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Der Zirkus

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30.10.2008
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Der Zirkus

Der Tag bricht an, es ist ein Spätsommermorgen. Von den Dächern der Baracken heben sich Dunstschwaden in einen wolkenlosen Himmel. Das Lager liegt ruhig, es ist still. Menschen stehen schweigend in einem großen Raum. Erste Sonnenstrahlen dringen ein und eine Stimme fragt in anteilnehmender Sorge:
„Sagen Sie, gute Frau, was hat das Kind?“
„Es liegt im Fieber, die Nacht war schlimm, aber es ist mir, als wäre es überstanden.“
Langsam dreht der Junge sein Gesicht, die Augen glänzen, als er zu sprechen beginnt: „Mutter, sag mir bitte, was du draußen vor dem Fenster siehst, was geschieht?“
„Mein Sohn, so weit ich sehen kann, erblicke ich lauter Wagen von stampfenden Pferden gezogen. Mit welcher Disziplin die Rosse im Gespann einhergehen, bunte Federn tragen sie auf ihren Häuptern und die Karren, ich sag’s dir, herrlich geschmückt und überall sind Fahnen. Leute, hundert, nein tausend springen ausgelassen auf der Straße. Sie tanzen und singen, und da, ich seh's so deutlich, als wär ich unter ihnen, da ist ein Clown, dort ein zweiter und ein dritter, ein vierter. Sie schlagen Räder, zaubern lustige Sachen aus ihren Hüten und fortwährend bewerfen sie die Menge mit unzähligen Blüten. Sie winken zu uns her, ich seh's ganz deutlich, sie meinen uns hier, hinter dem Fenster.“
„Mutter, siehst du auch wilde Tiere?“
„Ja, wilde Tiere, eins nach dem anderen! Kamele, Elefanten, unvorstellbar in ihrer Größe und gewaltig. Und dort, in den Käfigen, ein Löwe, ein Bär und zwei Tiger, wie ihre Zähne blitzen, zum Fürchten ist es. Dem Himmel sei's gedankt, sind sie alle hinter Gitter, aber der bloße Anblick, als hätten sie Feuer im Mund, ich sag's dir, beinahe unerträglich ist mir diese Wildheit.“
„Mutter, sag es schnell, was siehst du noch?“
„Ja, mein Junge, sie bleiben stehen, mitten auf der Straße! Viele Hände arbeiten unentwegt, ein Gerüst wird aufgestellt, und da, eine große Plane auseinander gelegt. Kind, jetzt weiß ich's, es ist ein Zirkus, der gekommen ist! Hörst du sie, hörst du, wie die Menschen jubeln?“
„Mutter, ach liebe Mutter, bitte gehe mit mir dahin.“
„Ja mein Sohn, dorthin wollen wir gehen, bald, wir werden uns schön machen und die besten Kleider anziehen und dann gehen wir, ich versprech es dir.“
„Mutter sieh, ein Mann tritt ein, er winkt so fordernd in den Raum, als hätte er großen Unmut. Sag, was möchte er von uns?“
„Ach Junge, du irrst dich, der Herr will uns nur den Weg zeigen, dorthin, wo sich die Waschräume und Duschen befinden. Komm, ich trage dich.“
„Ja, Mutter“, glücklich lächelt das Kind.

 

Hallo Gernot,

das ist eine schöne kleine Geschichte. Und ich muss zugeben, du hattest mich wirklich. Bis zum Ende wusste ich nicht, worum es ging.

Was mich irritiert hat, war die verwendete Sprache. Die kommt mir zu gediegen vor für die Leute, die da sprechen. Offensichtlich ist das Kind ja zumindest so jung, dass die fremde Stimme es als Kind erlebt.

Natürlich habe ich in der Zeit nicht gelebt. Hat man damals so gesprochen?

Sonst habe ich daran nichts auszusetzen - mir hats gefallen.

yours

 

hallo yours truly

In diesen Lagern waren sicherlich auch Menschen, die sich einer gediegenen Sprache bedienten. Das Problem an der Geschichte ist, dass ich in der Wahl der Sprache 50 oder 100 Jahre zu weit ausgeholt habe. Aber irgendwie mag ich diese seltsame Mischung.

schöne Grüße
Gernot

 

Hallo Gernot!

Eine Holocaust-Szene wie man sie selten liest. Ohne auch nur eine Andeutung von Gewalt zeigt sie dennoch das Ausmaß der Tragödie.
Wirklich beeindruckend!

Zu Beginn ist der Text nicht ganz so gelungen.

Der Tag bricht an, es ist ein Spätsommermorgen. Von den Dächern der Baracken heben sich Dunstschwaden in einen wolkenlosen Himmel. Das Lager liegt ruhig, es ist still. Menschen stehen schweigend in einem großen Raum. Erste Sonnenstrahlen dringen ein und eine Stimme fragt in anteilnehmender Sorge:
"Der Tag bricht an." würde genügen.

"Das Lager liegt ruhig." würde auch genügen. Denn: "Menschen stehen schweigend ..." ist ja dann nochmals die Stille innerhalb der Baracken.

"Erste Sonnenstrahlen dringen ein und ..." Erste kann raus. Der Tag bricht an, der Himmel ist wolkenlos, wie der Leser bereits erfahren hat, also sind die Sonnenstrahlen auch die ersten. Damit nun die "Sonnenstrahlen" nicht so nackt dastehen, würd ich ihnen eine andere Eigenschaft verpassen.

Gruß

Asterix

 

Gernot,

dir ist da ein ganz schön intensives Geschichtchen gelungen. Muss zugeben, dass ich erst die Koms gelesen habe und so wusste, was auf mich warten würde, aber dadurch hat die Geschichte seltsamerweise nicht an Kraft verloren. Ich fürchtete mich gar ein bisschen davor, wie du dieses wirklich gut aufgebaute Bild am Ende auffasern würdest. In meinen Augen ist dir das sehr elegant gelungen.
Gar nicht so einfach, da es oft nach Effekthascherei wirkt, wenn man sich an solch ein heftiges Thema wagt und dann auch noch die Pointen-Form wählt.
Bin beeindruckt!

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo Gernot,

für mich wirkt die Grundidee von dem Film: Das Leben ist schön übernommen. Da die gesamte KG nur darauf basiert, kann ich dann so einer Geschichte nichts mehr abgewinnen. Für mich ist es - wenn auch nicht juristisch, aber moralisch - ein Diebstahl und nimmt mir jede Freude am Text.

Viele Grüße
bernadette

 
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hallo Asterix, ich werde Morgen nach deinen Vorschlägen überarbeiten, gebe dir bei deinen Anmerkungen recht.

danke Weltenläufer für das Lob.

liebe bernadette, diesen Text schrieb ich vor ein paar Tagen und stellte ihn in einem anderen Forum ein, da war ebenfalls eine Userin, die von diesem Text an einen Film erinnert wurde.
Ich hatte von diesem Film bis dahin niemals etwas gehört, geschweige denn, dass ich ihn gesehen habe. Das kann vorkommen und macht mir auch nichts weiter, aber eines macht mir etwas aus: wenn ich des Diebstahls bezichtigt werde. Eigentlich ist es mir egal, was du von mir denkst, aber sei mit deinen Aüserungen ein bisschen vorsichtig und klage keine Menschen an, von denen du nicht weißt, ob du ihnen Recht oder Unrecht tust.

schöne Grüße
Gernot

 
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und da ich nun doch ein wenig angefressen bin, möchte ich gerne den Ursprung, also, wie ich auf die Idee zu dieser Geschichte kam, preisgeben.

Ein Forenfreund hat demletzt eine Geschichte geschrieben, welche um die Illusion hinter einem Fenster handelt. Ich war von diesem Text sehr beeindruckt und habe mir selbst eine Illusion gebastelt, Ergebnis: Der Zirkus

Diese Geschichte des Forenfreundes, der übrigens von meinen Text weiß und ihn sehr gut findet, wäre hier nachzulesen:http://www.verlorene-werke.de/veweneu/viewtopic.php?f=17&t=11912

Allein diese Geschichte brachte mich auf die Idee, was auch nachvollziehbar ist, wenn man sie liest.

schöne Grüße
Gernot

PS. falls du dich nachher entschuldigen willst, liebe bernadette, bitte ich darum, es nicht zu tun, ich brauch deine Moral nicht.

 

Hallo Bernadette!

für mich wirkt die Grundidee von dem Film: Das Leben ist schön übernommen. Da die gesamte KG nur darauf basiert, kann ich dann so einer Geschichte nichts mehr abgewinnen. Für mich ist es - wenn auch nicht juristisch, aber moralisch - ein Diebstahl und nimmt mir jede Freude am Text.

Die Idee ist doch alt: Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit.

Abgesehen davon, dass ich deine Wortwahl auch ... interessant finde, müsstest du, deiner Argumentation zufolge, ja "Das Leben ist schön" ebenfalls nur als Diebstahl betrachten.
Guck mal: http://en.wikipedia.org/wiki/The_Day_the_Clown_Cried - da gehts um einen Clown, der die Kinder auf dem Weg in die Gaskammer unterhält. Und am Ende lachen sie alle gemeinsam und das Gas kommt.

Und ich finde das Thema in Gernots Geschichte sehr schön wiedergegeben. Aber es steht dir natürlich frei, als Diebstahl zu betrachten, was du möchtest.

Bis bald,

yours

 

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