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Der Weg eines Niemand
Der Weg eines Niemand
-Intro-
Der Rauch schmeckt bitter, wie das Leben selbst.
Ein weiterer Zug von der Zigarette. Vernichte dich selbst, wen intressierts?
Die Finger trommeln auf das Lenkrad, im selben Rhythmus, wie der Regen auf das Auto fällt. Ein Blick aus dem Fenster. Menschen hetzen durch die Straßen, die Köpfe mit verschiedenen Sachen bedeckt, um nur ja nicht nass zu werden.
Es kann nicht immer regnen.
Oder doch?
Die Zeitung ist aufgeschlagen, liegt neben mir auf dem Beifahrersitz. Der Inhalt ist jedes Mal derselbe. Tote, wo man hinsieht, Armut, wo es nur geht.
Und Regen.
Mein Blick fällt auf die Digitaluhr am Armaturenbrett. 13:05 Uhr. Der Nachmittag ist am anrollen.
Der Niederschlag hüllt alles in ein Grau in grau, Wolken ballen sich am Himmel.
Keine Besserung in Sicht.
Wo wird das nur alles hinführen?
Das Handy. Kein Anruf, keine Mitteilung. Unbeachtet, von so vielen ignoriert. Ein schlimmes Gefühl. Ein weiteres Bad im See aus Selbstmitleid.
Ich greife nach der schicken McDonalds Tüte unter dem Beifahrersitz.
I’m lovin it.
Der letzte Zug, ein tiefes Inhalieren; ich kann förmlich spüren, wie sich der Teergehalt in meiner Lunge verdoppelt.
Ich fasse in die Tüte und hole das Letzte heraus, das mir noch geblieben ist.
Ein seltsames Gefühl. Kaltes Stahl in meiner Hand.
Es geht los.
-1-
Zittern.
Sieht also so das Ende meiner Welt aus?
Mein ganz persönliches Armageddon, mein eigener Kreuzzug ins Ungewisse.
Das Bier schmeckt schal; es ist laut in der Bar. Der Tresen, an dem ich sitze, ist tropfnass.
Die ganze Atmosphäre ist von Rauch und Lachen geschwängert. Ein paar Leute spielen Billard, manche Dart. Andere sind bereits auf ihren Tischen zusammengebrochen.
Wo man hinsieht, hinterlässt der Alkohol seine Spuren.
Irgendwo läuft ein Fernseher. Die Nachrichten. Es sind wieder Menschen gestorben und ein Arbeitsloser hat mit einem Los der Klassenlotterie einen Millionengewinn gemacht.
Jeder bekommt, was er verdient.
Was muss ich für ein Arschloch sein, dass ich so was bekomme.
Ich drehe das Bierglas im Kreis, betrachte, wie der Schaum hin- und herschwappt.
Jemand setzt sich auf den Hocker rechts von mir. Ein Schwarzer.
„Einen Whiskey, den stärksten, den ihr habt“, bestellt er lautstark.
Er sieht komisch aus. Einen seltsam braunen Hut auf dem Kopf und eine rote Lederjacke. An seinem Hals hängt eine goldene Kette mit einem Kreuz.
Der Schwarze dürfte meine Taxierung bemerkt haben, denn er sieht mich plötzlich an.
„Bring noch einen zweiten“, sagt er zum Kellner. „Beschissenen Tag gehabt, heute?“
Es dauert einen Moment, bis ich bemerke, dass der Mann mich meint.
„Kann man so sagen“, antworte ich.
Der Schwarze lacht dämlich. Ich kann zwei goldene Zähne sehen.
„Sieht man dir an. Streit mit der Frau?“
Mich stört die Neugierde des Mannes. „Wenn’s nur das wäre.“
Der Kellner bringt die zwei Whiskeys. Einen davon schiebt der Schwarze zu mir.
„Hier.“
Ich starre ihn an. „Was?“
„Der Whiskey ist für dich.“
Sehe ich schon so bemitleidenswert aus, dass mir ein dahergelaufener schwarzer Zuhälter mit Hut ein Getränk der teuersten Sorte ausgeben muss?
„Ich glaub nicht, dass ich das annehmen kann.“
Der Schwarze lacht wieder. Ich hasse diese goldenen Zähne.
„Red keinen Scheiß daher, ja? Natürlich kannst du. Ist ganz einfach, nimm nur das verdammte Glas und kipp das Zeug in dich rein.“
Ich schüttle den Kopf, greife nach dem Whiskeyglas und ergebe mich meinem Schicksal.
Ein zufriedener Ausdruck erscheint auf dem Gesicht des Mannes. Er hebt sein Glas.
„Auf die suggsessive Selbstausrottung der unwürdigen menschlichen Rasse.“
„Zum Wohl“, sage ich, dann leere ich das Gesöff in einem Zug. Es brennt fürchterlich in der Kehle; als ob meine Innereien Feuer fangen würden.
Der Schwarze gibt ein unartikuliertes Geräusch von sich und knallt sein Glas auf den Tresen.
„Ja, das war gut.“ Er wischt sich mit dem Hemdärmel über den Mund.
„Noch eine Runde?“, fragt er mich.
Ich schüttle schwach den Kopf, aber so ganz scheint ihn meine Meinung nicht zu kümmern. Er bestellt noch zwei Whiskey. Währenddessen trinke ich mein Bier in raschen Zügen, um den Brand zu löschen.
Der Schwarze wendet sich wieder mir zu und hält mir die Hand hin.
„Jossip Gandha.“
Beinahe widerwillig drücke ich seine Rechte. „Niemand.“
Er sieht mich fragend an. „Wie bitte?“
„Mein Name ist Niemand.“
Der Schwarze sieht mich mit seltsamem Ausdruck an. „Sehr ausgefallen.“
„Ich weiß.“
Falls er tatsächlich ein wenig berührt durch meine Antwort ist, überspielt er das meisterhaft. „Nicht sehr typisch hier der Name, oder?“
„Eigentlich nicht.“
„Dacht ich’s mir doch.“
Zwei neue Gläser werden vor uns hingestellt.
„Ich will diesen Whiskey nicht.“
„Warum?“
„Weil er von dir ist.“ Wann lässt er mich endlich in Ruhe?
„Hast du ein Problem damit?“
„Ja, verdammt noch mal, ich will dieses Getränk nicht. Warum bezahlst du mir den Dreck überhaupt?“ Ich spüre bereits den ersten Drink. Ziemlich stark, dieses Zeug.
„Keine Ahnung. Stört es dich?“
„Es ist verdammt unhöflich, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten.“
Jossip lacht. „Reg dich ab. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Also sei einfach so freundlich und trink.“ Er schiebt den Whiskey vor mich hin.
Einen kurzen Augenblick starre ich ihn wutentbrannt an, doch dann nehme ich das Glas und kippe das Zeug hinunter.
Jossip sieht mich an und lächelt. Die Sicht wird eindeutig schlechter. Die Lichter blinken, gehen an und aus. Die Gesichter verschwimmen vor meinen Augen. Wo ist die Toilette?
„Mann oh Mann, du hältst ja gar nichts aus.“
Wer hat das gesagt. War es Jossip, oder der Barkeeper?
Ich rutsche vom Stuhl. Was ist nur los mit mir?
Will in Richtung Toilette taumeln, aber nehme den falschen Weg. Ein Typ rempelt mich an.
„Pass auf, du Pisser.“
Ich bekomme einen Tritt, der mich taumeln lässt, zuerst halte ich meinen Körper noch aufrecht, aber der Alkohol fordert bald darauf seinen Tribut und ich knalle auf den Boden.
Mir wird in die Seite getreten und neuer Schmerz wallt in mir auf. Ich höre Stimmen, Geräusche. Ich blicke auf.
