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Der Zeitverkäufer

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22.11.2005
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Der Zeitverkäufer

Wenn das Essen gerade kocht und die letzte Aufmerksamkeit fordert, ein letztes Wenden zwischen gelungen und verkohlt entscheidet, wenn nur noch der Schnauzbart einer Rasur bedarf, das Wasser gerade warm ist oder kocht, wenn man gerade gemütlich sitzt, der Roman an der spannendsten Stelle ansetzt, kurz: Wenn man eigentlich keinen Besuch erwarten möchte, dann schellt er an der Tür.
Ihm wird immer geöffnet, obwohl aus der Gegensprechanlage allerhöchstens das Flüstern eines Feuers vernommen werden kann. Die Nachbarn behaupten, es sei das Knistern des Fegefeuers.
Doch auch sie bitten ihn herzlich über die Türschwellen und schenken ihm Kaffee ein, den er wider jedweder Erwartungen mit Zucker und viel Milch, nervend und mit geschlossenen Augen schlürft, die hinter einer spiegelnden und leicht gräulich getönten Kassengestellbrille keine Farbe erkennen lassen.
Das Grau seines Anzugs wird durch eine fast beleidigend wirkende grellgrüne Krawatte hervorgehoben, seine Wildlederschuhe wirken wie gerade neu gekauft und seine Frisur, die an Gustav Gans erinnert, ankert so exakt auf seinem schmalen Kopf wie seine Bügelfalten sitzen oder seine Uhr tickt.
Dennoch ist mir, als würde die Zeit den Atem anhalten wenn er bei mir gastiert. Obwohl das Essen dann doch verbrannt in der Pfanne liegt, ich ein letztes Wenden verpasst haben musste, spielt das Küchenradio immer noch das Lied, was seinen ganzen Aufenthalt untermalt hatte.

Er erscheint grundsätzlich ohne Zeugen, denn noch nie ist er in eine Gemeinschaft geplatzt, nie können mir die Nachbarn sagen, wann er bei ihnen zu Besuch war, auch redet man nicht über ihn oder das, was man bei ihm erstanden hat.
Noch nie hat er eine Visitenkarte hinterlegt, einen Arbeitgeber erkennen lassen oder nur seinen Namen gesagt. „Wir sehen uns bei Zeiten“, sagt er zur Verabschiedung, und er trägt nur einen schwarzen Aktenkoffer mit sich, in dem er die Unterlagen der zuletzt und überhaupt erhandelten Verträge zwischen sich und seiner Kundschaft führen muss.
Sollte man einmal nicht etwas von ihm kaufen wollen und dies vorsichtig vorträgt, wobei ich mich an solche Momente nur vage erinnern kann, da es selten geschah, dass ich von seinen Diensten keinen Gebrauch machen konnte, dann drückt er die Zahlenschlösser dieses Koffers wieder zu und sagt etwas, was ihn so widerlich menschlich macht: „Wie Sie wollen. Aber nur ungarn.“ Und dann lacht er über seinen eigenen Witz so bescheuert, dass sich bei mir alles zusammenzieht.

Verkündet man jedoch sein Interesse, vollführt er seine Arbeit bürokratisch und schnell. Auch hat man ständig das Gefühl, etwas Illegales zu ersteigern und sich ihm gegenüber rechtfertigen zu müssen. Sein Gespräch wickelt einen nicht um den Finger, er preist nichts an oder wirbt um einen Kunden, da er ganz genau weiß, dass er etwas verkauft, was jeder benötigt und was es nirgends sonst zu kaufen gibt.

„Mit was kann ich Ihnen heute dienen, Herr Wacholsky?“

„Nicht viel, nur so vier, fünf Stunden könnte ich benötigen. Der Abwasch muss gemacht werden. Das Geschirr stapelt sich ja, wie Sie sehen. Und mein Chef erwartet den Bericht morgen. Die Tochter in Köln wollte ich auch noch anrufen und, zugegeben, ein oder zwei Stunden Ruhe würden mir auch mal wieder gut tun, bevor meine Frau von der Arbeit kommt.“

„Vier oder fünf? Sie wissen ja: Ab zehn Stunden gibt es eine gratis.“

„Machen Sie fünf. Das dürfte reichen.“

„Wie Sie wünschen. Da Sie insgesamt in den Jahren, in denen ich nun schon zu Ihnen komme, hiermit nun die zweihundert Stunden Grenze überschritten haben, können Sie von nun an den Stammkundentarif nutzen.“

„So?“

„Das heißt, Sie haben nun nicht mehr, wie bisher, einen Wechseltarif von eins zu zehn, sondern genießen nun einen eins zu acht Tarif.“

„Ja. Gut. Sagen Sie: Meine Frau und ich, wir feiern bald unseren Silbernen. Falls Sie vorher nicht mehr reinschauen sollten: Ist es möglich, dass Sie mir so eine Art Gutschein ausstellen können, falls das möglich ist?“

„Ich denke, Sie sollten Expresskunde werden. Moment, ich suche die Unterlagen.

