Der Wolf von Somerville
Ein Bild der Zerstörung, der Wut. Ein Bild der Unwiederbringlichkeit, der Vergänglichkeit. Ein Bild, das für immer auf Davids geistigen Bildschirm gebrannt war. Hellrotes Blut an den Wänden, am Telefonhörer, in der Nachttischschublade. Der beigefarbene Teppich im Schlafzimmer war mit dem Blut seiner Frau durchtränkt. Sie lag darin, nackt, die Augen aufgerissen aber leblos. Ihre Hände noch so verkrampft, als wäre sie mitten im Todeskampf zu Eis erstarrt. In ihrem linken Oberschenkel fehlte ein Stück Fleisch. Was sie durchgemacht hatte, konnte David nur erahnen. Sie wurde vergewaltigt, gefoltert und schließlich getötet. Sie musste das Ende geradezu herbeigesehnt haben.
David Washburn schüttelte den Kopf, doch das Bild verschwand nicht. Er saß in seinem 1987er Buick, fuhr den Marine Drive in Richtung Norden, aus der Stadt Vancouver hinaus. Es gab nichts, was ihn zurückhielt. Keine Verwandtschaft, der er sich verpflichtet fühlte. Keine Freunde, die ihm von seiner Reise abgeraten hätten. David musste weg. Hier gab es nur den Tod, nur die Erinnerung an ein Leben, das er geliebt hatte. Wohin der Buick ihn brachte, war ihm im Augenblick egal. Vielleicht nach Yukon, Alaska oder die Northwest Territories. Einfach weg, für immer!
Zu seiner Linken sah David wie die Sonne am Horizont hinter dem Georgia Strait verschwand. Es war zugleich der Schlussstrich unter einer unvergesslichen Geschichte. Sarah Washburn, geborene Bennes, aus Rosetown, Saskatchewan. Die erste Frau, welche sich für den reservierten David interessiert hatte. Sie hatten sich an der Universität von British Columbia in Vancouver gesehen, und seither nie mehr aus den Augen gelassen. Die Liebe hatte einigen Krisen standgehalten. Der Tod von Sallys Vater. Die Verwandlung ihrer Mutter, die sich in ihrer eigenen Welt verkroch, den Tod ihres Gatten nicht ertragen konnte. Sally und David hatten der kranken Frau beigestanden, so gut es ging. Nun war David in der gleichen Situation wie damals Sarahs Mutter… und auch er dachte darüber nach, allem ein Ende zu setzen. Es wäre so verdammt einfach. Den Buick beschleunigen und ihn über die Klippen steuern. Eine Geschicklichkeitsübung für die Finger, nichts weiter. Doch wer garantierte ihm, dass er dabei wirklich ums Leben kam? Würde der Sturz auf irgendeine unvorhersehbare Weise gebremst, würde er ihn überleben. Dies konnte und wollte er nicht riskieren. Goddamnit!
Also fuhr er weiter in Richtung Norden. Der alte Motor des Buick zischte ab und zu, hüstelte leicht. Ohne Zwischenhalt passierte er Squamish, Whistler und Pemberton. Vorbei an scheinbar endlosen Wäldern in eine ungewisse Zukunft. Kurz vor D’Arcy legte David auf einem schmalen Parkplatz seinen geplanten Zwischenhalt ein. Er stürzte eine Colabüchse in einem Zug, aß dazu zwei Sandwichs. Als er wieder aufbrechen wollte, sprang der Motor nicht mehr an. Der junge Kanadier drehte den Zündschlüssel ein paar Mal, bis die Lichter am Armaturenbrett erschienen, doch der Wagen machte keinen Wank. David war kein Mechaniker, doch ein bloßer Blick unter die Motorhaube würde den Buick nicht noch mehr beschädigen.
Keine Anzeichen eines Schadens, die David erkannt hätte. Keine durchgebratenen Teile, keine angefressenen Kabel. Ein Experte war hier von Nöten. Solche Probleme traten immer an den unmöglichsten Orten auf. Eine Tankstelle war natürlich nicht in Sicht, ganz zu schweigen von einer Autogarage. Goddamnit!
Es war Dienstagabend, zweiundzwanzig Uhr. Kein Fahrzeug unterwegs. Ein paar Lichter brannten im nahen D’Arcy. Bis dorthin musste er bestimmt eine gute halbe Stunde gehen. David entschied, dass es sinnvoller war, zum Motel zurückzugehen, welches er vor wenigen Minuten passiert hatte. Er schloss den Wagen ab und trabte los.