Verschwommen erkenne ich, wie zwei Menschen miteinander ringen. Ist das Jossip, der gerade wie ein Verrückter auf den anderen einprügelt?
Jemand stürzt auf mich. Die Wucht treibt mir die Luft aus den Lungen.
Ich will ihn von mir stoßen, aber das stellt sich als unmöglich heraus. Plötzlich spüre ich kein Gewicht mehr auf mir. In meinem Kopf toben Geräusche und Stimmen, dann kracht es einmal gewaltig und mit einem Mal schweigt alles andere.
„Maul halten.“ Jossip. „Los ihr Scheißer, dort rüber, wo ich euch sehen kann, verdammt noch mal.“
„Niemand?“ Es dauert eine Weile bis ich begreife, dass Jossip mich meint.
„Ja?“ Ich lalle leicht. Kopfschmerzen.
„Steh auf.“
Ach lass mich doch in Ruhe, denke ich und schweige.
„Steh auf, hab ich gesagt.“
Der wirre Nebel in meinem Hirn zieht sich ein wenig zurück, als hätten Jossip’s Worte eine magische Wirkung auf mich. Langsam richte ich mich auf.
„Sie machen einen großen Fehler, legen Sie die Waffe weg“, sagt wer.
„Halts Maul“, antwortet Jossip. „Niemand, findest du zur Tür hinaus?“
„Nein.“
„Stell dich nicht so bescheuert an. Geh einfach nur nach hinten, kapiert?“
„Ist gut.“ Wohin?
Langsam torkle ich dorthin, wo ich vermute, dass hinten ist.
Es beginnt sich wieder alles zu drehen. Ich sehe die Tür, hoffe zumindest, dass sie es ist. Laufe dagegen, klammere mich an die Schnalle und drücke sie auf.
Der kalte Abendwind schlägt mir hart ins Gesicht, als ich die Kneipe verlasse, und gibt mir den Rest. Mein Magen rebelliert, die farbmalende Spirale in meinem Kopf dreht sich in irrsinniger Geschwindigkeit, wie ein Kreisel auf Ecstasy. Ich sehe mal schwarz, mal weiß, mal bunt.
Schüsse aus der Bar. Geschrei.
Ist Jossip verrückt geworden, frage ich mich noch, dann schießt der Boden zu mir hoch, oder ist es umgekehrt?
-Intermission, Pt. I-
Es geht los.
Hier und jetzt, ohne Umschweife, ohne Gnade.
Es regnet noch immer. Ich sehe alles in schwarz-weiß.
Muss mich konzentrieren.
Einen Fuß vor den anderen. Luft holen.
Was tue ich hier?
Menschen sehen mich an – nur kann ich ihre Gesichter nicht erkennen, weil über ihren Augen ein schwarzer Balken klebt.
Wie in den Zeitungen. Wie lächerlich.
Genau das ist es: lächerlich.
Das Lachen gefriert an einem Punkt irgendwo tief im Brustkorb. Konzentration.
Waffe heben. Blam!
Ein Kopf zerplatzt wie in einem Cartoon, aber der verdammte schwarze Balken klebt weiterhin auf den Überresten.
Blam!
Blam!
Jemand hält einen Regenschirm wie ein Schild gegen mich.
Lächerlich.
Blam!
Irgendwann klickt es nur noch und ich beruhige mich ein wenig.
Der Platz ist menschenleer geworden – sieht man von den Toten ab und jenen, die sich schreiend in ihrem eigenen Blut wälzen.
Es reicht.
Ja. Du hast Recht. Wer bist du?
Und warum ist alles nur schwarz-weiß?
Lächerlich.
-2-
Es riecht nach Eiern mit Speck und nach frischem Orangensaft. Ich kann das Fett in der Pfanne brutzeln hören. Jemand berührt mich sanft am Gesicht. Ich lache. Wie schön das Leben ist. Dann öffne ich die Augen. Da steht sie und sieht mich an, sie grinst liebevoll und küsst mir zärtlich auf die Stirn.
„Hallo Liebling“, haucht sie, aber es ist nicht wirklich sie, sondern eigentlich ein er, um genau zu sein ist es Jossip. Seine Goldzähne glitzern makellos, aber er sagt nicht „Liebling“, er sagt: „Prinzessin.“ Mit einem boshaften Unterton.
„Schon wach, Prinzessin?“
Kein Daunenbett, keine Eier mit Speck und kein Orangensaft.
Rechts von mir zieht die Landschaft vorüber, ab und zu rumpelt es leicht.
„Wo bin ich?“ Reichlich dumme Standardfrage, doch in jedem Repertoire vorhanden.
„In einem Zug“, antwortet Jossip.
„Verdammt, was ist passiert? Warum fahre ich in einem Zug? Scheiße!“
„Erstens:“, sagt der Schwarze, „du warst stockbesoffen, bist draußen vor der Bar rumgelegen, bevor ich dich aufgesammelt hab.“
Bar? Es dämmert...
„Zweitens: war’s ein bisschen ungemütlich, nachdem es eigentlich ganz gut begonnen hatte. Es gab Ungereimtheiten, nicht weiter schlimm. Die Leute werden sich drüber nicht mehr den Kopf zerbrechen.“
Es bleibt bei einer Dämmerung. Ich kann mich erinnern, in einer Bar gewesen zu sein, gleich nach-
Nach was eigentlich? Egal.
Ich hatte jedenfalls ein Bier getrunken, nein, zwei. Dann ist Jossip gekommen, und dann?
In dem Nebel, der sich in meinem Hirn ab und zu, wie jetzt gerade zu diesem Zeitpunkt, eingenistet hat, kann ich nichts entdecken.
„Was ist in der Bar passiert?“, frage ich.
Jossip schmunzelt in sich hinein. „Nichts. Jedenfalls nichts, was dich allzu sehr beunruhigen sollte.“
Ein Blitz schlägt in den Nebel ein und erhellt eine Szene. Ahnung.
„Sind Menschen verletzt worden?“, frage ich.
„Ja.“
„Was?“
„Sie gingen den Weg des irdischen.“ Jossip’s Gesicht ist eine Fratze aus Stein. Seine Augen fixieren mich. Er lächelt nicht mehr.
„Du hast Menschen getötet? In der Bar? Sag mal, spinnst du?“
„Menschen sterben. Das ist nun mal so.“ Er übergeht meine Beleidigung einfach.
„Nein, ich meine, ja, aber du hast sie doch getötet. Sie sind ja nicht einfach so gestorben.“
Er zuckt mit den Schultern. „Macht im Endeffekt keinen Unterschied. Außerdem, was regst du dich auf? Ich kenn auch wen, der gestern gemordet hat.“
Diese Kaltschnäuzigkeit...
„Ach ja? Außer dir, meinst du?“
Seine Augen verengen sich zu Schlitzen. „Aber ja doch, kennst du das hier?“
Jossip holt etwas aus seiner Jacke hervor. Überrascht schaue ich auf die Waffe in seinen Händen.
„Noch nie gesehn.“
Schwarz-weiß?
„Wirklich nicht?“
„N...
Tote. Vier an der Zahl. Zwei Menschen, die sich auf dem Boden winden und schreien. Zum Schweigen bringen, aber es macht nur mehr ‚klick’. Es reicht.
Ja.
...ein.“ Bilder und Erinnerungen rauschen durch meinen Kopf, werfen sich gegen mein Hirn, klopfen an, bitten um Einlass und laufen doch wieder weg. Nichts bleibt klar. Nur eine Ahnung hängt in wirren Fetzen zwischen den Verstrebungen meines Verstandes.
