Der Wurzelfaktor
Scheinwerfer fraßen sich durch die Nacht. Peter Fichte steuerte seinen Subaru Forester 2.5XT auf den Schotterweg, der sein im Blockhausstil erbautes Eigenheim mit der Hauptstraße nach Altdorf verband, bis er vor der Garage ungewollt heftig abbremste.
Es war wieder feucht geworden, als sich einige Männer im Anschluss an die Gemeindeversammlung im „Hirschen“ zur Nachbearbeitung getroffen hatten.
Fichte hatte an diesem Abend Erfolg gehabt. Die Gemeindeversammlung stimmte der Anschaffung eines neuen Forsttraktors großmehrheitlich zu und überwies das Geschäft zur Umsetzung an den Gemeinderat.
Müde und ausgelaugt wankte Fichte nach dem misslungenen Versuch die Jeeptüre möglichst leise zu schließen Richtung Haustür, stieg aus seinen Gebirgsschuhen und hängte den dunkelgrünen Parker in die Garderobe.
Unsicher erklomm er die Treppe zum ersten Stock und wankte, nachdem er die Milchschachtel im Kühlschrank geleert hatte, weiter ins Obergeschoss. Dort befanden sich die Zimmer seiner beiden Kinder Julia und Stephan.
Im matten Schein des Flurlichts erkannte Fichte die Umrisse seines tief schlafenden Sohnes. Er trat vorsichtig ein und näherte sich dem Kinderbett. „So friedlich - unberührt!“, dachte er und setzte sich auf die Bettkante. Ergriffen begann er seinem Sohn über den Kopf zu streicheln, als es ihn wieder durchfuhr, dieses unheilige Gefühl, wogegen er seit seiner Jugend standhaft anzukämpfen versuchte.
Während seine Klassenkameraden am Ende der Grundschule begannen mit Mädchen anzubändeln, hatte Fichte nur Augen für Jungen. Seine Freunde entzogen sich aber angewidert seinen Annäherungsversuchen.
In den höheren Klassen war Peter Fichtes Ruf nachhaltig ruiniert, als er im Anschluss an den Turnunterricht in Badehosen duschte, um seine Erektion zu verbergen. Es wurde aber bemerkt.
Fichte war ein „Homo“, darin war man sich einig.
Dieses, ewig unterdrückte, unbändige Verlangen übermannte ihn in diesem Moment von neuem. Nur, heute war er zu schwach dagegen anzukämpfen, seine Hand gehorchte ihm nicht mehr. Während die groben Finger über den Körper seines Sohnes strichen, floss ein warmer Schauer über Fichtes massigen Rücken. Mit seiner Pranke strich er über Stephans Brust, den Arm entlang, ganz sachte, bis er endlich in der Pyjamahose seines Sohnes anlangte. Er war am Ziel seiner kühnsten Träume und fühlte, wie seine lange verdrängten Jugendfantasien aus tiefem Schlaf erwachten. Der Alkohol und die übermächtige Müdigkeit legten sich wie ein Schleier über seinen Verstand, über seine Vernunft, über seine Ehre.
Aus dem Traumzustand erwachte Peter Fichte erst wieder, als ihn die fragenden Augen seines Sohnes anstarrten.
Schockiert begann Stephan zu Wimmern. Dann versuchte er Fichtes Hand wegzudrücken, schlug um sich und schrie auf.
„Pst, sei still!“, flüsterte Fichte scharf und hielt mit seinen Pranken Stephans Mund zu. “Es tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid!“, versuchte er verzweifelt das wütende Bündel zu beschwichtigen. Weil seine Bemühungen keine Wirkung zeigten, verschärfte Fichte den Ton. „Beruhig dich jetzt! Sei endlich still!“, schüttelte er Stephan zur Vernunft.
Von Atemnot geplagt, ergab sich der Junge schließlich.
