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- 13.12.2007
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Der Wind zieht von allen Seiten
Der Wind zieht von allen Seiten,
es beginnt zu schneien und die Kälte dringt durch meine gefütterten Schuhe, schon bald auch durch meine Socken.
Seit Stunden laufe ich ein und dieselbe Straße entlang, ich kann ihr Ende nicht erblicken, es scheint, sie würde den Horizont küssen bevor sie dicht umschlungen ineinander verschmelzen.
Autos fahren vorbei, im dichten Schnee wirken sie fast besinnlich, lautlos und nicht ein Hauch von Stress geht von ihnen hervor. Nur ein Schauspiel kleiner verspielter Flocken die sich im Scheinwerferlicht sonnen, bevor sie sich als weiße Decke in ihrer vollkommenen Schönheit über alles Legen was auf der Erde seinen Ursprung findet.
Der Schnee lichtet sich und die Sonne kommt aus ihrem verschlafenen Versteck hervor.
Die herabstürzenden Sonnenstrahlen reflektieren vom Boden und preschen hinauf in den endlichen von Freiheit strebenden Himmel. Alle Himmelsrichtungen erstrahlen in einem unschuldigen Glanz. Mit einem Mal scheint alles unangetastet, fast jungfern.
Jeder Schritt ist der erste und jeder Schritt bleibt bestehen. Vielleicht als Erinnerung oder als Vermächtnis.
Es geht voran, eine Kreuzung nähert sich mit großer Geschwindigkeit. Straßenschilder ohne Bedeutung an allen Ecken. Denn in diesen Tagen ist es nicht wichtig wohin es führt.
Der Weg ist das Ziel.
Der Schnee verweht, die Straße, die Bäume, Sträucher und kleine Nagetiere erblicken aufs Neue die Welt. Am Himmel ziehen bedrohlich dunkle und tief hängende Wolken auf. Der Glanz ist dahin, Regen liegt in der Luft, für einen kurzen Moment Stille, ein Windstoß gen Osten, ein rasendes Auto fliegt vorbei und schon geht’s los.
Der Regen fällt vom Himmel wie ein Gesandter, er spült alles rein was vom Schnee als Schlamm, Moder und Morast zurückgeblieben ist.
Es ist schwer geworden voran zu kommen, durchnässt bis auf die Knochen und von Kälte geplagt. Ich gehe noch ein paar Meter, bis ich mir eingestehen muss, dass es vorerst keinen Sinn hat weiterzumachen!
Überall fallen Tropfen auf den Boden, wobei sie zerschellen und aus ihnen Fontänen hervorkommen, die bunt durcheinander tanzen, in einem Chaos feiern bis sie sich immer mehr zu einer Einheit formen, dem reißenden Fluss.
Die Nacht ist eingebrochen und ein tiefer, feuchter Nebel schwebt über den Straßen von Enschede. Meine Finger sind fast gefroren, aber mein Magen ist Dank dem heißen Kaffee wieder voll auf Temperatur. Ein ungemein schönes Gefühl. Dennoch brauche ich für diese Nacht eine Unterkunft. Eine Dame, die nicht älter ist als vierzig und von mir Jutta genannt wird zeigt mir stammelnd den Weg Richtung Heilsarmee, eine erbärmliche Unterkunft, in der bis zu zwanzig Obdachlose Menschen in einen Raum gekehrt werden, um dort für zwei Euro in der Nacht zu schlafen.
Nasser Atem steigt der Kehle empor, es ist weit unter dem Gefrierpunkt. Eine Nacht in der zwei Euro über Leben und Tod entscheiden können.
Ich habe Jutta auf einem Parkplatz kennengelernt als sie gerade dabei war eben diese zwei Euro zu erfragen.
Jutta bot ein sehr trauriges Bild, sie hatte nur einen festen Schuh an, den anderen Fuß hatte sie verbunden und trug einen blauen Plastiksack zum Schutz über dem Verband. Sie lief mit einer Krücke und ihr modischer blauer Jogginganzug hat ihr wohl nicht den nötigen Schutz vor der Kälte geliefert. Sie war eine stolze Frau, denn von mir wollte sie sich nicht helfen lassen. Sie nahm kein Geld von mir an und lehnte meine Handschuhe ab, aber an meiner Haschtüte war sie mit Freude beteiligt. Der Parkplatz war gut besucht und immer wieder stand Jutta auf, um von fremden Menschen die zwei Euro oder wenigstens ein kleines bisschen Geld zu erhaschen. Sie hat die ganze Zeit über nichts bekommen. Zu guter letzt ist dann auch noch Recht und Ordnung eingetroffen, es wurde Recht missbraucht, Ordnung missverstanden und Jutta des Feldes verwiesen.
Ein letztes Mal hab ich ihr meine Hilfe angeboten und ein letztes Mal hat sie dankend abgelehnt. Ich habe diese Frau, die ich Jutta nenne nie wieder gesehen und ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Ich freue mich nur, dass auch für sie der harte Winter bald vorbei ist und ich hoffe, dass sie den Frühling genießen kann.
Ich musste diese Nacht nicht bei der Heilsarmee verbringen und das nur, weil es auf dieser Welt auch noch Menschen gibt, die gerne helfen. Nach meiner Begegnung mit Jutta und der Konfrontation mit der Polizei hatte ich keine echte Lust mehr auf Enschede. Mit dem Zug habe ich mich in Richtung Ochtrup aufgemacht, von dort aus bin ich zu Fuß weiter Richtung Steinfurt.
Kurz vor Steinfurt- ich sehe noch keine Lichter der Stadt aber links und rechts vor mir beginnen die Bauernschaften. Ich folge einem Schild und gelange in die Bauernschaften von Steinfurt. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht ahnen, dass mir das Glück voll gegen das Gesicht klatscht.
Ein großer Landrover fährt mir entgegen. Ich halte ihn an und ein hübsches blondes Mädel kurbelt an der Scheibe. Ich erzähl ihr von dem Schild, der Pension und meinem Kaffeedurst. Sie bittet mich ins Auto und fährt mit mir mehrere Pensionen ab, die entweder um einiges zu teuer sind oder lieber nicht geöffnet haben. Andere konnten so spontan kein Zimmer bereitstellen und so weiter und so fort...! Sie hat sich echt für mich ins Zeug gelegt.
Am Ende bin ich dann bei ihr zu Hause in der familieneigenen Pension untergekommen. Ich wollte ein Bett und bekomme eine 70 Quadratmeter Ferienwohnung. Samt Bad und Dusche, Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer und einem vollem, offenen Sparschwein mit lauter Scheinen drin! Die halbe Nacht hab ich überlegt, mich mit dem Schwein aus dem Staub zu machen.
Nur wollte ich meine Luxuspension unter keinen Umständen vor dem Frühstück verlassen und hab dann nur soviel Geld dem Sparschwein entnommen, das ich meine Rechnung für das Zimmer- fünf Euro- wieder ausgleichen konnte.