändert zu haben. Auch Dimarus fiel auf, wie der einst interessierte Schüler sich in einen unkonzentrierten Träumer verwandelt hatte.
Einige Tage später wachte Golo früh am Morgen auf. Jemand schrie. Getrampel und Gebrüll folgten. Verschlafen streckte er den Kopf aus seinem Zelt. Es dämmerte bereits, doch die Trolle standen üblicherweise erst auf, wenn die Sonne schon hoch am Himmel stand. Nicht so heute. Es herrschte ein wildes Durcheinander. Während die Alten sich bewaffneten, sich Morgensterne um die Schultern hängten und soviele Schwerter und Speere ergriffen, wie sie nur tragen konnten, hatten sich die Jungen in einer Gruppe zusammengestellt und riefen alle zugleich etwas, so dass Golo nichts davon verstehen konnte. Erst als einer von ihnen zum Himmel deutete, sah Golo, was den Aufruhr verursacht hatte.
Die Drachen befanden sich im Anflug auf das Trolldorf. Es mussten Dutzende sein, die mit weit ausgebreiteten Flügeln heranglitten, bereit, ihre fürchterliche Waffen einzusetzen. Doch sie kamen nicht allein. Auf ihren Rücken saßen Gestalten. Jeder der Drachen trug einen Reiter durch die Luft. Golo verließ sein Zelt und stand etwas verloren inmitten der umherlaufenden Erwachsenen herum. Eine Hand legte sich an seine Hüfte. „Die Menschen haben sich mit den Drachen verbündet“, teilte ihm Dimarus mit sanfter Stimme mit. „Es ist nun an euch, zu zeigen, was ihr gelernt habt. Benutzt euren Intellekt, um den Streit zu schlichten. Sprecht mit ihnen, zeigt euren guten Willen.“ Benommen nickte Golo.
Der erste Feuerstoß setzte das Zelt seiner Eltern in Brand. Wütend rannten diese herbei und schleuderten Lanzen nach dem Drachen und dem Mann auf seinem Rücken, der hinab gerissen wurde und in die Flammen stürzte.
Nach und nach kreisten immer mehr Drachen über das Dorf. Gerade wollte Golo sich Gehör verschaffen und die Angreifer mit Worten besänftigen, als ein Drache so niedrig an ihm vorbeiflog, dass er in die Augen seines Reiters blicken konnte. Sie waren von einem wässrigen Blau und blickten entschlossen und kühn. Sein helles Haar wehte im Fahrtwind wie ein Schleier. Blass leuchtete das Gesicht des Mädchens, noch blässer, als Golo es in Erinnerung hatte. Ein Speer flog heran und bohrte seine Spitze tief in das Drachenfleisch. Der Schütze, ein Freund von Golos Vater, stieß einen Siegesschrei aus. Golo rannte los und streckte die Hände aus. Ihr durfte nichts geschehen! Sie landete sanft in seinen Armen. Wie erstarrt lag das Mädchen in den Pranken des Ungetüms. Sein widerlicher Geruch stieg ihr in die Nase. Ihr betörender Duft ließ Golo für einen Moment die Augen schließen. Langsam, um sie nicht zu sehr zu erschrecken, legte er seine Klauen auf die nackte Haut ihre Armes und fühlte ihr Fleisch. Dimarus trat herbei und flüsterte: „Setz’ sie wieder ab. Sie ist völlig verstört.“ Doch Golo hörte nicht. Wie verzaubert saugte er ihr liebliches Aroma auf und spürte ihren glatten Leib. Dann biss er zu.
Knochen splitterten knackend, Blut schoss hervor. Dimarus bückte sich rasch nach einem Schwert, das einer der Trolle verloren hatte.
Golo verbiss sich in das Mädchen, zerfetzte ihren Körper, bis er an ihre Eingeweide gelangte, die er gierig in sein Maul saugte. In seinen Augen spiegelten sich die Flammen der brennenden Zelte.
Mit einem Aufschrei stach Dimarus zu. Tief bohrte sich das Schwert in das blutende Herz des Magiers.