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Der Westwind
Es war unangenehm auf der metallenen Bank zu sitzen, denn sie fühlte sich hart und kalt an, noch kälter, als es eh schon war. Und so fror er mehr als es hätte sein müssen. Doch das war immer noch besser als stehend auf den Zug zu warten.
Kein Grund zu klagen also.
Als er dem Himmel entgegen sah, erkannte er nur schwach die grauen Wolken in der Abenddämmerung. Ein scheiß Wetter, zweifellos.
Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder nach vorne und schaute sich kurz um. Sein flüchtiger Blick, fing die Gestalten einiger Personen auf- es waren nur wenige. Wie viele es waren konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Wie bereits erwähnt, es war nur ein flüchtiger Blick gewesen und es spielte auch irgendwie keine Rolle für ihn. All ihre Leben waren doch letztendlich unbedeutend. Diese Menschen in ihrer kleinen Welt, arbeiteten in ihren kleinen Gefängnissen, die sie für sich selbst erbaut hatten. Jeden Tag. Und auf welches Ziel steuerten sie zu? Eine Reise, ein Auto, eine Wohnung, vielleicht auch sogar ein Haus, das ihnen Wohlstand bescheinigte. Und dann sterben sie. Werden vergessen. Waren nie da. Sind nie gewesen. War es, dass Wert? Für sie schon. Für ihn aber nicht und auf seltsamerweise bewunderte er diese Menschen dafür, die sich ihre Ziele so niedrig setzten konnten, so greifbar, dass sie auch irgendwann zu erreichen waren. Aber was heißt schon leicht.
Jedenfalls konnte er nicht. Zu viele Barrieren hatten sich ihm in den Weg gestellt. Die meisten stammten von ihm selbst. Es war einfach nicht seine Bestimmung gewesen, mehr zu sein als er jetzt war. Die Zweifel waren groß und er hatten ihnen nichts entgegenzusetzen.
Ein Rauschen näherte sich. Ganz leise aus der Ferne. Es kam von Westen her. Nach und nach wurde es lauter und er stand auf, um nachzusehen. Ein Zug zischte an ihm vorbei, der einen kräftigen Windstoß im Schlepptau hatte. Die Luft stieß ihm an seine Wange. Eine eisige Kälte fühlte er, dennoch war es nicht unangenehm. Ganz im Gegenteil, er drehte sich zu ihm hin, ließ ihn gewähren. Den Westwind.
Denn er spürte etwas, das er längst vergessen hatte. Er fühlte sich stark, ganz euphorisch und vor allem lebendig. Er hatte den Eindruck, als ob er die kraft des Windes in sich aufsaugen würde. Die Dinge schienen mit einem Mal so greifbar zu sein. Er hatte einfach das Gefühl alles schaffen zu können, wenn er nur wollte. Ja, es kam nur auf ihn an. Auch wenn alle anderen das nicht so sahen. Er konnte, wenn er nur wollte. Und er wollte. Von diesem göttlichen Windzug konnte er gar nicht genug bekommen. Er atmete tief ein, so tief wie er es noch niemals zuvor getan hatte, füllte seine Lunge mit dieser kühlen Gabe und hielt sie fest. Seine Arme breitete er aus, schloss die Augen und genoss diesen kurzen Moment der Freiheit. Des absoluten Glücks. Während andere sich wegdrehten stand er zum Wind. Sein Gesicht schmerzte vor Kälte und wurde schließlich Taub. Er zitterte. Doch er erbrachte gerne dieses Opfer. Es machte nichts. Für das, was er dafür erhielt, lohnte es sich allemal.
Je mehr sich das rauschen des Zuges entfernte, desto schwächer wurde der Luftstrom. Bis dieser schlussendlich zu einer frischen Brise verkam- und dann war er einfach verschwunden. Nichts blieb übrig. Er atmete aus.
Es wurde still. Er senkte die Arme, öffnete die Augen und fasste sich an seine Wange. Kalt.
So wie er gekommen war, so ging er auch allmählich, wie das Gefühl, das er mit sich gebracht hatte. Eine Leere machte sich in ihm breit. Er war vergangen. Nur die süße Erinnerung blieb und er drehte sich gen Osten. Er sah dem Westwind hinterher, doch ohne Wehmut, denn er wollte nun mehr. Jetzt war alles möglich.