Nach einer Viertelstunde sah er mit Erleichterung die erwartete Leuchtreklame. Das „Comfort Inn Motel“ machte auf den ersten Blick zwar nicht den Eindruck, als würde es seinem Namen gerecht, doch das konnte David egal sein. Die Zapfsäulen unweit vom Eingang zum Restaurant waren ein Hinweis, dass es hier womöglich Sachverständige gab, die ihm helfen konnten.
Er betrat die spärlich beleuchtete Wirtschaft. Es roch nach ranzigem Fett, Bierdunst und giftigem Zigarettenrauch. An der Bar saßen zwei Leute. Eine Prostituierte mit hoch abgesetzten, schwarzen Stiefeln und einem Lederanzug mit aufreizendem Dekoltee. Sie drehte sich nach ihm um und sah ihn verführerisch an. Auf der anderen Seite, zu Davids rechter Hand, nippte ein älterer Mann gerade an seinem Bier. David setzte sich bewusst nicht an die Bar, sondern wählte den Tisch in der Ecke. Dem Barkeeper schien dies zu missfallen. Er warf David einen abschätzigen Blick zu.
„Was wollen Sie? Das Tagesmenü ist –“
„Ich brauche ein Bier und einen Mechaniker. Mein Wagen steht unweit von hier auf einem Parkplatz. Zündet nicht mehr.“
„Ein Bier“, nickte der kleine Mann hinter dem Tresen. „Kommt sofort.“
„Gibt es in der Nähe jemanden, der einen Wagen reparieren kann?“ hakte David genervt nach, weil er ignoriert worden war.
„Ihr Bier.“ David hasste es, wenn man nicht auf ihn einging.
Der ältere Mann stand auf und kam auf David zu. Unaufgefordert setzte er sich neben ihn. Sein Gesicht war von Narben gezeichnet und dennoch irgendwie sympathisch. Er flüsterte fast: „Mein Name ist George F. McInnis. Nenn mich einfach Mac. Ich kann dir vielleicht mit deinem Wagen helfen.“
David rang sich ein Lächeln ab. „I’m David.“
Sie gaben sich die Hand. Der Alte hatte Mundgeruch. Sein Hemd wies Tomatenflecken auf. Verwaschene Jeans. Der alte Mann hatte eine muskulöse Figur und kräftige Arme.
„Haben Sie ein Auto? Dann wären wir schneller,“ schlug David vor, als die beiden bereits aufgestanden waren.
„Gehen wir zu Fuß“, sagte Mac bestimmt. Er ließ keine Widerrede zu.
David warf ein paar Münzen auf den Tisch. Gemeinsam verließen sie den dreckigen Schuppen, begleitet von den Blicken der Hure und des Barkeepers.
„Dieser Typ war vielleicht ein Arschloch“, empörte sich David, als sie sich einige hundert Meter vom Motel entfernt hatten.
Ein verständnisvolles Nicken. „Kein Wunder hat der Kerl kaum Gäste.“
Sie kamen rasch voran. Der alte Mann war in Topform, konstatierte David respektvoll. Nach zwölf Minuten waren sie beim in der Dunkelheit abgestellten Buick angelangt.
„Mensch, Mac. Du bist zackig auf den Beinen.“
„Ich war Soldat bei der US-Navy. Marine Reconnaissance Forces. Hab in Vietnam gekämpft, und bin verdammt noch mal nicht stolz darauf.“
„Warum nicht?“
„Mein Leben lang habe ich nichts anderes getan als Menschenleben vernichtet. Das ist alles, was ich kann… und ich bin verdammt gut darin. Trotzdem, weit kommt man damit nicht. Die Erleuchtung werde ich wohl nie finden.“
Plötzlich schoss ein gewaltiger Schmerz durch Davids Schläfen. Das Bild, welches er so angestrengt zu verdrängen versuchte, blitzte auf seinem geistigen Bildschirm auf. Er sah Sally. Vergewaltigt, gefoltert, tot. Ihr Blut überall. Die Kampfspuren. Der Todesschrei – den er sich nur vorstellen konnte – in seinen Ohren.