„Du darfst niemandem ein Wort sagen, Stephan!, fuhr ihn Fichte an. „Hast du verstanden was ich gesagt habe? Das bleibt unter uns!“, erklärte Fichte mit aller ihm noch verfügbaren Autorität. Dem Jungen stand der Schreck ins Gesicht geschrieben. „Hast du verstanden? Sonst passiert was!“, blinkte Fichte seinen Sohn unmissverständlich an. Dieser nickte von Schrecken gezeichnet.
Stephans Mutter rief von unten: „ Peter, bist du’s?“
Fichtes Gesicht begann sich zu verkrampfen. Er biss sich auf die Zähne bis es knirschte. Im Hinausgehen sah er seinem Sohn ein letztes Mal tief in die Augen, bevor er ging.
„Ich habe den Kindern nur noch „Gute Nacht“ gewünscht“, antwortete er seiner Frau, als er das gemeinsame Schlafzimmer betrat. Der elektronische Wecker zeigte 01.57 Uhr. Sofia Fichte funkelte ihren Mann unverständig mit schlaftrunkenen Augen an. „Spinnst du? Die schlafen doch schon seit neun Uhr. – Du hast sie aufgeweckt mit deinem Getrampel“, warf sie ihm kopfschüttelnd entgegen.
„Nein“, erwiderte Fichte abwinkend, “Stephan war noch wach. Er konnte nicht einschlafen, wegen einem Zwischenfall in der Schule. Du weißt schon, Jungs sind halt so. Einen müssen sie immer ärgern.“
Sofia Fichte drehte sich missgestimmt wieder ab, wobei sie ihren Mann keines Blickes mehr würdigte. Eisiges Schweigen legte sich zwischen die beiden.
Als Fichte neben seiner Frau im Bett lag, rannen ihm Tränen übers Gesicht. Er weinte leise, so wie er es gelernt hatte. Er biss auf die Zähne. In dieser Nacht tat er kein Auge mehr zu.
Es blieb das einzige Mal, dass Fichte sich seinem Sohn auf diese Weise näherte. Man könnte auch sagen, der noch irgendwo vorhandene Anstand verbot ihm weitere Annäherungen.
Nach der Forstschule, als Peter Fichte 22 Jahre alt war, heiratete er auf dringliches Anraten seiner Eltern die um fünf Jahre ältere Nachbarstochter Sofia, welche ihm alsbald zwei Kinder gebar. Seine jugendlichen Neigungen verfolgten ihn aber trotzdem unablässig, bis er seine Frau davon überzeugen konnte, einen Neuanfang irgendwo weit weg zu wagen. Schliesslich übersiedelte er samt Familie aus dem Schwarzwald ins Schweizerische Uri nach Niederhofen Taubach, um dort den Posten des Revierforstmeisters zu übernehmen. Des „Schweizerdeutschen“ nicht mächtig, wurde er anfangs von den Einheimischen nur leidlich akzeptiert. Mit deutscher Gründlichkeit führte er den gemeindeeigenen Forstbetrieb, der alsbald zur Haupteinnahmequelle Niederhofen Taubachs wurde, sodass Fichte wenigstens in diesem Bereich ein höheres Mass an Akzeptanz erlangte.
Ab dieser Nacht verschloss sich Stephan seinen Eltern, die trotz Erziehungsberatung und Familientherapie nicht mehr zu ihrem Sohn fanden. Förster Fichte versuchte den Jungen noch einige Male unter vier Augen auf den besagten Abend anzusprechen, Stephan wich ihm jedoch aus. Er verabredete sich nur noch selten, und wenn, dann nur auf Anweisung seiner Mutter mit seinen Freunden, wurde immer mehr zum Einzelgänger, seine Schulleistungen ließen markant nach und die bevorzugte Kleiderfarbe wechselte von bunt, über dunkel, nach schwarz. Bald sagte man ihm nach, er sei ein „Drögeler“, womit die vermeintlich westenreinen Einheimischen meinten, er hätte schon erste Erfahrungen mit Haschisch gesammelt.
