Was ist neu

Der Zigarettenstummelmann

Mitglied
Beitritt
03.08.2003
Beiträge
491

Der Zigarettenstummelmann

Josef Habermann sah sie schon von weitem. Sie stand am Rand des Zubringers zur Autobahn und starrte in seine Richtung, ein schmächtiges Persönchen, in einen weiten dunklen Mantel gehüllt.
Er fuhr vorbei, überlegte es sich dann anders und hielt. Im Rückspiegel beobachtete er, wie sie rasch ihre Tasche aufnahm und in seine Richtung hastete. Er öffnete die Beifahrertür.
„Stellen Sie ihre Tasche einfach nach hinten“, sagte er.
Das Mädchen tat es. Verstohlen musterte er sie. Schwarz geschminkte Lippen in einem blassen Gesicht. Etwas gewöhnungsbedürftig. Ebenso das Glitzerding in ihrem Nasenflügel und das Halsband, das mit seinen Nieten und Stacheln eher zu einem Kampfhund gepasst hätte.
Na, sie würde ihn schon nicht beißen.
Dann saß sie neben ihm und er fädelte sich in den Autobahnverkehr ein.
„Habermann, Josef Habermann“, stellte er sich vor.
„Sag einfach Maria zu mir“, vervollständigte das Mädchen die Vorstellungszeremonie. Sie duzte ihn. Wahrscheinlich war das bei der heutigen Jugend einfach üblich.
„Ich fahre aber nicht nach Bethlehem.“
Das Mädchen guckte irritiert, aber nur für einen Moment, und erwiderte: „Das hättest du mir auch früher sagen können.“
Jetzt war es an Josef, irritiert zu sein. Gar nicht dumm. Hatte seinen Witz mit der Weihnachtsgeschichte gleich begriffen. Und Humor hatte sie auch. Das gefiel ihm. Sollte sie anders sein?
„Ich fahre nach München. Bis dahin kann ich dich mitnehmen.“
Seine Passagierin seufzte erleichtert. „Super, heute ist mein Glückstag.“
Vielleicht, vielleicht auch nicht, dachte Josef.
Laut sagte er: „Ich besuche meinen Sohn und seine Familie. Will da die Feiertage verbringen.“
Sie schwieg. Es nieselte. Die Scheibenwischer machten wupp, wupp. Keine Chance auf weiße Weihnacht. Was kümmerte es ihn. Auf der Gegenspur kam ihm eine endlos lange Lichterkette entgegen, wie für einen gigantisch großen Weihnachtsbaum gemacht. Ihm kam der Gedanke, dass er schon lange keinen Weihnachtsbaum mehr geschmückt hatte. Wozu auch. Metha war nicht mehr. Seitdem mussten seine Kinder damit klar kommen, dass er sie zu Weihnachten abwechselnd mit seinem Besuch beehrte. Ob es ihnen nun passte oder nicht. Unwillkürlich schob er die Unterlippe vor. Das Mädchen neben ihm dürfte ungefähr in Torstens Alter sein, überlegte er.
„Und du? Geht’s in Urlaub. Skilaufen?“
„Nein, ich fahre zu meinen Eltern.“
„Bist du Studentin?“
„Ja.“
„Und was studierst du so?“
„Hör mal, bist du bei der Kripo?“
„Schon gut.“