Ah, da ist es ja. So, wenn Sie hier bitte ihren Wilhelm hinsetzen wollen, dann nutzen Sie von nun an unseren Expresstarif. Das hieße, wir würden Ihnen jährlich zwanzig Stunden berechnen, und dafür bekämen Sie an gesonderten Tagen, wie zum Beispiel Ihrem Geburtstag oder dem Ihrer Frau fünf Stunden, an Feiertagen eine Stunde und jeden ersten Samstag im Monat eine halbe Stunde frei Haus.“

„Hmm. Nun ja. Warum nicht? Rente gibt es ja sowieso kaum, sag ich immer. Also her damit!“

Dann unterschrieb ich den Wisch. Es bezieht sich alles auf die Lebenszeit des Kunden. Wenn man zum Beispiel eine Stunde beim Zeitverkäufer kauft, dann wird es eins zu zehn umgerechnet. Die Lebenszeit des Kunden wird beim Kauf von einer Stunde also um zehn Stunden verkürzt. Beim Kauf von zwei Stunden um zwanzig, und so weiter. Wann genau der Kunde sterben wird, weiß er zwar auch dann immer noch nicht, aber seine Lebensdauer wird sich um ein Zehnfaches der gekauften Zeit verkürzen.
Sie werden sagen, dies sei unmoralisch, ein Pakt mit dem Teufel, oder gar unmöglich, da niemand die Zeit stoppen kann.
Nun gut. Aber immer wenn ich etwas Zeit bei ihm gekauft habe, schaffe ich alle Erledigungen, alles was ich mir vorgenommen habe, und gönne mir dann gegen Ende des Tages sogar meistens noch etwas Zeit für mich, um zur Ruhe zu kommen. Wer wünscht es sich denn nicht, einen Tag lang mal etwas mehr Zeit zu haben als alle anderen? Die Uhren an diesen Tagen laufen ganz gewöhnlich weiter, aber man merkt es, wie alles leichter zu schaffen ist, wie die nötige Ruhe einkehrt um beispielsweise einen dringenden Bericht zu schreiben, wie einen die langen Schlangen im Supermarkt nicht mehr stören, wie man rote Ampeln gelassen hinnimmt und wie einfach alles besser und einfacher läuft, wie man mit einer grundlegenden Gelassenheit den Tag verlebt.
Wenn ich dann an der Kasse stehe und sehe, wie Kunden mit weniger als fünf Produkten hinter mir warten, dann sage ich: „Gehen Sie nur ruhig immer vor, … ich habe Zeit.“
Einmal habe ich meine Frau zum Essen in ein Restaurant eingeladen. Sie hat gefragt, ob wir für so etwas denn überhaupt Zeit hätten. „Heute schon", habe ich ihr gesagt und gezwinkert. "Ich habe uns etwas Zeit gekauft“. Sie weiß dann, dass er wieder hausieren war.

Doch am besagten Tag, an dem ich harmlose fünf Stunden erstanden hatte, geschah etwas Folgenschweres: Der Zeitverkäufer vergaß seinen Aktenkoffer auf meinem Küchentisch. Mehrere Tage verwahrte ich das gute Stück unter dem Bett, so dass ihn meine Frau nicht finden konnte, und wartete auf die Rückkehr des Zeitverkäufers. Nach drei Wochen wurde ich etwas nervös und nach vier Wochen beschloss ich schließlich, den Koffer aufzustemmen. Mit den Steigeisen aus dem Werkraum im Keller war er schnell geöffnet. Der Inhalt verblüffte mich genauso, wie er mir die Augen öffnete: Der Koffer beinhaltete meine gesammelten Anträge auf Stunden. Die Originale sowie die Kopien. Was hatte der Zeitverkäufer also eingereicht, um mir die erkauften Stunden beim Ministerium für Zeit gutschreiben zu lassen, so wie er mir immer das System des Zeitgutschreibens erklärt hatte?

Seit diesem Tage hatte ich es durchschaut und beschlossen, meine Erkenntnis zu nutzen und tatkräftig umzusetzen. Denn auch einen Stapel unausgefüllte Anträge hatte der Zeitverkäufer scheinbar absichtlich und mit beabsichtigter Verwendung meinerseits zurückgelassen. Man musste dort nur die geforderte Zeit, den Namen des Käufers, dessen Anschrift und bisher gekauften Stunden ausfüllen, ein Kreuzchen bei „Ja, ich habe den mir vorliegenden Vertrag verstanden und akzeptiere die Bedingungen“ machen, und noch die Unterschriften von Käufer sowie Verkäufer eintragen beziehungsweise eintragen lassen. Keine Adresse oder Sonstiges fand ich auf den Exemplaren.