Ich frage: „Ist das meine Waffe?“
Jossip grinst. „Ich hab sie aus deiner Jacke. Ich würde einmal sagen: ja.“
So sehr ich mich anstrenge, ich kann damit nichts anfangen. Was geht hier vor?
„Nimm mal“, sagt Jossip und hält mir die Pistole hin.
Ich nehme sie in die Hand. Es kommt mir vor, als ob die Waffe vibrieren würde.
I’m lovin it.
Bilder.
Zu viele. Nicht mehr farblos. Das Blut unterstreicht alles, ist überall. Ich will die verdammte Pistole loslassen, aber es geht nicht. Sie verwächst mit meiner Hand, verbindet sich mit meinen Nerven und Blutbahnen, ist ein Teil von mir.
„Nein!“
Alles verschwimmt vor meinen Augen. Dann wird alles klar:
Ich stehe im Regen. Mit der Waffe in der Hand. Das Wasser tropft von meinen Haaren, durchnässt meine Kleidung. Es riecht streng, die Luft ist erfüllt von Wimmern und Stöhnen. Vor wenigen Sekunden hatten sie noch geschrieen.
Die Menschen am Boden natürlich.
Sie haben ausgefranste Löcher in ihren Körpern. Löcher, aus denen Blut hervorquillt wie Öl aus kaputten Maschinen.
Ich habe Durst.
„Da haben wir's, nicht wahr?“ Jetzt lacht Jossip. „Du wirst gesucht.“
Noch bin ich nicht so ganz da, denke an die Menschen, die ich (ich?) getötet habe.
„Natürlich wissen sie noch nicht, wer es wirklich war, sie suchen aber bereits nach einem fünffachen Mörder.“ Der Schwarze wartet auf eine Reaktion von mir, die nicht erfolgt.
Dann seufzt er, klopft sich mit den Händen auf die Schoß und steht auf.
„Ich hab Hunger, wie sieht’s mit dir aus?“
„Hm?“ Bin noch woanders, hinterlassen Sie eine Nachricht.
„Ich geh mir was zu futtern holen, willst du auch was?“
„Müde...“, sage ich nur.
Jossip bleibt noch eine gute Sekunde unschlüssig stehen, dann öffnet er die Schiebetür des Abteils und verschwindet im Flur.
Kurz dringen Geräusche an mein Ohr, Gesprächsfetzen. Die Tür wird wieder zugemacht und alles ist wieder still.
Jetzt bin ich meinen Gedanken schutzlos ausgeliefert – sie kommen. In Schwärmen fallen sie über mich her. Ich kann gar nicht so viele Reize aufnehmen, wie sich da gegen die Wände werfen. Mir ist schon wieder schwindelig.
Draußen rauscht die Landschaft vorbei. Grün, Braun, Blau, Wolken.
Drinnen schließe ich die Augen und bete, dass ich sie nie wieder aufmachen muss.
-Intermission, Pt. II-
Der Mann mit dem grauen Mantel sieht mich anklagend an.
„Warum?“, fragt er. „Warum nur?“
Er fährt sich mit der Hand über seinen Bauch. Ich sehe das zerfetzte Gewand darunter, mindestens zwei Einschusslöcher, aus denen noch Blut sickert.
Mit den Fingern bohrt er darin herum, steckt sie so tief hinein, wie es nur geht.
„Sehen Sie nur, was Sie getan haben“, flüstert der Mann. Seine Augen schauen mich traurig an. Katzenaugen, die um Futter betteln.
Ich will ihm sagen, dass es mir Leid tut, aber so recht tut es mir das nicht.
Ich will ihm sagen, dass er verschwinden soll.
Aber ich bleibe still und er sagt nur: „Schaun Sie, es tut gar nicht mehr weh“, und das, während seine Finger sich in den Körper graben und die Löcher vergrößern, die meine Geschosse gerissen haben.
Der Mann grinst verführerisch. Er hört auf, seine Wunden zu bearbeiten und starrt interessiert den blutverschmierten Finger an.
„Mal kosten?“, fragt er und gleichzeitig schleckt er den roten Saft genüsslich ab.
Ihr Bier.
Was?
Ich sehe mich um. Bin in der Bar. Der Mann in dem grauen Mantel ist fort.
Der Wirt sieht mich komisch an, weil ich zittere. Er sagt jedoch nichts.
Die Waffe in meiner Jackentasche scheint plötzlich immer schwerer zu werden. Ich habe Angst, dass der Stoff reißen könnte und so die Pistole herausfallen würde.
Mein Blick wandert nach rechts. Drei Hocker neben mir sitzt ein junger Mann. Er trinkt ein Glas Milch. Sein Anzug sieht beinahe neu aus, seine Haare sind noch teilweise nass vom Regen.
Der Mann hebt sein Glas und beginnt es zu leeren. Das seltsame ist, dass die Milch bei seinem Hals wieder heraussprudelt. Nicht mehr nur weiß, sondern auch rot. Vermischt.
Er dreht sich zu mir um und hebt die Hand zum Gruß.
Ich kann die grässliche Wunde sehen, woraus diese rötlich-weiße Flüssigkeit nun herauskommt.
Ich schaue weg. Leere mein Bier in einem Zug, bestelle noch eines.
Als ich mich wieder zu dem jungen Mann umdrehe, ist er verschwunden.
Nur eine blutige Milchlache ist auf dem Tresen zurückgeblieben.
-3-
Nacht.
„Sie ist leer.“
„Natürlich ist sie das“, antwortet Jossip und macht eine vage Geste zur Waffe hin. „Du hast ja immerhin fünf Menschen damit getötet und dabei das ganze Magazin verpulvert.“
Ich kann es immer noch nicht glauben. Ich soll das gewesen sein? Lächerlich.
Eine zeitlang ist es still in unserem Abteil. Man hört nur das Rumpeln des Zuges. Der Schwarze sitzt mir gegenüber und sieht mich an. Ab und zu nimmt er einen Schluck von seiner Coke.
„Wo fahren wir hin?“, frage ich schließlich.
„In den Osten. Ein Zug Richtung Osten.“ Dann zuckt er mit den Schultern. „Irgendwohin ostwärts.“
Nach dem warum zu fragen ist fast schon lächerlich. Träume ich das alles oder drehe ich schon durch? Meine Güte, was alles passiert ist. Passiert sein soll.
„Was sinnierst du, Niemand?“
„Ich hab mich nur gefragt, was das hier alles soll. Ob ich wache oder träume. Und so weiter“, antworte ich wahrheitsgemäß.
Jossip lächelt wieder, er macht das gerne, wie es aussieht.
„Ich hab einen Job zu erledigen. Sagen wir, zwei Jobs. Deswegen fahren wir nach Osten. Ich könnte deine Hilfe gebrauchen.“
„Wobei könntest du meine Hilfe brauchen?“
„Bei den Jobs natürlich.“
„Und wieso ausgerechnet ich? Da waren sicher zehn bessere Personen in der Bar.“
„Besser“, er lacht. „Es geht nicht um besser und schlechter. Gut und böse. Nenn es wie du willst. Eingebung, Schicksal, oder sonst was. Du bist dort gesessen und ich hab mir gedacht, du wärst der Richtige.“
„Der Richtige für was, verdammt?“
„Abwarten.“
„Ich werde dir sicher nicht bei deinem scheiß Job helfen, du Psychopath. Ich danke dir, dass du mir in der Bar geholfen hast und mir zwei Drinks spendiert hast. Du hättest es nicht müssen. Danke. Wiedersehen.“
Jossip sieht mich nur an. Sein Lächeln ist verschwunden. Wir fahren in einen Tunnel ein.