Davids Atem war oberflächlich, sein Herz raste. Krampfhaft versuchte er sich an seinem Auto zu stützen. Mac bot ihm seine Hand an. David hielt sie. Es war ein starker Griff. Der Griff eines Soldaten. David atmete immer rascher. Trotzdem bekam er keine Luft. Sein Gesicht lief blau an. Mac presste ihm die rechte Hand auf den Mund. David wollte husten, konnte aber nicht. Sein Bauch bebte. Seine Beine gaben nach. Er klappte zusammen. George Ferdinand McInnis verhinderte, dass David auf den Rücken fiel.
„Verdammt. Was war das?“ David war verwirrt, als er wieder einigermaßen zu sich fand. Wenigstens konnte er seine Lungenflügel von neuem mit Luft füllen.
„Du hast hyperventiliert.“
„Ich glaube, es gibt etwas, das ich dir erzählen muss.“
Aufbruch – für David ein Synonym zu Abschied. Nicht Übergang, sondern Abgang. Er ließ ein gutes Leben, die Frau seines Lebens, hinter sich. Er hatte einen anständigen Job gehabt, seine Arbeitskollegen gemocht. Nun war nichts von den Dingen mehr übrig, die ihm einst etwas bedeutet hatten. An ihre Stelle war ein alter Mann getreten, ein gebürtiger Ire, der im Dienste der Vereinigten Staaten getötet hatte und später aus Hass für sich selbst nach Kanada geflohen war.
Sie verbrachten die Tage in Somerville, einem schönen Fleckchen Erde im Osten Yukons, in den Mackenzie Mountains. Mac hatte sich dort eigenhändig eine Blockhütte gebaut. Über dem schmalen Eingang warnte ein großer Wolfsschädel davor, dass hier ein hervorragender Jäger hauste. Die Einrichtung beschränkte sich auf das Wesentliche. Ein schwerer Tisch, daneben eine Sitzbank, darüber ein Regal, auf dem ein Transistorradio und eine Büchse Munition lagerte. Das Kochfeld – ein simpler Holzfeuerofen mit rostigen Beulen – war gleichzeitig Heizung und manchmal gar Wäschetrockner. Ein Kühlschrank existierte nicht.
David hatte noch immer Panikattacken, brutale Alpträume, die ihn jäh aus dem oberflächlichen Schlaf rissen. Das Bild von Sally ging ihm nicht aus dem Kopf. „Ist es wegen Sally“, fragte Mac jeweils rhetorisch, wenn er David stützen musste, ihn in die Arme nahm. „Du hast sie sehr geliebt.“
„Kennst du das Gefühl, wenn man ein Leben lang auf der Suche nach jemandem ist, von dem man nicht einmal weiß, ob die Person überhaupt existiert… und dann, eines seltsamen Tages, inmitten einer beachtlichen Menschenansammlung, findest du, wonach du gesucht hast? Du rennst wie ein Irrer blind vor Sehnsucht durch die Welt, und da steht sie. Ich habe Sally nicht einfach nur geliebt. Es ist – war – ein Zustand, den ich nur schlecht in Worte fassen kann. Vielleicht ist Abhängigkeit der richtige Begriff. Wir konnten ohne den anderen nicht schlafen, nicht einmal atmen. Wenn dein Leben an einem seidenen Faden hängt. Mein Faden war Sally Bennes Washburn.“
„Und nun ist er gerissen.“ Mac schaute auf den staubigen Hüttenboden. In seinen Händen hatte er eine Tasse lauwarmen Jasmintee.
David trank einen Schluck Pulverkaffee. „… und ich bin kein Schneider. Wenn man ihn nur wieder zusammennähen könnte.“ Der junge Kanadier war nahe an den Tränen. Die Hand mit der Tasse zitterte. „Mir fehlt es an Stärke. Ich glaube nicht, dass ich den Verlust jemals wegstecken kann.“
Mac schüttelte betrübt den Kopf. „Das hat mit Stärke nichts zu tun. Du solltest ihren Tod nicht einfach verdrängen und vergessen. Man besiegt keinen Schmerz, in dem man ihn mit einer Tablette herunterschluckt.“
„Wie dann?“ fragte David ratlos, seinen Kopf mit beiden Händen stützend.
Der alte Ire stand auf und ging rüber zur Holzwand, wo seine Schrotflinte an einem Haken hing. Er nahm sie hinunter und warf sie ohne Vorwarnung in Davids Richtung. David fing sie mit einer Hand auf. Ungläubig schaute er Mac an.
„Sag mir, was du denkst?“ forderte ihn Mac heraus.