Am darauf folgenden Tag schellte ich also bei Herrn Pavlow in der Hinterburgstraße 32. Ich hatte mir einen grauen Anzug und eine grüne Krawatte gekauft und hatte meine Haare mit Hilfe von Pomade etwas zurechtgemacht. Ich verhielt mich wie es der Zeitverkäufer bei seinem ersten Besuch bei mir gehalten hatte: direkt, freundlich und überrumpelnd.
„Sicher, sicher könnte ich etwas mehr Zeit gebrauchen“, hatte Herr Pavlow gesagt und mich auf einen Kaffee hinein gebeten. „Man weiß ja gar nicht, was man zu erst und zu letzt tun soll. Immer diese Hetze, ich komme in meinem Alter da schon gar nicht mehr hinterher. Und nie hat man mal Zeit für sich. Aber einfach Zeit kaufen? Wie soll das denn gehen?“

„Sie brauchen nur hier Ihre gewünschten Stunden einzutragen, und setzen dann bitte einmal hier Ihre Unterschrift hin“, sagte ich meinem ersten Kunden, nachdem ich ihm Kaffee schlürfend die Vertragsmodalitäten erläutert hatte.

„Ach, zeigen Se´ mal her! Dann krieg ich nur wieder Werbung.“

„Nein. Und es ist umsonst! Kein Verein, keine Verpflichtungen.“

„Umsonst? Umsonst ist nur der Tod!“

„Genau damit beschäftigt sich das Angebot, dass ich Ihnen hier einmalig unterbreite. Wir nehmen ihnen etwas Leben und geben es Ihnen schon jetzt.“


Herr Pavlow kaufte vorerst drei Stunden, um es mal ausprobieren zu können. Ich vergütete ihm die ersten zwei als Einsteigergeschenk. Seitdem schneie ich einmal monatlich, jedoch ohne nachvollziehbaren Rhythmus bei ihm rein und sichtlich erfreut erzählt er mir die Geschichten, wie er es schafft, seinen Arbeitsstress in den Griff zu kriegen und endlich wieder etwas mehr auf der Geige spielen zu können, die schon ganz verstaubt in der Ecke gestanden habe.

Meine gute Laune erfuhr jedoch mit der Rückkehr ins traute Heim einen erheblichen Dämpfer, denn das gute Porzellan umklammernd wartete meine liebe Frau im Türrahmen auf mich und stotterte mir entgegen, der Zeitverkäufer wäre da gewesen, er wolle seinen Koffer wiederhaben.

 

Hallo Aris,

von der Idee her gut. Etwas schwammig noch, dass der zeitverkäufer den Koffer extra vergessen hat, aber das hat auch den Vorteil, dass man sich beim Weiterlesen fragt, was wohl passiert, wenn er doch mal wieder kommt.
In der Ausführung gibt es noch so manche Ungenauigkeit.
Interessant wäre, ob dein Prot durch das verkaufen von Zeit auch wieder Lebenszeit dazugewinnt.