„Der einzige Psychopath in diesem Raum“, sagt er mit einer Stimme, die Luft in Eis verwandelt, „bist du. Sieh dich an, Niemand, du verlierst die Beherrschung, schneller, als ein Stier, der ein rotes Tuch sieht. Weißt du, was dann passiert? Weißt du es?“
Der Regen. Meine Verzweiflung. Meine Wut.
Die Waffe.
Das Blut auf dem Boden, auf den Leuten. Ihre Gesichter verdeckt. Oder meines?
Eiskalt. Lächerlich.
„Natürlich weißt du es“, sein boshaftes Lachen bohrt sich in mein Hirn. „Dann macht es klick und du tickst aus.“
Jossip lässt nicht locker, er will mich Fertigmachen. Er schafft es auch. Bilder.
„Dann tötest du Menschen. Und bist du deshalb ein schlechter Mensch?“
Ja.
„Nein, bist du nicht. Jemand muss es machen.“
Ich verstehe rein gar nichts. Jossip ist aufgestanden und schreitet vor mir auf und ab, belauert mich. Sein Denken scheint sich mit meinem zu verknüpfen. Ist er in meinem Kopf?
„Was redest du da?“
„Von null auf hundert in wenigen Sekunden. Da kann schon mal eine Sicherung durchbrennen und das Gehirn abschalten.“
Hätte die Waffe doch nur noch Munition.
„Was redest du da, verdammt noch mal?“
„Einmal so, einmal so. Aber sich nie an den anderen Zustand erinnern. Oder erinnern wollen.“ Jetzt lacht er. Laut und boshaft.
Ich will mich auf ihn stürzen, ihn in Stücke reißen. Seine verdammten Goldzähne herausbrechen.
„Du miese Sau“, bringe ich zischend hervor.
Es wird kurz dunkel und Jossip ist verschwunden. Die Lichter gehen an und aus.
Ich höre Schüsse, stürme aus dem Abteil.
„Jossip.“
Ich sehe ihn im Gang laufen. Alles blinkt. Jemand kommt rechts neben mir aus einer Tür.
Im flackernden Licht sehe ich nur, dass es eine Frau ist. Sie lacht mich aus.
Meine Faust trifft sie mitten ins Gesicht, sie taumelt zurück ins Abteil.
Ich stürze ihr nach. Hat sie gelacht? Oder geweint?
Zwei Affen tanzen im Inneren. Kreischen herum. Ihre hohen Töne zerreißen fast mein Trommelfell.
Einen packe ich an der Gurgel, die Frau am Boden beginnt zu schreien. Kurz drehe ich mich und trete ihr ins Gesicht. Wimmern. Noch einmal, da knackst es und sie ist still.
Aber die beiden Affen (Affen?) kreischen noch lauter, als zuvor. Den einen hebe ich in die Höhe und würge ihn, damit er nur ja aufhört.
Das Gesicht. Baby?
Mein Gott...
Affe?
Ich lasse dieses Ding fallen und taumle aus dem Abteil. Ich halte mich am Rahmen fest.
„Hilfe“, schluchze ich.
„Siehst du“, sagt jemand und zerrt mich in den Gang.
Jossip. „Die haben nun wirklich nichts dafür können.“
Er tritt hinein und hebt seine Waffe. Das Silber glitzert beruhigend im flackernden Licht.
Der Schwarze (Mann?) drückt dreimal hintereinander ab.
Das Donnern bringt mir die Realität zurück. Welche Realität?
Stille tritt ein. Nur der Zug rumpelt leicht.
Ich krieche am Boden herum und weine. Jossip kommt wieder heraus und nimmt seinen Hut ab. Das Flackern macht mich krank.
Ich sehe zu dem Schwarzen auf. Sein Gesicht erscheint mir seltsam verzerrt. Mit der Linken holt er etwas aus seiner Jacke hervor. Sieht aus wie ein normaler Zettel. Er schaut kurz darauf, dann sagt er: „Gut.“
Nicht mehr und nicht weniger.
Er seufzt und geht den Gang entlang.
„Jossip“, hauche ich, aber er hört mich nicht.
Die Lichter gehen aus.
In der Dunkelheit wird geflüstert, gelacht und gestorben.
Ab und zu blitzt es weiter vorne, begleitet von einem Krachen.
Der Sensenmann ist da.
-Intermission, Pt. III-
Gabel links vom Teller, Messer rechts.
Wir haben feine Gesellschaft. Ein schön gedeckter Tisch. Neben mir sitzt eine junge Frau.
Von ihrem Gesicht tropft in regelmäßigen Abständen Blut auf die weiße Tischdecke und auf ihr Teller.
Aber sie führt ein gepflegtes Gespräch über Sinn und Unsinn von Liebe, von gescheiterten Beziehungen und unverhütetem Sex, den sie bereits hatte.
Auch ihr Gesprächspartner kommt mir bekannt vor. Ja doch, der junge Mann in seinem piekfeinen Anzug. Die grausame Wunde an seinem Hals zwingt ihn, in einem seltsamen Tonfall zu reden.
Ja, sie sitzen hier alle versammelt, sie lachen, trinken Wein und essen filetiertes Hähnchen.
Vier Männer. Zwei Frauen.
Sechs Tote.
Und ich.
Ich frage mich warum ich nicht gehe. Ich bin gefangen.
Einer der Männer steht auf und hebt sein Glas.
„Auf unseren Niemand, der uns ins Paradies geführt hat.“
Die anderen heben ihre Gläser und sagen im Chor: „Auf Niemand.“
Ich starre ins Leere, wünsche mich weg von diesem Ort. Wann hört es auf?
Die Frau neben mir tupft mir leicht auf die Schulter und flüstert: „Aufhören?“
Der Mann mit Regenschirm beugt sich über den Tisch zu mir hin. „Es...“
Der junge Mann im Anzug sieht mich mit funkelnden Augen an. „...beginnt...“
Frau mit zerschossenem Gesicht. „...doch...“
„...gerade...“ Der Mann im grauen Mantel.
Ein Ausländer: „...erst.“
Ich stehe auf. Ihre Gesichter werden von einem schwarzen Balken verdeckt. Alles dreht sich im Kreis. Sie beginnen zu singen.
„Gut ist nicht, wer keine Fehler macht, sondern wer sie schnell zu verbessern versteht.“
Im Chor. Überwältigend in Lautstärke und Intensität.
Dann gehen sie. Einer nach dem anderen, bis nur mehr die Frau mit dem gebrochenen Kopf da ist. Auch sie steht auf, schiebt ihren Sessel wieder hinein und beugt sich zu mir hin.
Ich rieche ihren fauligen Atem, was vielleicht auch daran liegt, das ihre Hirnmasse an manchen Stellen schwabbelig zwischen den Knochen hervorlugt. Ihr heiles Auge fixiert mich. Sie will mir eine Art Küsschen auf die Wange drücken, was aber misslingt, da ihre Kiefer in groteskem Winkel auseinander stehen und ihrem Willen nicht mehr richtig gehorchen, weshalb sie mir bei diesem Kuss beinahe in die Wange beißt.
Schließlich ist auch sie fort und ich sitze allein in diesem Saal, an diesem Tisch.
Wie lange noch?
-4-
Das laute Quietschen hat mich geweckt. Es dringt in mich ein und zerfräst mich regelrecht.
„Jossip.“ Ich schreie nach ihm, wie ein Kind nach seiner Mutter. Warum?
Ich rufe ihn noch einmal. Und noch einmal.
Wie einen Dämon, den man nur dadurch beschwört, dass man oft genug seinen Namen sagt. Am besten rückwärts.
Ich versuche es.
„Pissoj!“
Die Tür wird geöffnet und Jossip steht vor mir.
