- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Der Wolke Folgen
Vor nicht allzu langer Zeit gab es eine kleine Wolke, die sich direkt über der Nordsee gebildet hatte und Richtung Küste zog. Schon kurz nach ihrer Entstehung wurde sie von einem Matrosen entdeckt.
Warum ihm gerade diese Wolke ins Auge fiel, schien ihm etwas befremdlich, denn sie unterschied sich kaum von all den anderen Wolken, die er am Himmel sah. Nur ein winziges Detail, das er nicht ausmachen konnte, ließ ihm die kleine Wolke interessant erscheinen.
Jedes Mal, wenn er sich seine Wolke anschaute, überkamen ihn Sehnsucht, Traurigkeit und Freude nahezu gleichzeitig. Und so stand er trotz einer scharfen Brise, wann immer er konnte, an Deck und beobachtete den Himmel.
Nach zwei Tagen des Glücks stellten sich jedoch die ersten Hindernisse ein. Die Wolke begann, vom Kurs des Schiffs abzuweichen und entfernte sich - nur minimal, aber für den Liebhaber auffallend. Eine Weile konnte der Matrose diesen Zustand ertragen, doch schon bald wollte er der Wolke folgen, um sie weiter beobachten zu können. Nur wie sollte er dies tun? Auf seinem Schiff war er nur Matrose ohne Rechte und vor allem ohne Befugnis, den Kurs zu wechseln.
Dennoch begab er sich zum Kapitän und fragte ihn um Rat.
"Ahh. Mein Junge! Wie kann man denn in eine lausige Wolke vernarrt sein? Das ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht untergekommen. Und warum sollte ich gerade dieser Wolke hinterherfahren und nicht irgendeiner anderen."
"Na ja ... So genau ... Es ist halt meine ganz spezielle Wolke. Wenn ich sie sehe, dann ..."
"Papperlapapp! Meine Junge, du solltest auf den Boden der Tatsachen zurückkehren und dir solche Dummheiten aus dem Kopf schlagen! Oder noch besser: Geh zu einem Psychiater und lass dir von dem deine Flausen austreiben!"
Tief gekränkt verließ der Matrose die Kapitänskajüte und begab sich wieder an Deck.
"Eigentlich hat er nicht ganz Unrecht, der Kapitän", dachte sich der Matrose. "Aber was kann ich dafür, dass mir diese Wolke so gefällt ... Es scheint mir so, als sei es mein Schicksal, Wolken zu folgen und zu studieren."
Dann hatte er mit einem Mal eine rettende Idee. Er konnte eines der Rettungsboote nehmen und seiner Wolke hinterherfahren. Endlich würde er sie ungehindert verfolgen können.
So blieb er bis spät in der Nacht auf, schlich in die Küche und dann zu einem Rettungsboot mit Motor, den er aber nur in Notfällen benutzen wollte. Schnell und leise entfernte er sich vom Schiff. Zur Sicherheit nahm er einen Kompass mit, um auch bei Dunkelheit den Kurs der Wolke nicht zu verfehlen.
Der Matrose hatte sich mit Proviant und Decken eingedeckt und so konnte er der Wolke problemlos folgen. Während der langen Tage und Nächte auf See überkamen ihn oft Zweifel an seinem Tun, aber jedes Mal versicherte er sich, dass er das Richtige im Sinn hatte und es nichts zu bereuen gäbe. Indes wurde die kleine Wolke immer kleiner. Tag für Tag schwand sie - erst langsam, und als sie eine gewisse Größe unterschritten hatte immer schneller. Noch immer war das Interesse des Matrosen ungebrochen, auch wenn er sich nun Gedanken machte, was er nach "Der Wolke" machen sollte. Bei seiner alten Mannschaft war er sicher nicht mehr gern gesehen. Vielleicht war es eine gute Idee, den Beruf zu wechseln; einen Beruf zu ergreifen, der ihn immer in die Nähe von Wolken und anderen Naturerscheinungen bringen würde. Die Idee gefiel ihm nicht schlecht und so folgte er der mittlerweile winzigen Wolke mit noch mehr Enthusiasmus.
Nach einigen Tagen - der Matrose hatte aufgehört, zu zählen - war die Küste in Sicht. Vorfreude keimte in ihm auf. Bald würde er seine Familie wiedersehen. Doch bevor er die Küste tatsächlich erreichte, braute sich aus heiterem, sonnigen Himmel ein Unwetter zusammen. Die kleine Wolke wurde praktisch zerrissen und vom Sturm aufgesogen, so wie das Herz des Matrosen, der hilflos zuschauen musste. So schnell hatte er nicht mit dem Ende seiner Wolke gerechnet.
Während er noch um die Wolke trauerte nahm der Sturm erheblich zu. Hohe Wellen und ein gnadenloser Wind beutelten seine kleine Nussschale, bis sie nachgab und den Matrosen in das kalte Nordseewasser entließ.
'Muss ich nun wie meine Wolke untergehen ...?', fragte sich der Matrose, bevor das Wasser sich seiner vollends bemächtigte. Von Wellen getragen gelangte er bewusstlos an die Küste, die er zuvor bereits erblickt hatte.
Das Schicksal hatte es gut mit ihm gemeint und sein Leben verschont. Im Gegensatz dazu hatte sich der Sturm erbarmungslos über das Schiff seiner ehemaligen Mannschaft hergemacht und niemanden lebend entrinnen lassen.
Einerseits glücklich sein Leben und seine kuriosen Studien fortführen zu können und andererseits traurig wegen des unglückseligen Endes seiner Mannschaft begab er sich bald auf neue Reisen und folgte der einen oder anderen Erscheinung, niemals vergessend wie alles begonnen hatte.