und seine Frisur, die an Gustav Gans erinnert, drapiert so exakt auf seinem schmalen Kopf wie seine Bügelfalten sitzen oder seine Uhr tickt.
drapieren ist keine aktive Tätigkeit. Man drapiert etwas. Du kannst es also nur im Passiv verwenden.
Noch nie hat er eine Visitenkarte hinterlegt, keinen Arbeitgeber erkennen lassen oder nur seinen Namen gesagt
eine doppelte Verneinung ist dir entgangen: Noch nie hat er keinen Arbeitgeber erkennen lassen? Also hat er immer einen Arbeitgeber erkennen lassen?
und er trägt nur einen schwarzen, quadratischen Aktenkoffer mit sich
quadratisch? Also in Form eines Würfels?
in dem er die Unterlagen der zuletzt und überhaupt erhandelten Verträge zwischen ihm und seiner Kundschaft führen muss.
da die Perspektive bei dem Mann liegt, müsste es mE in dem er ...zwischen sich und seiner Kundschaft.
Wenn man nicht an einem weiteren Agrement mit ihm interessiert
wenn schon der Anglizismus, dann Agreement.
dann drückt er die Zahlenschlösser dieses Koffers wieder zu, nickt mit hervorgestochenem Kinn und großen Augen und bleibt noch für einen spannenden Moment sitzen, steht dann jedoch erschreckend schnell auf und sagt etwas
also dieser Satz ist sowas von bescheuert.
Menschen nicken mit dem Kopf, nicht mit dem Kinn oder den Augen. Und den spannenden Moment sitzen bleiben, um dan schnell hochspringen wirkt, als ob du als Autor eher nicht wusstest, wie er sich nur bewegen soll.
Verkündet man jedoch sein Interesse, vollführt er seine Arbeit bürokratisch, jedoch schnell.
schnell ist kein zwingender Widerspruch zu bürokratisch, du kannst also auf die Wortwiederholung von jedoch verzichten und bürokratisch und schnell schreiben.
Das hieße, wir würden Ihnen jährlich zwanzig Stunden berechnen, und dafür bekämen Sie an gesonderten Tagen, wie z.B. Ihrem Geburtstag oder den Ihrer Frau fünf Stunden, an Feiertagen eine Stunde und jeden ersten Samstag im Monat eine halbe Stunde frei Haus.
Er sagt z.B. statt zum Beispiel?
- oder dem Ihrer Frau
Ich kann das bei Stammkunden wie Ihnen nur empfehlen.
Jeder Vertreter weiß, dass er Menschen direkt ansprechen muss.
Dann unterschrieb ich den Wisch
Warum hier auf einmal Vergangenheit?
Die Uhren an diesen Tagen laufen ganz gewöhnlich weiter, aber man merkt es, wie alles leichter zu schaffen ist, wie man die nötige Ruhe hat um beispielsweise einen dringenden Bericht zu schreiben, wie einem die langen Schlangen im Supermarkt nicht mehr stören, wie man rote Ampeln gelassen hinnimmt und wie man einfach alles besser und einfacher schafft, wie man mit einer grundlegenden Gelassenheit den Tag verlebt.
Wolltest du es bei diesem Satz mal assig umgangssprachlich versuchen?
Wiederholung kann ein Stilmittel sein, hier wiederholen sich aber Inhalte und vor allem das "man".
und: wie einen die langen
Nach drei Wochen wurde ich etwas nervös und nach vier Wochen entschloss ich schließlich
er beschloss oder er entschloss sich
Mit den Steigeisen aus dem Werkraum im Keller erwies sich dies als leichter wie angenommen.
leichter als, trotz der Wortwiederholung. "Wie" ist schlicht falsch
und dann nur noch die Unterschriften
Da du den Satz auch mit "nur" einleitest kannst du hier darauf verzichten.
und endlich wieder etwas mehr Geige spielen zu können, die schon ganz verstaubt in der Ecke gestanden habe.
wenn du auf die Geige Bezug nimmst, braucht sie ein Pronomen. Also "etwas mehr auf der Geige zu spielen, die ..."

Lieben Gruß, sim

 

hallo sim

danke für deinen kommentar. ich muss schnell antworten, ist ja schon anstoß.

freut mich, dass es dir ein bischen gefallen hat, so glaube ich zumindest.
hab ich dir schon gesagt, dass ich mit für dieses jahr vorgenommen habe, eine empfehlung von dir zu bekommen?
jaja. man soll sich ja immer hohe Ziele setzen, die scheinbar unerreichbar scheinen. deutschland will ja auch weltmeister werden.

mit deinen hinweisen hast du recht. und ich weiß wiedermal nicht, warum mir diese Sätze immer wieder durch die lappen gehen. daher danke.

das mit dem drapiert hatte wir ja schon mal. ich dachte, ich hätte es gelernt, habe es aber anscheinend wieder vergessen gehabt.

quadratisch ist nicht gleich ein würfel! ich wollte die assoziation mit einem unmöglichen und ungewöhnlichen koffer hervorrufen, wie ihn nur der zeitverkäufer hat. daher ist dies der einzige satz, den ich so stehen lassen werde.

auch den bescheuerten satz. auch, wenn ich es nicht so ganz verstehe.

ich kann auch mit einem hut auf dem kopf nicken.

aber es ist hier sicherlich literarische genauigkeit angebracht, die ich ja auch anstrebe.
auch ein spannender moment und plötzliches aufstehen sehe ich jetzt gerade als ganz normale umschreibungen.

Wolltest du es bei diesem Satz mal assig umgangssprachlich versuchen?

nicht direkt. aber ich wollte ihn niedlich und naiv erklären lassen und habe ihn es dann umgangssprachlich erzählen lassen. dazu gehört ein man und die wiederholung von inhalten. er soll so klingen, als würde er dem leser etwas unfassbares verdeutlichen wollen.

schnell ist kein zwingender Widerspruch zu bürokratisch,
darüber lässt sich ja streiten :D

danke jedenfalls und besten Gruß

 

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