In den Sommerferien schrieb Sofia Fichte in ihr Tagebuch:
Die Präsidiumsarbeit im Frauenverein ist sehr zeitaufwändig. Ich habe mich aber trotzdem auf Anfrage einer Bekannten dazu entschlossen beim diesjährigen Dorftheater mit zu spielen. Es ist nur eine kleine Rolle, die neben der Hausarbeit gut Platz findet. Ich freue mich!!!
Der Junge macht mir Sorgen. Er ist nicht mehr wieder zu erkennen. Wie ein Blatt im Wind, entwurzelt, ohne Halt. Sollten das erste Anzeichen der Pubertät sein. Er wird doch erst zwölf, der Arme!
Peter hat auch Mühe mit ihm. Meistens geht er Stephan allerdings aus dem Weg. „Das gibt sich schon wieder“, behauptet er, „der Junge hat halt eine schwierige Phase.“
Peter arbeitet viel im Forst, er ist selten zuhause.
Es war ein wunderschöner Spätsommertag, als Peter Fichte von einer mittelgrossen, herabstürzenden Weisstanne erschlagen wurde. Es sei ein tragischer Arbeitsunfall gewesen, hieß es über den Zwischenfall, der in den regionalen Medien für Aufsehen sorgte.
Unter vorgehaltener Hand munkelte man, wie ungeheuerlich dieser Lapsus des Revierforstmeisters gewesen sei. Gerade ihm, der doch immer so auf Sicherheit bedacht gewesen sei, passierte so etwas. Man solle doch in Gottes Namen für die vakante Stelle Ausschau nach einem gut ausgebildeten, einheimischen Förster halten.
Die polizeiliche Nachuntersuchung ergab, dass der besagte Baum aus forstwirtschaftlichen Gründen nicht hätte gefällt werden müssen. Er stand licht, war kerngesund und hätte ein beträchtliches Potenzial gehabt später einmal zu einem stolzen Riesen heranzuwachsen. Vielmehr sei die Ursache des Unglücks einzig und alleine im Selbstverschulden des Verstorbenen zu suchen, der maßgeblich Sicherheitsbestimmungen unverständlicherweise missachtet hatte.
Peter Fichtes Beerdigung fand auf Wunsch seiner Frau im engsten Familienkreis statt. Obwohl der Ökumenische Kirchenchor und die Jagdhornbläser „Hubertus“ ihre Dienste anerboten, sang die versammelte Trauergemeinde lediglich ein unsicheres „Oh Herr, erbarm dich unser …“ am Grabe des Verstorbenen.
Dank einer großzügigen Lebensversicherung konnte die Familie in gewohnter Umgebung bleiben.
Stephans Situation verschlimmerte sich dennoch zusehends. Er entsprach der über ihn gefassten Dorfmeinung immer mehr.
Sowohl Mutter Sofia, als auch Stephans Schwester hatten weder ausreichend Kraft, noch das nötige Einfühlvermögen, um Stephan zu helfen. Wie auf einer Wolke schwebend, entwurzelt bewegte er sich immer weiter ins gesellschaftliche Abseits.
Nachdem er neun obligatorische Schuljahre mit Müh’ und Not hinter sich gebracht hatte, versuchte Stephan in drei verschiedenen Betrieben, die auf Grund des schlechten Zeugnisses nur mögliche Anlehre zu schaffen. Da er aber unregelmäßig zur Arbeit erschien, und seine Motivation stark zu wünschen übrig ließ, stand er bald schon ohne geregeltes Einkommen da.
Er verlor den Kontakt zur Dorfjugend endgültig und verlagerte seine Interessen mit Schwergewicht in den Agglomerationsbereich Zürich, wo er in der radikal links-alternativen Szene Stoff in Hülle und Fülle, sowie unzählige Gleichgesinnte fand.