Er verstummte. Es war immer dasselbe. Er ging allen auf die Nerven. Wie bei seinem Großen. Wieso kam er mit den Leuten nicht mehr klar? Er war eben ein alter nervtötender Sack. Aber gut genug, das Mädchen zu fahren. Wie kalt sie alle sind, dachte er. Er fühlte, wie sich ein kleiner roter Punkt in seinem Gehirn bildete und immer größer und heißer wurde.
Das Schweigen wurde dichter und füllte wie ein Nebel das Auto aus. Wupp, wupp. Er fuhr in den grauschwarzen Spätnachmittag und träumte. Es war sein Lieblingstraum. Er war der Zigarettenstummelmann. Diesmal wählte er seine Opfer auf der Autobahn aus. Er fuhr an ihnen vorbei, schön langsam und wenn er auf gleicher Höhe mit ihnen war, fixierte er sie mit seinem Blick. Zwei schwarze Augenhöhlen, in denen große glimmende Zigarettenstummel staken. Damit hypnotisierte er sie, drang mit ihnen in das Gehirn seiner Opfer ein, machte sie willenlos. Sie mussten ihm folgen, eine lange Autokarawane. Dann bremste er und stellte das Auto quer zur Fahrtrichtung. Die Anderen auch. Lichter rasten auf sie zu ...
„Ich hab’s nicht so gemeint, sagte das Mädchen.
„Schon gut.“ Gar nichts war gut. Gesagt war gesagt und so sprang man mit ihm nicht um. Er war der Zigarettenstummelmann.
„Ich bin einfach nur müde.“
„Ja, schon in Ordnung.“
„Falls es dich interessiert, ich studiere Geologie.“
„Aha.“
Es interessierte ihn nicht mehr. Sie war kalt wie die Anderen, wie Torsten, dessen Frau, wie seine Tochter Inge, die Enkelkinder, seine Bekannten ... Äußerlich Menschen, aber in Wirklichkeit Frösche, große kalte glitschige quakende Frösche. Josef schwieg. Das Mädchen seufzte und lehnte sich in ihrem Sitz zurück.
Josef hing seinen Träumen nach. Jetzt kam die Stelle, vor der er sich immer ein wenig fürchtete. Der Regen. Er ging zwischen den qualmenden Blechtrümmern hindurch und der Himmel schoss ein Trommelfeuer aus grünen Fleischklumpen auf die Autobahn ab, noch zuckende kalte Froschleiber, die als kleine Biometeoriten auf der Straße zerplatzten, mit dumpfem Knallen auf Autodächer schlugen, Scheiben zerbersten ließen. Von fern waren Sirenen zu hören und die Frösche waren überall. Viele lebten noch und krochen über die Fahrbahn. Er bemühte sich, sie nicht zu zertreten, versuchte es wirklich, aber es waren einfach zu viele. Er musste es tun. Oh Gott, er musste es wieder tun.
Als er das Raststättenschild bemerkte, setzte Josef den Blinker.
„Zeit für einen Kaffee. Ich lad dich ein“, sagte er.
Er suchte sich einen Parkplatz ziemlich weit hinten. Dann drehte er sich zu dem Mädchen hin. Mit Genugtuung registrierte er, wie sie erschrocken die Augen aufriss und wegzuckte, wie ihre Hand hektisch nach dem Türgriff fummelte. Er ließ die Zigarettenstummel aufglimmen und ihre ganze Gestalt erschlaffte und fiel willenlos nach hinten.
Er war der Zigarettenstummelmann.

