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Der Wind

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18.09.2010
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Der Wind

Er hasste den Wind. Der Wind war sein Gegner. Er liebte ihn.

Das flache Gelände erstreckte sich vor ihm, unterbrochen durch einzelne Baumgruppen und hin und wieder ein Gehöft oder eine Pferdekoppel. Der asphaltierte Wirtschaftsweg war gut zu fahren, hin und wieder ein Schlagloch oder eine kleine Schlammansammlung vom letzten Regen waren zu verschmerzen. Er beugte sich tiefer über den Lenker des Rennrads.

Er liebte das sirrende Geräusch der Kette, wenn sie über die Ritzel glitt. Noch viel besser kam das bei größeren Gruppen. Er hatte schon bei einigen Profirennen als Zuschauer an der Strecke gestanden. Wenn das Peloton heranjagte und mit rasender Geschwindigkeit an seinem Standort vorbeifuhr, schwoll das Crescendo der Ketten immer höher an und entfernte sich anschließend mit einem etwas dunkleren Ton wieder. Der Doppler-Effekt in Aktion!

Ein Blick auf den Tacho: 28,61 km/h. Mist, er wollte heute einen 30er Schnitt schaffen. Auf dem Rückweg würde er mehr Rückenwind haben und dann Geschwindigkeit gutmachen, aber zu niedrig durfte die Durchschnittsgeschwindigkeit bis dahin nicht sinken. Aber der Wind kam mal wieder genau von vorn, vielleicht ein bißchen von vorn links. Hinter der nächsten Baumgruppe würde er ein Windrad sehen können. Er hatte diese Strecke schon oft gefahren und wußte im Schlaf wo Windräder, Kreuzungen, Eisenbahnquerungen, größere Schlaglöcher und all die vielen anderen Dinge waren, die zu einer Tour einfach dazugehörten.

Das Windrad kam in Sicht. Es drehte sich -natürlich- gegen den Uhrzeigersinn. Das bedeutete Gegenwind. Haha, welche Überraschung! Der Winkel, in dem es zu seiner Fahrtrichtung stand, sagte ihm dass der Wind tatsächlich von vorn links kam. An der Rotationsgeschwindigkeit des gewaltigen Propellers konnte man ungefähr ablesen, wie stark der Wind heute war. Demnach gar nicht mal SO stark. Wie konnte das sein? Dann müsste er doch leichter vorankommen. War er nicht gut drauf heute? Er fühlte sich gut, das Windrad musste vielleicht eine Übersetzung oder so was haben. Doch der Zweifel nagte weiter.

Eine rote Ampel kam in Sicht. Davon ließ er sich nicht immer aufhalten, aber hier kreuzte sein Weg eine vielbefahrene Bundesstraße. Das Risiko konnte er nicht eingehen. Er rollte im Leerlauf auf die Ampel zu. Werd' schon grün, dummes Ding! Doch da konnte er lange warten. Er hatte schon vor Jahren die Nähte im Asphalt gesehen, die auf Induktionsschleifen im Boden schließen ließen.

Er passierte die Induktionsschleifen und stoppte vor der Ampel. Das würde den Schnitt weiter nach unten reißen. Nicht viel was man dagegen machen konnte. Wann kam endlich grün? Er begann zu frösteln, der Tag war für Juli nicht gerade warm.

Nach einer halben Ewigkeit endlich das grüne Signal. Er fuhr an und beschleunigte so schnell er konnte auf seine normale Fahrtgeschwindigkeit. 29,12 jetzt, das war schon eher OK. Trotzdem, er musste sich ziemlich anstrengen, um das Tempo zu halten. Er hatte noch mindestens 8 km Gegenwind vor sich bevor er seine Hauptfahrtrichtung ändern und seitlich in den Wind drehen konnte. Danach erst würde die Belohnung kommen: Rückenwind!

Die Beine wurden immer schwerer. Es half alles nichts, er schaltete einen Gang herunter und trat mit höherer Frequenz weiter. Wurde das nicht sowieso empfohlen? Mit der Nähmaschinenmethode hatte Armstrong schließlich gefühlte 37 mal die Tour gewonnen oder? Naja, damit und mit dem was der Hauschemiker so geliefert hatte.

Jetzt kam das Stück, auf dem es für eine Weile leicht abwärts ging. Schnell wieder den höheren Gang rein, das mickrige Gefälle war schließlich nur die Teilkompensation für den Gegenwind und stand ihm daher von rechts wegen zu!

Endlich kam die Kreuzung in Sicht, auf die er die ganze Zeit hingearbeitet hatte. Extra um ihn zu quälen, ging es die letzten 400 Meter leicht bergauf und mitten in den Wind hinein. Der Herzfrequenzmesser kommentierte das mit Werten oberhalb der 150. Mistding, halt dich raus! Gleich wird's leichter!

Nur noch 24,78 km/h auf dem Tacho jetzt. Memme! Anhalten, die Autos vorbeilassen, im kleinen Gang anfahren, wieder abbiegen, und los geht's! Gang höher, noch einen, noch einen. Geschwindigkeit über 34 jetzt, so gehört sich das. Prompt fängt auch der Durchschnitt an zu klettern. Aber zu langsam, so wird das nichts.

Jetzt kommt die lange Steigung über die alte Bahnlinie. Was hat die überhaupt hier zu suchen? Hier ist bestimmt seit Jahrzehnten kein Zug mehr vorbeigekommen!