„Pissoj?“
Er hat sich verwandelt. Seine Jacke ist mit Blut besudelt. Er sieht wahrlich aus wie ein Dämon.
„Abgesehen davon, dass du leichte Probleme mit meinem Namen hast, ist sonst alles in Ordnung?“, fragt er mich.
Ich zucke mit den Schultern. Gleichzeitig fällt mir etwas auf. Die Landschaft zieht nicht mehr vorüber. Wir bleiben stehen.
Jossip errät meinen Denkweg, deutet meinen Blick richtig oder liest meine Gedanken.
„Wir müssen raus. Werden zu Fuß weitergehen.“
„Warum?“
„Weil der Zug niemanden mehr hat, der ihn fährt.“
„Du hast ...“
„Ja.“
„Alle?“, frage ich, während wieder dieses leichte Schwindelgefühl einsetzt, wie man es bekommt, wenn etwas eintritt, dass man nie erwarten würde.
„Alle“, sagt er.
Ich schüttle den Kopf und will Jossip schimpfen, etwas nach ihm werfen, aber ich mache nichts.
„Mein Gott, wie viele waren das nun, ich meine, ein Zug, alle tot? Das ist ... das ist ...“
„In diesem Falle essentiell gewesen. Außerdem war es ein Nachtzug. Es waren lediglich einundzwanzig Personen im Zug.“
Einundzwanzig Tote ...
„Was bist du?“, frage ich Jossip. Die Quietscherei hört auf, denn der Zug steht.
„Ich bin, was ich bin.“
„Ein Mörder.“
„Auch das. Nun, genau genommen würde ich mich nicht so bezeichnen, aber deine Engstirnigkeit lässt dir wohl keine andere Möglichkeit, mich so zu nennen.
Lass uns gehen.“
Jossip schiebt die Tür auf und geht hinaus. Langsam folge ich ihm. Im Mittelgang sieht alles fast normal aus.
Ich werfe einen Blick nach rechts, in ein Abteil. Die Vorhänge sind heruntergerissen, die Wände mit Blut bespritzt. Das Fenster zersplittert, rote Handabdrücke auf dem Glas.
Zwei oder drei Körper liegen auf dem Boden und quer über die Sitze.
Ich wende mich ab.
„Musste das sein?“ frage ich.
„Ja, aber ab jetzt müssen wir ein wenig vorsichtiger sein und uns unter Kontrolle halten.“
„Wir? Du bist doch derjenige, der ...“
Jossip dreht sich um, sein durchdringender Blick bohrt sich in mein Hirn. Er lächelt.
„Wir.“
Ich will ihm nicht mehr widersprechen, ich habe es satt. Irgendwo tief in mir drinnen formt sich der Gedanke, ihn bei Zeiten zu töten. Zuerst erschrickt er mich ein bisschen, dieser kaltblütige Denkvorgang, aber dann ist da nichts mehr.
Jossip ist bereits in den Sonnenschein hinausgetreten.
Ja, du verdammter Nigger, denke ich mir, deine Tage sind gezählt.
Nun bin ich es, der lächelt und etwas antwortet plötzlich. Eine Zustimmung.
Bald, sagt diese Stimme in mir drin.
Sehr bald ...
-5-
Die Sekunden kriechen nicht enden wollend dahin. Die Sonne, die in der letzten halben Stunde erst aufgegangen ist, brennt bereits fürchterlich auf der Haut. Meine Kleidung ist vom Schweiß durchnässt, ein ekliges Gefühl.
Jossip geht neben mir. Er hat schon lange nichts mehr gesagt; seit wir den Geisterzug verlassen haben, hat sich sein Gesicht in eine undurchsichtige Maske verwandelt.
Mir ist heiß.
Ich will die Stille brechen, herausfinden, was Jossip ist und vor allem, was er will.
Von mir. Der Welt. Den Menschen und den Toten. Oder was die Toten von mir wollen.
„Was bist du, Jossip?“
Schweigen.
„Was willst du hier?“
Er sieht mich an. „Warum tötest du diese Menschen? Was willst du von mir?“
„Alles nicht so einfach“, sagt er schließlich. „Ich muss es tun.“
„Aha, du musst.“
„Ja.“
„Und warum musst du?“
„Menschen atmen Luft.“
„Davon hab ich auch schon gehört.“
„Benötigen das Leben an sich.“
Ich bin verwirrt. „Wie?“
„Brauchen Energie.“
„Welche Energie? Sprich nicht in Rätseln.“
„Doch, mein guter Niemand, es ist nicht einfach, die Welt, nein, das ganze Universum besteht aus Energie...“
„Was für eine Energie denn?“
„Woher soll ich denn das wissen, verdammt noch mal? Eben eine Kraft, die dafür zuständig ist, dass es Leben gibt, dass sich die Erde um die Sonne dreht, Menschen benötigen diese Energie, wir alle brauchen sie. Die Pflanzen, die Tiere, die Toten und ich.“
„Was bist du?“
Jossip blickt mich an, sagt kurz nichts darauf, schüttelt dann den Kopf und sagt: „Unbestimmt. Es gibt keine wirkliche Definition von mir.“
„Bist du ein Art Engel, ein Todesengel?“
Jetzt lacht er. „Nein, das bestimmt nicht. Ich komme nicht aus dem Himmel, nicht aus der Hölle. Sieh es von der Seite, dass ohne dieser Energie nichts geht. Ich bin zu einem Teil aus ihr.“
„Und warum tötest du all diese Menschen?“
„Das hab ich dir bereits gesagt; ihr nehmt diese wertvolle Energie schneller, als sie sich regenerieren kann, besonders dann, wenn ihr zu zahlreich auf dieser Welt seid. Deshalb gibt es uns. Wir sind ... wie würdet ihr es sagen? Die Polizisten, die Wächter dieser Energien. Wir haben den Auftrag, dafür zu sorgen, dass ausreichend Energie zur Verfügung steht.“
„Wir? Du willst mir sagen, dass du nicht der Einzige bist?“
„Nein, bei weitem nicht.“
Schwachsinn, Gebrabbel eines Irrsinnigen, das Jossip erzählt. Die beste Ausrede, dich ich je für Massenmord gehört habe.
Wir gehen wieder schweigend nebeneinander. Nirgendwo zwitschern Vögel. Es erscheint mir seltsam, weil wir entlang eines Waldes gehen. Ich bin mir sicher, dass es wegen Jossip ist. Er tötet oder vertreibt alles Lebende.
Außer mich.
Warum ich?
Der Feldweg führt uns weiter irgendwohin, diese ländliche Gegend ist mir gänzlich unbekannt, aber es scheint so, als ob Jossip sich gut auskennen würde. Seine Zielstrebigkeit deutet zumindest darauf hinzudeuten. Aber vielleicht folgt er auch nur dem Weg.
„Was ist denn nun der Job, von dem du im Zug gesprochen hast“, frage ich ihn, um diese Stille zu brechen, die Einzug gehalten hat.
„Ich habe von einem Job gesprochen?“
„Ja, du hast zwei Jobs zu erledigen. Im Osten. Hast du gesagt.“
„Oh.“ Er lacht. „Genau, nun ja, bist du dabei?“
„Sieht wohl so aus“, sage ich, nicht ohne einen boshaften Unterton, „immerhin bin ich sowieso in der Gewalt eines wahnsinnigen Mörders, also was bleibt mir schon für eine andere Wahl?“
Jossip verzieht seinen Mund. Dabei entblößt er seine Goldzähne und ich habe wieder dieses Gefühl, als müsste ich sie ihm ausschlagen.
„Also worum geht’s?“ Habe ich wirklich keine andere Wahl?
