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Der Zirkuspapagei
Als Cindy aus der Schule kam, hatte sie eine tolle Nachricht für Mama: „Unten auf der Wiese ist ein Zirkus!“
Aber Mama hatte etwas noch viel tolleres zu berichten: „Stell dir vor, uns ist heute Vormittag ein Papagei zugeflogen!“
Wenige Augenblicke später stand Cindy mit Mama im Keller und betrachtete aufgeregt den Vogel, der in einem großen Käfig auf einer Holzstange saß. Eigentlich war sie etwas enttäuscht. Die Papageien in Bilderbüchern waren immer riesengroß und bunt. Dieser war nicht größer als eine Krähe; und er war ganz grau, nur die Schwanzspitze war rot.
Mama erklärte: „Das ist ein Graupapagei. Er lief vorhin auf unserem Rasen herum. Papa hat eine Decke über ihn geworfen und ihn ins Haus geholt. Zum Glück hatte Oma Geli noch diesen alten Käfig auf dem Dachboden.“ Oma Geli war Cindys Uroma – oder, wie sie selbst immer sagte, Cindys Tick-Tack-Oma. Sie hatte auch einmal einen Vogel gehabt, aber das war ganz, ganz lange her. Noch bevor Cindy in Mamas Bauch gewesen war. Cindy erinnerte sich nicht daran, was für ein Vogel das gewesen war, obwohl Oma Geli es ihr einmal erzählt hatte.
Jetzt fragte Cindy: „Darf man das denn? Einen Vogel einfach fangen, mein’ ich.“
„Eigentlich natürlich nicht“, gab Mama zu. „Aber hier ist es etwas anderes. Papageien leben ja normalerweise nicht bei uns in Deutschland, sondern in den Tropen. Graupapageien kommen zum Beispiel aus Afrika – sagt jedenfalls Papa. Und wo doch jetzt bald der Winter anfängt, würde so ein Papagei draußen bestimmt erfrieren. Deshalb haben wir ihn ins Haus geholt.“
„Aha.“ Cindy wollte noch fragen, ob die Leute, bei denen der Papagei bis jetzt gelebt hatte, ihn nicht vermissen würden. Aber Mama fiel plötzlich ein, daß sie sich um’s Essen kümmern mußte. Sie ging nach oben in die Küche.
Kaum war Mama weg, sagte der Papagei leise und mit krächzender Stimme: „Also, Cindy, sei jetzt bitte so freundlich und mach’ den Käfig auf. Ich muß zurück in den Zirkus. Wegen der Vorstellung heute Nachmittag.“
Cindy starrte ihn mit offenem Mund und großen Augen an. Dann drehte sie sich um und lief die Treppe hinauf.
„Mama! Mama!“ rief sie. „Der Papagei hat gesprochen! Er kommt aus dem Zirkus! Er muß heute Nachmittag wieder da sein!“
„So?“ fragte Mama grinsend. „Na, ich hab’ ihn zwar noch nicht sprechen gehört, aber das kann schon sein. Von allen Papageien sprechen Graupapageien nämlich am besten – sagt Papa.“
„Darf ich ihn freilassen?“
Das wollte Mama aber nicht. Sie meinte, Papageien könnten zwar sprechen, aber sie wüßten gar nicht, was sie sagten. „Sie plappern nur nach, was sie irgendwo gehört haben“, wußte sie ganz sicher. Bestimmt hatte Papa es ihr gesagt.
Cindy war sich nicht ganz so sicher wie Mama. Schließlich waren Zirkuspapageien etwas Besonderes. Und Papa hatte ja nicht gewußt, daß dieser aus dem Zirkus war.
Cindy ging wieder in den Keller.
„Ich darf dich nicht freilassen“, teilte sie dem Vogel mit.
„Würde es dir Spaß machen, eingesperrt zu sein?“ krächzte der Vogel. Cindy fand, daß es etwas vorwurfsvoll klang.
Sie dachte über die Frage nach. „Nein, das würde keinen Spaß machen.“
„Also, läßt du mich nun raus oder nicht?“ Diesmal fand Cindy, daß der Papagei ungeduldig klang. Aber es war eine große Entscheidung für ein kleines Mädchen. Große Entscheidungen dauern nun einmal etwas länger. Allerdings konnte Cindy gut Entscheidungen treffen. Sie ging ja auch schon in die erste Klasse.
Es war gar nicht so leicht, die Käfigtür zu öffnen, doch Cindy schaffte es.
Der Papagei kletterte wortlos heraus und flog durch die offene Kellertür in den Flur. Dort wartete er, bis Cindy ihm die Haustür aufmachte.
Cindy stand noch im Garten und sah ihm nach, als Mama herauskam. Sie sah erschrocken und wütend zugleich aus; also hatte sie es schon gemerkt.
Cindy freute sich, daß der Papagei wieder frei war. Über die drei Tage Stubenarrest freute sie sich nicht ganz so sehr, aber die würden schon vorbeigehen. Vormittags war sie ja sowieso in der Schule, so daß sie in den Pausen mit ihren Freundinnen spielen konnte.
Am nächsten Tag nach der Schule hatte Mama schon wieder eine Überraschung bereit. Jemand hatte einen Briefumschlag in den Briefkasten geworfen. Auf dem Umschlag stand: „Cindy“.
Cindy machte den Umschlag auf und fand drei Freikarten für den Zirkus. Und einen kleinen Zettel, auf dem in krakeligen Buchstaben stand: „DANKE“.
Der Stubenarrest wurde um einen Tag verschoben. Zum Glück hatte Papa heute Nachmittag frei. So konnten sie alle zusammen in die Vorstellung gehen.
Es war herrlich. Es gab Pferde und Clowns und dressierte Hunde und Seiltänzer. Aber die beste Nummer war der Papagei. Er hieß Graf Plapperviel und konnte singen, rechnen und Fragen beantworten.
Auf dem Weg nach Hause fragte Mama: „Glaubst du, das war derselbe Papagei?“
Papa antwortete: „Wer weiß? Vielleicht hat Cindy in der Schule von dem entflogenen Vogel gehört. Auf jeden Fall war er unglaublich gut dressiert. Fast hätte man denken können, er weiß, was er sagt.“
Daraufhin lachten Mama und Papa sehr laut.
Natürlich hatten sie nicht bemerkt, daß der Papagei Cindy während der Vorstellung zugeblinzelt hatte.
Aber auf den Stubenarrest haben sie für dieses Mal noch verzichtet.