Mit voller Geschwindigkeit in die Steigung. Schon ein gutes Stück geschafft, bevor einmal heruntergeschaltet werden muss. Noch einen Gang runter will er nicht, das ist eine Frage der Ehre. Wie weit noch bis zur Brücke, die den Apex der Steigung darstellt? Vorbei am „70“-Schild für die Autos auf der Fahrbahn nebenan, von hier sind es noch circa 150 Meter. Die ziehen sich. Jetzt sind auch sie niedergekämpft. Auf der anderen Seite ein schön langes Gefälle. 33, 34, 35, jetzt über 36 aktuelle Geschwindigkeit, ein Fußgängerweg kreuzt, da gilt es ein wenig aufzupassen. Er hat zwar Vorfahrt, aber was heißt das schon? Man erlebt die kuriosesten Sachen!

Ein flaches Stück jetzt, dann wieder links. Schöne Fahrbahn hier und praktisch nie Verkehr. Der Wind kommt jetzt von der Seite. Sogar von seitlich vorn?? Kann nicht sein, er müsste von seitlich hinten kommen. Fühlt sich aber nicht so an, schon wieder geht das Tempo runter. Hat sich der Wind gedreht? So wie meistens? Genau abgepasst auf seine Strecke? Sollte nicht sein, scheint aber immer so. Grinst sich der Wind einen? Wieder einen Rennfahrer kleingekriegt? Hilft nichts, jetzt Stehvermögen zeigen und weiter. Unter der kleinen Brücke durch, dann rechts, jetzt wirklich Rückenwind. Dafür geht es wieder leicht bergan, eins von beiden ist irgendwie immer da: Steigung oder Wind. Oder beides.

Wieder über die Bundesstraße. Wieder anhalten, sofort geht der Schnitt um einiges runter. Ärger! Wieder anfahren, wieder ein paar Körner verbraten. Langsam werden die Beine schwerer. Gute 50 Kilometer jetzt runtergerissen, noch 14 bis nach Hause. Er weiß, die nächsten 6 gehen gut, aber dann kommt ein Abschnitt, auf dem immerimmerimmer Seitenwind oder Gegenwind herrscht. Muss an den Häusern und Bäumen liegen, die bilden wohl ungünstige Winkel. Oder liegt es daran, dass dieses Stück immer am Ende der Fahrt liegt? Darf nicht sein, dann wäre er nicht so fit, wie er gerne wäre!

Auf den letzten drei Kilometern tröpfelt es noch ein bißchen, das fehlte uns heute noch. Der Wind wird dabei auch stärker. Der Bursche hat heute wieder alles gegeben um ihn zu quälen. Er liebt es, wenn in der Wettervorhersage von „leichtem bis mäßigen Wind“ die Rede ist. Die Wetterfrösche haben sicher noch nie auf einem Rennrad im Flachland gesessen und sich davon ein paar Stunden reingetan!

Er ist zu Hause und steigt ab. Tacho aus der Fassung damit das geschobene Rad den Schnitt nicht kaputtmacht. Seine Frau fragt: „Und, wie war's?“ „Gut,“ sagt er, „kein Problem!“ Sie sieht ihn mit ihrem üblichen Gesichtsausdruck für diese Fälle an. Verrät seine Mimik wie anstrengend es heute mal wieder war? Nein, das ist eine Sache zwischen ihm und dem Wind!

 

Info zur Geschichte

Dies ist meine erste Kurzgeschichte und auch mein erster Beitrag bei kg.de

Ich freue mich über jede konstruktive Kritik!

 
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Hallo PUelkes,

willkommen hier!
Nun, zuerst muss ich sagen, dass ich mich nicht für Rennsport jeglicher Art interessiere und auch keine Ahnung davon habe. ABER ich habe dein Werk zweimal gelesen und bin zu folgendem Schluss gekommen:
Entweder bist du ein Rennfahrer, ein Hard-Core-Fan oder hast gut recherchiert. Für mich klang das Ganze authentisch und verständlich. Auch dein Ausdruck gefällt mir, besonders dein Mix aus Hauptsätzen, Satzgefüge und Ellipsen. Die Gefühle und Gedanken deines Prots lockern die Beschreibung der Landschaft auf, was ich ebenfalls als angenehm empfunden habe.
Allerdings habe ich nicht verstanden, was du mit dem Text ausdrücken willst. Deine Liebe zum Rennsport? Auch fehlt mir darin ein Höhepunkt, eine Entwicklung, eine unerwartete Wendung, ein philosophischer Gedanke oder etwas in der Art. Vielleicht verwendest du den "Kampf" des Prots gegen den Wind als eine Anspielung auf das Leben? Oder auf etwas anderes? In meiner Rolle als Leser kann ich mir durchaus Dinge zusammenreimen, interpretieren oder zu Ende denken, dennoch hätte ich von dir als Autor einen Hinweis, eine Richtung, einen Schubser. Mit deinem sprachlichen Vermögen - das du hast, wie man an diesem Text erkennt - könntest du sicher erreichen, dass deine Geschichte aufregender oder tiefgründiger wird.
Mit besten Grüßen
Juno

 

Hallo Juno,

vielen Dank für Deine Kommentare!

Ich bin selbst 10 Jahre Rennrad gefahren, musste es allerdings vor einigen Jahren aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Die Geschichte stellt letztlich eine Art "Erfahrungsbericht" aus meinen eigenen Touren da, ich habe dabei sogar eine konkrete Strecke im Sinn, die ich oft gefahren bin. Insofern wollte ich keine Anspielung auf das Leben machen, sondern es geht tatsächlich ums Fahrradfahren ;-)

Deine Hinweise auf eine Entwicklung des Plots hin zu einem Höhepunkt finde ich sehr wertvoll. Ich habe auf jeden Fall vor, noch weitere Geschichten zu schreiben. Dabei werden sicherlich auch fiktionale sein und dann werde ich versuchen, diesen Aspekt zu berücksichtigen.

Viele Grüße, Peter

 

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