„Wir müssen einen Menschen töten.“
„Tust du das nicht die ganze Zeit?“
„Ja, aber dieser Eine ist was Besonderes. Eine Art Gehilfe von mir.“
„Du hast einen Gehilfen?“
Jossip nickt.
„Stehst du bei den Stellenanzeigen in der Zeitung oder was?“
„Nein, natürlich nicht.“ Er seufzt. „Es war eine Begegnung, so wie bei dir. Und ich brauchte Hilfe. Wie bei dir.“
„Wieso brauchst gerade du Hilfe, du bist doch ach so toll.“
Jossip übergeht meine Bemerkung. „Es ist anstrengend, überall seinen Job erledigen zu müssen. Hilfe ist immer gut. Spart Zeit und Kraft.“
„Klar. Und jetzt willst du deinen Gehilfen töten?“
„Ja.“
„Und warum das?“
„Er ist übereifrig geworden. Nutzt Dinge aus, die ich ihm gegeben habe. Er tötet zu viele Menschen.“
„Das gibt’s also auch.“
„Ja, darauf müssen wir einen Blick haben. Ohne Menschen gibt es diese Energie nicht.“
„Also produzieren wir sie auch noch ... diese Kraft, wir verbrauchen sie also nicht nur?“
„Genau.“
„Sehr kompliziert.“
„Das Leben ist nicht einfach.“
Irgendwie seltsam, ein eiskalter Killer, der sein Tun als vollkommen normal ansieht, erzählt mir, dass das Leben nicht einfach ist.
Wie überraschend alles sein kann.
„Und nachdem wir deinen Gehilfen getötet haben?“, frage ich.
„Dann werden wir auf den Plan sehen und vielleicht noch jemanden richten.“
Wut.
„Aha, auf den Plan also. Dein ganzes Gerede ... du bist nur ein gottverdammter Mörder.“
„Sind wir das nicht alle?“, und seine Zähne glitzern wieder um die Wette, als sich sein Mund zu einem Lachen öffnet.
-Intermission, Pt. IV-
Ich gehe durch den Zug. Das Licht ist aus, ich fühle nur die leichte Bewegung des Wagons. In der Dunkelheit höre ich leise Stimmen. Etwas streift mich an meinem rechten Bein. Nur flüchtig, aber ein brennender Schmerz wallt genau dort auf und gräbt sich in mein Fleisch.
Ich höre schrilles Gekreische ... stilles Weinen.
Hallo?
Hier ist nichts, sagen sich kleine Kinder, wenn sie bei Nacht Angst bekommen. Nur ist hier etwas.
Der Zugbegleiter kündigt die letzte Station vor der Hölle an.
Bitte Aussteigen.
Oder fahrt zur Hölle.
Das Licht geht an. Besser, es wäre aus geblieben.
Der Gang ist rot. Die Farbe dominiert an den Wänden, der Decke und dem Boden. Hier und da liegt etwas in diesem See aus Blut. Menschliche Körperteile.
Organe.
Verklebte Haare. Patronenhülsen.
Hautfetzen. Deformierte Projektile.
Ein Abteil zu meiner Rechten geht auf. Kreischen.
Hinter mir, vor mir, über mir.
Ein Baby krabbelt aus dem Abteil. Die Hälfte seines Schädels fehlt. Aber die hässliche Fratze lächelt trotzdem.
Ich spüre wieder diesen brennenden Schmerz an meinem Fuß und sehe hinunter. Ein zweites Baby. Auch dieses Lachen, mit dem Kinder dein Herz erobern, weil ihr eigenes aufgehört hat zu schlagen. Seine Bauchdecke ist eine einzige, große Wunde. Es zieht an meiner Hose, seine Hände fressen sich durch den Stoff, verbrühen meine Haut. Aber trotzdem fast schmerzlos.
Ich bin ja schuld.
Ich sehe nach vorn. Das erste Baby ist dabei, die Wand hinaufzuklettern, aber die kleinen Händchen rutschen am Blut weg und der Schädel knallt dabei immer wieder gegen das Hindernis.
Ich spüre einen leichten Lufthauch und eine Frau kommt aus dem Abteil vor mir. Ihre weiße Bluse ist rot; die Wunde in ihrer Brust klafft im Kontrast hervor.
„Adrian, lass unseren Erlöser in Ruhe.“ Ihre Stimme gurgelt leicht.
Dieses Ding an meinem Fuß lässt von mir ab und krabbelt weg.
Ich sehe ihm nur kurz nach und als ich den Blick wieder geradeaus wende, steht die Frau genau vor mir. Sie hat ein hübsches Gesicht, auch wenn ihr das nicht mehr viel helfen wird.
Ihr Atem streift meine Haut.
„Du wirst uns doch erlösen, oder?“
Ich weiß bei Gott nicht, was sie meint.
Ein Gewicht legt sich auf meine Schultern. Jemand hat seine Hand um mich gelegt.
„Doch, Niemand, du weißt schon recht. Komm, das bist du uns schuldig, ich meine, sieh uns an.“
Er ist es wieder. Der Mann im grauen Mantel.
Alle Abteile öffnen sich.
Da treten sie hinaus. Die Toten.
Der Mann schüttelt mich leicht durch, wie einen Kumpel, dem er etwas Witziges sagt und der auf die Pointe nicht reagiert.
„Der Zug fährt nicht in den Himmel oder in die Hölle“, sagt er.
„Dieser Zug bringt uns dorthin, wo sie uns brauchen“, sagt er.
„Und du hast ihnen geholfen“, sagt sie.
„DU!“, sagen sie.
„Erlöse uns und du wirst ewig leben.“
„Bitte.“
Sie verschwinden wieder.
Alle. Nur der Mann hält mich noch eine Weile umklammert, bis auch er beginnt, sich aufzulösen. Er drückt mich noch einmal kurz und sagt: „Mach das Beste draus“, dann ist er weg.
Es wird kurz dunkel und wieder hell. Jemand stupst mich von hinten an.
„Ihre Fahrkarte bitte.“
Ich drehe mich um. Ein Schaffner ohne Kopf.
„Ihre Fahrkarte.“
Aber ich hab doch keine.
„Ein Schwarzfahrer?“
Irgendwo weinen die Toten.
Ich werde gepackt und gegen die Tür gestoßen. „Hab ich mir's doch gedacht, verdammtes Pack.“
Er öffnet die Tür und ein eiskalter Wind schlägt mir ins Gesicht, ich bekomme keine Luft mehr. Die Landschaft rauscht an mir vorbei.
„Keine Karte, keine Fahrt.“
Ich bekomme einen Schlag in den Rücken, der mir die Luft aus den Lungen presst und dann stürze ich in die vorbeiziehende Nacht.
-6-
Wir sitzen in einem 24 Stunden Laden einer Tankstelle, essen Sandwichs und trinken eine Dose Cola dazu. Alles im Angebot natürlich. Bei dem Geschmack des Schinkens erklärt sich der niedrige Preis von selbst.
Aber der Hunger ist auch so groß, dass ich mir darum keine Sorgen mache, ob das Verfallsdatum dieses Essens wohl schon überschritten ist. Ich esse einfach.
Jossip sieht mir zu. Er hat nur zwei Bissen gemacht. Sein goldenes Kreuz glitzert im Licht der Neonlampe über unseren Köpfen.
Zuerst ist er gar nicht mit in den Shop gegangen, sondern hat die Toilette auf der Rückseite der Tankstelle besucht. Ich hoffe, dass die Putzfrau noch lebt.
Jossip hat sich waschen müssen, natürlich. Selbst als menschenmordender Energiekrieger kann man sich nicht voll Blut in die Öffentlichkeit wagen. Zumal er sich bei der Beschaffung eines Transportmittels wieder einmal dreckig gemacht hat.