„Im Augenblick frage ich mich: ‚Was will der alte Amerikaner mit irischem Pass eigentlich?’“
„Was ist es für ein Gefühl, das Gewehr zu halten?“
„Es ist ziemlich schwer,“ grunzte David.
„Verdammt noch mal David, nimm es richtig in die Hand. Geh in den Anschlag!“
Der Kanadier reagierte mit Verzögerung, tat aber, wie ihm geheißen.
„Erneut frage ich dich, was für ein Gefühl ist das?“ Mac mit aggressiver Stimme.
„Macht.“
„Und,“ noch lauter.
David packte das Gewehr mit aller Kraft. Seine Hände verkrampften sich um den Schaft. Er spürte, wie in ihm ein Monster erwachte. Ein zähnefletschender, jähzorniger Wolf, der sich befreien wollte. Sein Blick wurde finster. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Das Blut in seinen Adern pulsierte rasch. Schweiß trat aus den Poren auf der Stirn. Seine Hände wurden feucht. Es war, als hätte er unglaublichen Hunger und vor ihm stand die Beute, hilflos, verletzlich und vor allem sehr reich an Proteinen…
„Spürst du es?“ knurrte Mac, mit bewusster Erregung in der Stimme.
David konnte es fühlen. Er wollte es tun. Er wollte das Gewehr benutzen. Für sich selbst, für Sally, für die Gerechtigkeit vielleicht. Sallys lebloser Körper vor seinem geistigen Auge, die Flinte in der Hand, verließ David die Hütte. Mac folgte ihm.
Davids Augen waren schwarz. Der Blick verriet, dass in seinem Innern eine wilde Bestie Überhand gewonnen hatte. „Mac?“
„Ja, mein Freund?“
„Teach me how to shoot.”
Dreizehn Jahre später, unweit von Somerville am Snake River, versteckt hinter einem Felsvorsprung, kauerte David Washburn. Er trug einen langen Bart. Die Schrotflinte war schussbereit. Gegenüber, auf der anderen Seite des Flusses trank ein einsamer weißer Wolf. Er hatte David erkannt und fokussiert. Seine hellen Augen funkelten im fahlen Licht des Halbmonds.
Davids rechter Zeigefinger war am Abzug, doch der Kanadier wartete mit dem Schuss. Der Wolf war erstaunlicherweise kaum nervös. Unter normalen Umständen hätte er sich längst von dannen gemacht. Dies war ein sehr spezielles Tier. Er schien vor David keine Angst zu haben.
„Ich habe dich im Visier. Du bist so gut wie tot. Trotzdem bewegst du dich keinen Zentimeter. Warum hast du keine Angst vor mir.“
Der stattliche Wolf mit seinem dichten Winterfell hob den Kopf, seine Schnauze in der leichten nächtlichen Brise. Er konnte David riechen, dennoch gab es für das Tier keinen Grund zur Panik. Der Wolf blieb ruhig.
„Wir sind uns sehr ähnlich, wie?“ flüsterte David in der Dunkelheit. „Auch ich bin ein einsamer Wolf. Mich hat die Gesellschaft nicht akzeptiert, genau wie dich. Wir beide wurden vom Rudel ausgestoßen. Uns ist es wohl hier draußen, wo uns niemand stört. Du scheinst mich zu verstehen.“
Der Wolf schaute in Davids Richtung. David sprach nun mit normaler Lautstärke: „Du weißt, warum ich hier bin?“
Keine Antwort. Ein verwunderter, aber irgendwie verständnisvoller Wolfsblick.
„Ich habe drei Menschen getötet. Sie waren Schuld am Tod von Sally. Was sie ihr angetan haben, hätte kein Gericht der Welt in ansprechendem Masse verurteilen können. Du hättest sie wirklich kennen lernen sollen. Sie war eine wunderschöne Frau, sehr fröhlich, nie schlecht gelaunt. Ich habe sie so sehr geliebt.“
Der Wolf blickte um sich, das Funkeln in den Augen, dann verschwand er. David sicherte sein Gewehr und repetierte die Patrone heraus. Er würde die Waffe nie mehr benutzen. Das Töten hatte ein Ende. Das Tier in seinem Innern lebte weiter, aber es würde keine Opfer mehr fordern.
David atmete tief durch… und zum ersten Mal nach über dreizehn Jahren huschte ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht. David blickte in den Sternenhimmel. „Thank you Mac. Thank you life, for coming back to me.“
Copyright © by mohatoma. Alle Rechte vorbehalten.