Eines Abends, als er es wieder einmal nicht gepackt hatte die letzte Zugverbindung Richtung Altdorf zu erwischen, begegnete er Kevin.
Die beiden passten auf Anhieb gut zusammen, hatten dieselben Bedürfnisse und wollten ihrer biederen Vergangenheit endgültig entfliehen. Sie schlossen sich zu einer „Beschaffungsgemeinschaft“ zusammen, die im Wesentlichen darin bestand, den täglichen Bedarf an Lebens- und Suchtmitteln, unter Nichtberücksichtigung ihrer finanziellen Situation, zu decken.
Es wurde ein rauschender Sommer, indem sich die Beiden von allen gesellschaftlichen Regeln lossagten. Träume wurden zur Realität, Wünsche immer kühner. Die Suchtmittel machten sie abhängiger und die Besorgung dieser gestaltete sich täglich schwieriger. Längst waren sie Bestandteil der Zürcher Drogenszene geworden, blieben einerseits zwar noch Freunde, wurden andererseits aber Konkurrenten in der Beschaffung des täglichen Trips.
An einem kühlen Herbstabend lag Stephan, da Gift und Straßenleben seinem Körper stark zusetzten, in einem Zürcher Stadtpark auf einer Bank hinter dem Toilettenhäuschen, als er entfernt wahrnahm, dass sich jemand an seinem Rücksack zu schaffen machte. Zitternd drehte er den Kopf zur Seite und versuchte sich protestierend aufzusetzen. Überrascht blickte Stephan in Kevins Gesicht. Es war der Moment, in dem ihre Freundschaft endgültig zerbrach. Kevin wollte ihm doch tatsächlich den Stoff klauen. „Hey, lass meinen Rucksack in Ruhe“, packte Stephan ihn laut rufend an der Hand und versuchte ihn abzuhalten. Kevin, der viel muskulöser gebaut war, legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf Stephan, hielt ihm den Mund zu und herrschte ihn drohend an:“ Halt gefälligst dein Maul! Ich brauche was, sonst werde ich wahnsinnig!“ Am Parkeingang tauchte die nächtliche Polizeipatrouille auf. Kevin drückte seine Hände noch fester auf Stephans Gesicht.
Stephan bekam keine Luft mehr. Er zwang sich instinktiv ruhig zu werden, um seine Gedanken zu ordnen. In so einer hilflosen Situation befand er sich schon einmal, schoss es ihm durch den Kopf. Mit absoluter Sicherheit spürte er, dass er sich diesmal wehren musste. Es blieb ihm aber nicht mehr viel Zeit. Da Kevin immer noch nach den beiden Polizisten Ausschau hielt, benutzte Stephan den Moment seiner Unaufmerksamkeit, um nach einem brauchbaren Gegenstand zu tasten. In der Aussentasche seines Rucksacks wurde er fündig. Mit einem unbändigen Aufbäumen jagte Stephan seinen Diskman an Kevins Schläfe, der sofort benommen wegsackte. Rasend vor Wut stürzte sich Stephan auf ihn, legte seine Hände um Kevins Kehle und drückte unter leisem Schluchzen zu, bis sich Stephan nicht mehr rührte, und ihn durch leblose Augen anstarrte.
Die ganze Nacht irrte Stefan ziellos umher. Wenn ihn jemand ansprach, wich er mit unverständlichem Gemurmel aus und machte sich davon.
In den Morgenstunden stand er, abseits der letzten Häuserreihen, vor einem kleinen Wäldchen. Er näherte sich entschlossen den ersten Bäumen und verlor sich im grünen Dunkel.
Kurz darauf erlag er, auf den mit Moos überwachsenen Wurzeln einer weit ausladenden Weisstanne liegend, dem eingespritzten Gift. Bevor ihm die Sinne schwanden, stiess er, mit dem ihm noch verbleibenden Atem, ein gehauchtes „Vater …?“ hervor, um dann in der Stille des Waldes aufzugehen.