Das Auto hatte einen Lackschaden – uns ist das egal gewesen, und dem Besitzer wird das auch nicht mehr interessieren.
Ganz einfach.
Der Schlaf hat mir gut getan. So wie jetzt das Essen.
Jossip ist ein schlechter Autofahrer.
„Sag mal, schmeckt dir das Zeug?“, fragt er, nachdem er mir einige Minuten beim Kauen zugesehen hat.
„Nein.“
„Aber du isst es trotzdem?“
„Ja, ich hab Hunger.“
„Aber das wird dir sicher nicht gut bekommen, würde mich nicht wundern, wenn du davon irgendeine Krankheit kriegst.“
„Sag mal, bist jetzt nicht nur ein Killer und Schützer der Energie, sondern auch eine Art Ernährungsberater? Tu mir den Gefallen und stirb einfach.“
„Wenn das so leicht ginge“, seufzt er und nimmt einen Schluck von seinem Coke.
Kurz liegt mir ein: ‚das wirst du schon noch sehen’ auf der Zunge, aber ich lasse es bleiben. Soll er mich doch einmal kreuzweise.
Draußen ist es bald wieder dunkel. Wir bewegen uns in einer Grauzone.
Alles erscheint mir unrealistisch. Ein Traum, der nicht enden will. Ich weiß nicht, wo wir sind. Wälder, weite Felder und diese Tankstelle, mitten im Nirgendwo.
Ich schlucke den letzten Bissen hinunter, spüle den Rest der Cola nach und knalle die Dose auf den Tisch.
„Und jetzt? Wann sind wir bei diesem Irren?“, frage ich.
„Er ist in der Nähe, ich kann ihn spüren. Schwach, aber ich kann es.“
„Dann lass uns gehen.“
„Du hast recht“, sagt Jossip und steht auf. „Wird Zeit, das Ganze hinter uns zu bringen.“
Wir verlassen den Laden und steigen draußen ins Auto ein. Jossip fährt wieder.
Ich spüre ein leichtes Ziehen im Bauch. Der Wind weht Staubkörner an die Windschutzscheibe.
Wir fahren den Highway Richtung Osten. Jossip sagt das. Er muss es wissen.
„Die Toten sprechen mit mir“, sage ich dann.
„So? Was sagen Sie denn?“
„Ich bin der Erlöser.“
Jossip lacht laut auf. „Der Erlöser? Von denen? Lass dir keinen Quatsch einreden, sie sind eben nicht begeistert, dass sie gestorben sind, das ist alles.“
So einfach ist das, wie?
„Sie sagen, dass ihr sie verschleppt.“
Jossip schüttelt den Kopf. „Hör mir zu, Niemand. Natürlich werden sie verschleppt, sie können nicht dort verweilen, wo sie gestorben sind. Das wäre Energieverschwendung. Für das Gleichgewicht müssen sie dorthin gebracht werden, wo sie gebraucht werden.“
„Wo ihr sie braucht.“
„Ja. Wir stellen das Gleichgewicht her. Die Toten und die Lebenden. Die Energieknoten. Es ist nicht so einfach, wie es sich anhört.“
Lügen die Toten?
Ich starre Jossip an, will in ihn hineinsehen, seine Gedanken lesen, ihn töten.
„Ich weiß“, sagt er plötzlich und mir wird kalt.
„Ich weiß, aber du wirst es noch sehen. Das wirst du.“
-7-
Wenn mich wer fragen würde, wo wir sind, würde ich antworten: im Osten.
Und wir stehen vor einer alten Lagerhalle, die wohl schon ein oder zweimal abgebrannt ist. Die Wände sind mit Ruß überzogen, als Dach dient nur mehr das Gerippe aus verkohlten Gestängen, die sich wie flehende Arme in den Himmel recken. Der perfekte Ort um das Ende zu zelebrieren. Ein Ort, wie geschaffen für Jossip.
Der Regen hat vor einer Stunde begonnen und ist auch nicht schwächer geworden. Aber er stört nicht mehr. Jetzt nicht. Ich frage mich wieder einmal, was ich hier eigentlich mache und wozu, aber nichts in mir oder um mich herum kann mir eine vernünftige Antwort geben. Diese Odyssee, nimmt sie hier ihr Ende? Ein neuer Anfang, hätte Jossip gesagt.
Er steht vor mir und wartet. Ob er die Lage prüft, den Regen genießt oder sich das Mauerwerk ansieht, kann ich nicht sagen. Da dreht er sich um und sieht mir in die Augen.
„Er ist hier.“
Ich nicke nur. Was soll ich sonst tun?
Jossip geht voraus. Er wirkt angespannt, so habe ich ihn noch nie gesehen. Seine Überheblichkeit ist wie weggeblasen. Hat er Angst? Unser Weg führt über den gebrochenen Beton, in dessen Ritzen sich bereits das Wasser sammelt, hinüber zu den Schutthaufen, neben denen ich eine Tür erkennen kann. Der Schwarze steuert auf diese zu und als wir bei ihr ankommen hält er kurz an. Jossip holt etwas aus seiner Jacke hervor und reicht es mir.
Eine Pistole. Er weiß zu überraschen.
„Du weißt, was du zu tun hast.“
Ist er endgültig verrückt geworden? Er sagt nur das und nicht mehr – nicht weniger. Spürt Jossip denn nicht, dass ich ihn töten werde, sobald er sich mir den Rücken länger zuwendet? Kann ich ihn etwa nicht verletzen? Noch während ich in Gedanken bin, öffnet Jossip die Tür und tritt ein.
Die Wände im Inneren sind schwarz und voll von Löchern. Eine alte, rostige Eisentreppe führt tiefer hinein. Irgendwo in die Schwärze. Es regnet hinein. Die Tropfen verschwinden in der Finsternis und ich spüre, dass wir auch dort unten verschwinden werden. Vielleicht für immer.
Und ich habe Angst, als dummer Mensch zu sterben. Nicht zu wissen, was hier eigentlich los ist. Ich muss mit Jossip reden, muss -, aber er ist schon auf der Treppe, die unter seinem Gewicht ächzt. Der Weg führt hinunter. Ohne ein zurück. Ich weiß das. Und Jossip auch. Ich umklammere die Waffe halte ein paar Schritte Abstand und folge seinem Schatten. Der Killer muss wissen, dass wir hier sind. Die Stiege lärmt gewaltig. Jossip scheint das nicht zu interessieren, er wird sogar schneller.
Irgendwann erreichen wir den Boden und als ich unten ankomme, sehe ich einen fahlen Lichtschein. Jossip tritt in diesen kahlen Raum und hinterlässt dabei Wassertropfen auf dem Boden. Hier unten ist es trocken. Das Licht kommt von mehreren Fackeln, die in Behältern aufgestellt sind. Ein halb verfaulter, komplett schiefer Tisch steht in der Mitte und neben ihm ein alter, ausgefranster Polstersessel. In der Ecke des Raumes sind ein Plastiksäcke und Decken zu einem kleinen Lager zusammengelegt worden. Ein Mensch hält sich darunter versteckt. Ein großes Loch ist in der Wand daneben. Der Weg in einen anderen Bereich.
Jossip stellt sich in den Raum und wartet wieder. Ich bin noch im Dunkeln vor der Treppe, aber hinter ihm.
Er sagt: „Jimmy“, und schüttelt den Kopf.
Er sagt: „Jimmy, Jimmy, Jimmy. Wie endet das nun wohl, hm? Ich habe dich doch gewarnt, oder? Hab ich doch.“
Die Gestalt unter den Laken bewegt sich nicht. Jossip holt eine weitere Pistole aus seiner Jacke hervor. Das Licht wird in dem makellosen Silber glitzernd widergespiegelt.
