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Der zärtliche Wahnsinn des Alltags
Ein Blitz… dann Nacht! Du flüchtige Schöne,
Durch deren aufgeschnappten Blick ich neu geboren,
werd in der Ewigkeit ich dich erst wiedersehn?
(Charles Baudelaire: À une passante)
***
Mit gleichgültigen Blicken schaute er durch das Zugfenster in die vorüberziehende Stadtlandschaft. Gleich kam seine Haltestelle und wieder hatte keiner sein Ticket kontrolliert. Da konnte er auch gleich schwarz Fahren, dachte er verbittert. Der Tag hatte ihn geschafft, jawohl, geschafft! Es wurde langsam dunkel.
Schwettners dummes Gesicht, fett und schwitzend, erschien vor seinem inneren Auge: Nichts konnte der Scheißkerl. Außer mit dem Chef über Fußball zu debattieren. Und ganz widerwärtig Fragen stellen: »Wie läufts’ eigentlich bei Dir zu Hause?«, wissend, dass es nicht läuft. »Na, ... ganz – gut, soweit. Selbst?«. Sein hämisches, befriedigtes Grinsen: »Ach, ganz gut, ganz gut.« So ein Vollidiot!
Er schloss seine Augen und kühlte seine heiße Stirn am zerkratzten Fenster, wurde ruhiger im Wanken des Zuges, Stadtbilder zogen über sein Mondgesicht, banale Gedanken durch seinen Kopf. Er dachte an seine Freundin. Sie würde irgendetwas gekocht haben, das er wieder loben musste. Dann würde er über die Arbeit schimpfen, da hatte man wenigstens was zu erzählen. Anschließend… mal schaun was im Fernsehen kommt.
»In Kürze erreichen wir: ...« - also aufstehen, registrierte er müde. Sein Körper erhob sich und hangelte an den Haltegriffen entlang zum Ausgang; er bemerkte gereizt, dass ihn diese Frauenstimme wieder viel zu früh aus seinem Sitz gelockt hatte. Wenn die mir mal über den Weg läuft…, dachte er zornig.
Eine junge Frau kam dazu. Sie lächelte ihn an. Seine Augenbrauen zuckten kurz staunend auf. Unmittelbare Korrektur: So gut sieht die auch nich aus. Er richtete den Blick wieder aus dem Fenster; viele Möglichkeiten blieben ihm in dieser Enge nicht. Er griff an die Metallstange und wartete auf das Einsetzen der Bremsen.
Und doch: er blinzelte zu ihr rüber, so wie zufällig. Sie sah ihn erwartend, mit frechen Augen an… seine Gleichgültigkeit erstarrte und löste sich dann in Unruhe auf. Was grinst die mich so an? Er war empört und kratzte sich zittrig am Kopf. Er konnte seine Unruhe nicht verbergen. Er riss sich von ihrem Anblick los. Ich bin doch vergeben, dachte er aufgebracht. Erregt sah er nach draußen: Wirklich dunkel da, versuchte er zu staunen. Wirklich dunkel. Und kalt! Schweinekalt. Freundin / Essen / Schimpfen / – und Fernsehen. Beherrschung! Angespanntes Starren. Der Zug begann allmählich zu bremsen. Er spürte kitzelnde Blicke an seiner Wange lauern und schüttelte unweigerlich seinen Kopf.
Stärkeres, entschlossenes Bremsen. Mit einem heimlichen Blick sah er zu ihr hinüber: die Fremde, ganz unverwandelt, nur leicht schwankend durch die anschwellende Trägheitskraft. Kein Schwanzeinziehen, kein Entkommen, dachte er, warum starrt die mich so an? ... Sie will mich! Er fühlte lüsterne Blicke, die ihn zu penetrieren schienen. Schamlose! Dabei war sie, versuchte er sich kritisch zu überzeugen, doch nicht mal attraktiv? – Obwohl, gestand er sich, so ganz analytisch? Gesichts–, Brust,– Körpermusterung ... Hmmm – das gefällt dir wohl, Verruchte? Gleich war er frei, besann er sich. Er richtete seinen Blick wieder beherrscht nach draußen. Dein Spiel spiele ich nicht mit!
Dann schwach wieder zurück: Ist ja nichts dabei! Er sah auf ihr schwingendes, gesäumtes Kleid. Auf die darunter verborgenen Formen. Sein Herz schlug erregt, er schwitzte kalt. Ich mag sie ja gar nicht! Sie ist nicht mein Ding, nicht mein Geschmack, sie wirkt irgendwie... ich kann ja gar nicht! … Schlampe! ... Unmöglich! Er gierte machtlos auf ihre Lippen, die ihn wie Sirenenklänge betörten. Hilfesuchend blickte er auf zu den anderen verpuppten, wartenden Gestalten, deren Kommen er überhaupt nicht bemerkt hatte. Niemand sieht das, was sie mit mir macht! Niemand sieht das! Ignoranten! Scheißkerle!
Zudringlicheres Bremsen. Sie fällt, ganz plötzlich fällt sie, ganz unscheinbar nur, schwächlich, doch! sie fällt, auf ihren mir näher strebenden Beinchen tanzend, nun stürzend: Auf mich zu! Mich zu! Der rumpelnde Metallkäfig um ihn schmolz in glühender Hitze erbarmungslos in sich zusammen, die anderen Wartenden rückten näher und näher. Warum unternehmen die nichts?
Gnadenlose! Er wollte verwirrt, – Was soll das? – geradezu ängstlich zurückweichen und ... Ich kann sie keinesfalls fallen lassen, er roch ihren fremden, eindringlichen, süßen, betörenden Duft ... Nein ... ganz unmöglich, sie ist zu nahe, kommt näher… seine Arme umschlossen sie... Ganz vorsichtig nur, ganz sachte… er griff zu.
»WAS SOLL DAS?« schrie sie ihn erschrocken an » SIE SCHWEIN!« und riss sich von ihm los. Die Umstehenden blickten ihn, völlig perplex, an. Der Zug hielt mit einem kreischenden Ruck. Das Abteil leerte sich rasch von der kopfschüttelnden Menschentraube, die ihm verstörte Blicke zurückwarf. Er hörte »…das ist ja unglaublich … so ein perverses Schwein … einsperren, oder einfach die Wand stellen …«. Das empörte Gemurmel entfernte sich. Er stand reglos da und blickte Ihr hinterher. Kälte zog ins Abteil. Dann schlossen sich die Türen und der Zug fuhr wieder los. Fort, vorüber, vorbei - meine Göttin… Göttin ist fort …hat mich verlassen! Schlampe!
Schwettners fettes, höhnisches Gelächter schallte durch seinen Kopf…