 

Hallo Sturek,

Fehlerfreier, guter Stil, gibt's nicht viel zu zu sagen.

Inhalt:

Mmmh, als würde die Geschichte nach Seltsam gehören, du sie aber lieber in Horror posten wolltest und dann schnell noch hinten rangefügt hast, dass der Zigarettenmensch von der Sorte ist, die Anhalterinnen filetieren.

Eine gute Geschichte, die sich aber in Bezug auf die Flagge, unter der sie segelt, als Mogelpackung erweist: Hier gruselt, schockt oder verstört nix und die Nummer mit den Fröschen kenn ich aus Magnolia. Oder ist das irgendwie 'n Topos?

Grüße,

Jan-Christoph

 

Hallo Sturek,

Stilistisch ist die Geschichte gut gelungen, du vermagst passend zu den einzelnen Szenen stets die richtige Atmosphäre zu vermitteln. Dazu kommen noch solche besonderen Kunstgriffe wie:

noch zuckende kalte Froschleiber, die als kleine Biometeoriten auf der Straße zerplatzten
:D
So wirkt auch die Gedankenwelt des Protagonisten glaubwürdig.
Von der eigentlichen Handlung her ist die Geschichte eher ein kleiner Schocker (oder eine kleine Absurdität?) für zwischendurch. Du lieferst hier keine genaueren Ausführungen über die Natur des Zigarettenstummelmannes, über seine Vorgeschichte oder dergleichen, aber das ist auch nicht unbedingt notwendig, wenn man sich der Richtung des Horrors zuwendet, die sich mit den makaberen Schrecknissen hinter vermeintlichen Alltäglichkeiten beschäftigt.
Eine sehr gelungene Geschichte.


Gruß,
Abdul

 

Hallo Proof und Abdul Alhazred,

erstmal danke für eure Kritiken. Freut mich, dass euch die Story insgesamt gefällt.

@ Proof: Wenn ich so einen Typen träfe, wäre mir schon etwas mulmig zumute.
Beim Schreiben denke ich auch nicht darüber nach, in welche Rubrik die Story passen könnte.
Froschregen kommt öfter vor. Neben Magnolia (den ich leider nicht gesehen habe) zb. in einer Kurzgeschichte von King und glaube ich bei Akte X. Ich habe mich bemüht, sie nicht einfach herunterprasseln zu lassen, sondern dem Ganzen eine Funktion zu geben.

@ AbdulAlhazred:
Ja, die Vorgeschichte des Zigarettenstummelmannes könnte man sicher noch erzählen, aber das sprengt dann vielleicht schon den Rahmen einer Shortstory
Irgendwann mach ich das eventuell.

Grüße
Sturek

 

Hi Sturek.

Ich finde, sie gehört hierher. Du beschreibst den Horror nicht mit der Holzhammermethode, er schlängelt sich weit im Hintergrund zwischen den Zeilen hindurch.
Auch den Begriff "Zigarettenstummelmann" finde ich gelungen. Klingt kindlich, erzeugt in diesem Zusammenhang aber wahrlichen Schrecken.
Meiner Meinung nach bedarf es keiner detailierteren Beschreibungen der Taten.

Fazit: Erschreckend, versteckter Horror.

Gruß! Salem

 

Hallo Salem,

freut mich, dass du es so siehst und der Name "Zigarettenstummelmann" sollte tatsächlich Grauen erzeugen.

Eine detaillierte Beschreibung der Taten hätte glaube ich gar nicht so richtig in die Geschichte gepasst.

Grüße
Sturek

 

Servus Sturek!

Kurz und knackig, dabei schnörkellos geschrieben und schön "irrsinnig". Im Grunde hat's mir ebenfalls sehr gut gefallen, vor allem die anfängliche Charakterisierung der Anhalterin und der eingestreute Weihnachts-Wortwitz.

Was man aber in jedem Fall bemängeln muss, ist die Vorhersehbarkeit der Geschichte. Dass der Typ ein Killer ist und dazu noch ordentlich einen an der Waffel hat, ist im Prinzip sofort klar. Junge Anhalterinnen an der Autobahn werden nunmal für gewöhnlich umgebracht, vor allem in der Horrorrubrik :D .

Letztendlich stört mich der eindeutige Handlungsverlauf aber nicht sonderlich, da du viele interessante Metaphern anbringst und die Hypnose-Fähigkeit von Josef doch noch recht originell ist.

Fazit: Alles in allem 1A! :thumbsup:

Ciao, Marvin

PS: Glimmstengelmann klingt auch nicht schlecht ...

 

Hallo Marvin,

Junge Anhalterinnen an der Autobahn werden nunmal für gewöhnlich umgebracht, vor allem in der Horrorrubrik
Stümmt. :D
Ich habe versucht, durch das Eintauchen in die Psyche des Zigarettenstummelmannes für Originalität zu sorgen. Das war für mich auch der eigentliche Antrieb beim Schreiben.

Glimmstengelmann ... mmmh, auch nicht schlecht, aber finde ich nicht ganz so gruselig.
Danke auch für deine Meinung.

Grüße
Sturek

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom