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Thema des Monats Der Weise

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Beitritt
01.06.2005
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Der Weise

Weit im Süden mündete der große Fluss in ein Binnenmeer, welches das graue Meer genannt wurde. Das Ufer fiel dort in einer steilen Klippe aus weißer Kreide zum Wasser ab. Am höchsten Punkt dieser Klippen stand der Schrein des Weisen, und Menschen von weit her, manche von jenseits des Nordwaldes, suchten hier seinen Rat.
An der Mündung des Flusses lag eine kleine Stadt grauer Holzhäuser, die stets der Nebel vom Meer umhüllte.

Hierher verschlug es den Langen Mann auf seiner Reise.
Als er die Stadt betrat, beäugten ihn die Menschen misstrauisch, denn seine Kleider waren zerlumpt, und sein Haar und Bart hingen lang und strähnig herab. Doch trug er einiges Geld bei sich, und so gab ein glücklicher Zufall, dass er Obdach im Haus des Kunstschmiedes fand, eines freundlichen Mannes, der in der Sprache des Langen Mannes den Klang der Nordleute seiner alten Heimat erkannte.
"Wie ist Euer Name?", wollte der Kunstschmied von ihm wissen.
"Man nennt mich ... Kineas", antwortete der Lange Mann, denn er wollte nicht mehr, dass man ihn erkannte.
Der Kunstschmied lud ihn ein, mit ihm zu speisen. Er erzählte viel von der Stadt und dem grauen Meer.
So hörte der Lange Mann vom Schrein des Weisen und beschloss, diesen aufzusuchen.

In der Vorhalle des Schreins stand ein Wächter.
"Ihr könnt nicht hinein", sagte er zum Langen Mann. "Der Weise empfängt gerade Ratsuchende."
"Auch ich bin ratsuchend", gab der Lange Mann zur Antwort.
"So wartet hier, bis der Weise Zeit für Euch findet."

Wenig später verließ ein junges Paar den inneren Raum, und kam am Langen Mann vorbei. Das Gesicht der Frau war vom Weinen gerötet, doch ein Schimmer wie von neuer Hoffnung lag in ihren Augen.
"Habt Ihr erfahren, was Ihr zu wissen begehrtet?", fragte der Wächter.
Das bejahten die Leute froh, und gaben dem Wächter Geld zur Erhaltung des Schreins. Da war dem Lange Mann, als könne auch seine Sehnsucht sich hier erfüllen.

Nun wurde der Lange Mann eingelassen. Er durchschritt ein schweres Tor, hinter dem sich eine Reihe weiterer Kammern befand, jede mit einem kleineren Tor dahinter, bis er schließlich hinter der vierten Pforte einen kargen Raum fand. Inmitten dieses Zimmers saß der Weise auf einer einfachen Decke aus Leinen.
Der Lange Mann nahm vor ihm Platz, und der Wächter verschwand. Dort waren sie allein. Die umgebenden Räume hielten jedes Geräusch fern.
Der Weise schien sehr alt zu sein. Seine Augen waren trübe Spiegel, erblindet mit der Zeit. Er saß gebeugt und summte leise vor sich hin.
"Weiser", begann der Lange Mann, "einen Weisen nennen viele auch mich, andere halten mich jedoch für verrückt. Ich bin der Lange Mann, meinen richtigen Namen habe ich abgelegt, als ich mit meinem Meister aus den Klöstern des fernen Ostens zurückkehrte, und er mich hieß, herumzureisen und den Menschen zu bringen, was ich gelernt hatte.
Der Meister stellte mir die Aufgabe, die letzten Dinge zu lernen, um dann zu ihm zurückzukehren." Die Augen des Langen Mannes verschleierten sich bei diesen Worten. "Wie ich ihn vermisse! Denn ich fühle mich allein, und bedarf doch selbst so sehr eines Rates!"
Der Weise saß vor ihm und hielt die blinden Augen auf ihn gerichtet. Aber er sagte nichts.
"Ich befreite eine Frau von einer ungerechten Anklage, doch meine Offenbarung brachte mir nur den Hass meiner Mitmenschen ein. Ich zeigte ihnen die Widersinnigkeit ihrer Regeln, doch sie verstanden nicht und hielten nur an noch widersinnigeren Gebräuchen fest. Und ich legte ihre Fesseln an die Bestimmung bloß, doch sie verlachten mich und jagten mich erneut in den Wald. Ich zeigte ihnen die Dumpfheit ihrer Kunst, doch sie erfreuten sich daran. Und meine Belege für die Falschheit ihrer Götzen mehrten ihre Verehrung nur." Hier brach seine Stimme. "Schlimmere Dinge geschahen, viele starben. Und auch wenn ich nicht daran schuldig gesprochen werden kann, so konnte ich trotz all meines Wissens nichts davon verhindern."
Der Weise aber saß nur still da, während der Lange Mann Tränen vergoss.
Schließlich stand der Lange Mann auf und verließ die Kammer, betrübt, keine Antwort erhalten zu haben.
"Habt Ihr erfahren, was Ihr zu wissen begehrtet?", fragte der Wächter auch ihn.
Der Lange Mann schüttelte den Kopf.
"So kommt wieder", sagte der Wächter. "Manche suchen den Weisen zweimal oder dreimal auf, bevor sie Einsicht erhalten."

So kam der Lange Mann am folgenden Tag zurück. Diesmal musste er warten, bis eine alte Frau, deren Gesicht von einer schlimmen Krankheit entstellt war, aus dem inneren Raum zurückkehrte. Auch sie trug die Hoffnung in den Augen.

Als der Lange Mann vor dem Weisen saß, bat er ihn wieder um seinen Rat.
"Weiser", sagte er, "wenn ihr mir nur sagen könnt, wie ihr den Menschen helft, dann kann auch ich vielleicht wieder hoffen. Denn ich möchte nichts mehr, als mit meinem Wissen Gutes tun, und so die letzten Dinge erlernen."
Der Weise summte leise, doch gab er keine Antwort.
Da musste der Lange Mann dem Wächter erneut gestehen, dass er keine Antwort erhalten habe. Er versprach aber, zurückzukehren, denn in ihm regte sich ein Verdacht.

Nun traf der Lange Mann Vorbereitungen. Er gab dem Kunstschmied einen Teil seines Geldes, damit dieser eine bestimmte Gerätschaft für ihn anfertigte.
Es brauchte zwei Wochen, bis dies zur Zufriedenheit des Langen Mannes erledigt war.
Mit diesem Apparat in seinem Gewand verborgen, kehrte er in den Schrein zurück. Diesmal durfte er sofort eintreten.

Vor dem Weisen sitzend, sprach er diesmal kein Wort, sondern zog die Pistole, die der Kunstschmied ihm gefertigt hatte, und hielt sie dem Weisen vor. Dieser zeigte keine Regung, denn er war blind.
Dann feuerte der Lange Mann einen Schuss ab. Es knallte ohrenbetäubend in der kleinen Kammer. Für einen Moment war der Lange Mann sich nicht gewiss, ob der Krach nicht vom Wächter gehört worden war, doch es blieb alles ruhig.
Der Weise saß unbewegt vor ihm. Er hatte nichts gesehen, und er hatte den Pulverschuss nicht gehört, denn er war vollständig taub.
Da lächelte der Lange Mann, und Hoffnung zeigte sich in seinen Augen.

"Habt Ihr erfahren, was Ihr zu wissen begehrtet?", fragte der Wächter, als er herauskam.
"Das habe ich, habt vielen Dank", antwortete der Lange Mann. Er gab dem Wächter einen Teil seines Geldes. Dann ging er, um seine Reise entlang des grauen Meeres nach Westen fortzusetzen.

 

Hi Naut!

Die Erlebnisse des Langen Mannes sind immer wieder schön zu lesen, auch wenn gerade in dieser Episode recht wenig passiert.
Die Story ist geschickt aufgebaut (wobei ich nicht weiß, ob ein Kunstschmied Waffenschmied sein kann), überhaupt scheinen die zwei Wochen zur Waffenherstellung etwas unnötig, Taubheit lässt sich einfacher testen, seltsam, dass der Wärter nichts hören soll. So ein Schrein ist nicht so groß.

Der lange Mann sucht nach hilfreicher Erkenntnis, doch die erhaltene Erkenntnis ist etwas Unerwartetes: Er lernt nicht wie seine speziellen Probleme gelöst werden, sondern wie Probleme an sich gelöst werden können - einfach durch Zuhören, das sich Sammeln beim Erzählen, ein interessanter Gedanke.

- Pol

 

Hi Polaris,

danke für Deine interessanten Anmerkungen. Der Schrein hat ja mehrere Türen, die sollen so gebaut sein, dass er recht schalldicht ist. Vielleicht sollte ich das noch klarer machen.
In einer frühindustriellen Gesellschaft scheinen mir zwei Wochen zur Herstellung der Waffe angemessen, eher noch zu wenig.

Nochmals danke fürs Lesen!
Naut

 

Hi Naut!

Mit dem Schmied hast du wohl Recht, grad weil´s ein Kunstschmied ist, der hat keine vorgefertigten Teile.
Der Schrein macht mir Probleme, weil ich an Kästchen (Reliquienschrein) denken musste. Gibt zwar auch den Shinto-Schrein, weiß nicht, ob da ein Weiser sitzt, er dient der Götter- oder Totenverehrung.

Soll der Mann seine Entdeckung verraten? Bedenkenswerter moralischer Aspekt.

-Pol.

 

Hey Polaris,

ich dachte da an den "small shrine" aus der Wilderness vor Skara Brae im dritten Teil von "The Bard's Tale". Na ja, Kindheitserinnerungen ... :)

Viele Grüße,
Naut

 

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