„Du redest nicht mehr viel, stimmt’s?“ Er entsichert die Waffe und in der Stille scheint das Geräusch endlos nachzuhallen. Weit weg regnet es noch.
Jossip macht noch einen Schritt auf das provisorische Lager zu und hebt seine Pistole.
„Wirst du in Zukunft auch nicht mehr“, sagt er und drückt ab.
Der Schuss donnert in diesem kleinen Raum wie ein Artilleriefeuer und im ersten Moment glaube ich, taub zu sein.
Schritt. Blam!
Schritt. Blam!
Jossip steht vor dem Lager und betrachtet sein Werk. Drei Löcher sind in die zahlreichen Decken gerissen worden. Und mit Garantie auch in den Körper darunter.
Der Schwarze beugt sich zu den Fetzen und ich schwöre, ich habe ihn nicht gesehen. Diesen Schatten, der sich aus dem Gebälk der Decke gelöst hat. Ich hätte Jossip gewarnt, ich bin mir sicher, aber so sehe ich nur zu, wie er zu Boden gerissen wird. Und jemand klopft mir auf die Schulter. Der Mann im grauen Mantel steht neben mir. Sein Blut tropft auf den Boden; wann er wohl leer ist? Er lächelt und er deutet nach vorn.
Träume ich?
„Deine Chance, Tiger.“
Jossip liegt am Boden, in der Hand des Fremden glitzert etwas auf. Ich kann erahnen was es ist, denn es saust in Jossips Körper und kommt in rot wieder heraus. Der Schwarze stöhnt auf. Wo ist nur seine Waffe?
„Du kannst sie beide abräumen – und uns damit retten.“
Sie sind wieder da. Alle. Hinter mir, vor mir. Neben dem Tisch, in den Ecken.
Die Toten. Sie sehen mich an. Warten auf meine Hilfe.
Ich muss ihnen helfen. Ich muss.
Jossip schreit auf. Seltsam. Er war doch so stark.
Der Angreifer hat ihm das Messer in der Brustkorb gerammt, hebt ihn damit auf und schleudert ihn gegen die Wand. Die beiden Goldzähne glitzern nicht mehr, sie sind rot vom Blut. Seine Selbstsicherheit – dahin.
Der Fremde nimmt Jossips Waffe und im selben Moment fühle ich, wie meine Hand nach oben gedrückt wird. Wie in Trance sehe ich, wie mir die Toten zublinzeln. Ich hebe die Pistole. Der Mann im grauen Mantel nickt nur und deutet auf den Angreifer.
Ich drücke ab. Die Kugel trifft den Fremden in den Nacken und köpft ihn fast. Ein gurgelnder Laut kommt über seine Lippen und sein Körper beginnt wie in Ekstase zu zittern.
Die Toten applaudieren und lachen.
Irgendwie reißt der Mann den Kopf zu mir herum, sieht mich aus aufgerissenen Augen an – und dann klappt sein Hals einfach zur Seite. Ein Blutstrom schießt aus der Wunde hervor. Er dreht sich weiter, stürzt auf den Tisch, der sofort einbricht.
Dann ist Ruhe. Nur seine Füße zucken noch.
Jossip hat sich aufgerafft. Seine Hände umklammern seinen Körper. Er sieht mich an.
Der Mann im grauen Mantel sagt: „Und noch einer.“ Er lächelt dabei.
Die Verstorbenen nicken mir aufmunternd zu.
Und Jossip sagt: „Danke.“ Seine Stimme ist brüchig. Schwach.
Er lehnt sich an die Mauer. Atmet hörbar ein und aus. Ich hebe wieder die Waffe.
„Ein Trick ... eine Falle.“
Dann:
„Ende. Komm schon, du weißt, was du zu tun hast.“
„Was kommt danach?“, frage ich.
„Was wohl?“, keucht Jossip und bückt sich in einer fließenden Bewegung, um seine Waffe aufzuheben.
Der erste Schuss sitzt und wirft den Schwarzen zurück. Er prallt gegen die Wand und ich drücke wieder ab und noch einmal. Jossip wird herumgeworfen, seine Arme schleudert er wie eine Spielzeugpuppe herum, sein Gesicht verzerrt sich vor Schmerz, sein Blut beschmutzt den Boden und die Wand.
Nach dem elften Mal macht es nur mehr klick und Jossip muss nicht mehr tanzen. Langsam rutscht er an der Mauer herab und zieht dabei eine dunkelrote Spur mit sich. Sein Körper sitzt auf den Boden auf. Langsam, während er mir tief in die Augen schaut, kippt er zur Seite und bleibt liegen.
Ich senke die Waffe. Endlich aus. Ich sehe den Mann im grauen Mantel an. Er lächelt nicht. Die Toten sehen mich an. Jossip sieht mich an.
Was ist los?
Der Mund des Schwarzen öffnet sich noch einmal; ein Schwall von Blut bricht daraus hervor, dann sagt er noch einmal: „Danke“, und pfeifend verabschiedet sich sein letzter Atemzug.
Aber niemand jubelt, niemand lacht. Die Gesichter der Verblichenen ziehen sich erschrocken zusammen. Dann schreien sie. Intensiv und hoch, ohrenbetäubend. Mir wird schlecht, ich krampfe mich zusammen, die Pistole entgleitet meinen Fingern. Das Geschrei dringt durch mich durch, zerfetzt mein Gehirn und als alles vorbei ist, gibt es niemanden mehr, der im Raum ist. Nur die beiden Leichen liegen noch an ihren Plätzen. Ich blicke mich um und das Summen in meinen Ohren wird nur sehr langsam schwächer.
„Sie haben die Wahrheit erkannt“, sagt jemand, obwohl ich keinen entdecken kann.
Lachen.
„So wie du sie gleich erkennen wirst. Du warst ein Niemand, aber das hat sich geändert.“
„Wer ist da?“, frage ich, obschon ich die Stimme erkannt habe.
Eine Gestalt tritt aus dem Loch in der Wand hervor. Ungewohnt bleich und doch – es ist Jossip.
Er lächelt mich an. Seine Goldzähen blitzen wie eh und je. Er geht zu seiner Leiche und nimmt etwas aus ihrer Manteltasche. Dann kommt er auf mich zu. Jossip gibt mir ein Blatt Papier und als ich es öffne, sehe ich eine Liste. Soll und Haben. Mit Strichen. Er schmunzelt immer noch.
Auf der linken Seite fehlt etwas. Ich blicke ihm in die Augen und erkenne. Seine Hand fährt über das Papier und zwei Striche erscheinen auf der Soll Seite.
„Wir haben Soll – Haben Gleichheit“, sagt Jossip leise und alles wird anders.
-Outro-
Die Tage vergehen und ich merke nichts davon. Für mich ist einer wie der andere. Alles das Gleiche. Ich weiß jetzt, warum Jossip sterben wollte.
Hier gibt es nichts, was mir Freude bereitet. Ich erkenne keine Gesichter. die Farben sind verblasst – für immer.
Jossip hat einen Nachfolger gebraucht, damit das Gleichgewicht bestehen bleibt. Er hat ihn gefunden. In einem Niemand, wie es nun auch für mich alle sind. So einfach ist das. So brutal. Ich gehe durch die Gassen und Straßen – ich lebe, ohne wirklich zu leben. Ab und zu töte ich. Das gehört nun zu meiner Aufgabe.
Mein Gebiet. Ich muss aufpassen. Aufmerksam sein.
Nur nicht zu viele.
Ich habe eine neue Liste.