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Der Zug

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19.06.2001
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Der Zug

DER ZUG

Prolog
David Altman haßte das Zeugenschutzprogramm. Es hatte ihn aus einem mehr als bequemen Leben in das beschauliche Städtchen Wells City verschlagen. Viertausend Einwohner, eine Arbeitslosenquote von fast erstaunlichen sieben Prozent, in allen Himmelrichtungen angrenzende Maisfelder, ein Bahnhof, fünf Supermärkte, sowie eine Kirche, die vor vierzehn Jahren als kleine architektonische Sensation im Umkreis von zweihundert Meilen galt. Dazu kamen noch all die vielen städtischen und privaten Einrichtungen, die man in typischen nordamerikanischen Kleinstädten vorfand. David Altman hieß früher Mitch Levinson, und war kurz davor gewesen, die Karriereleiter eines mittelgroßen New Yorker Verlages nach oben zu klettern, bis ihn ein nächtlicher Vorfall in einer spärlich beleuchteten Seitenstraße sein bis dahin bis ins kleinste Detail durchplantes Leben gründlich vermasselte.
Manchmal, wenn die am Tag alles beherrschende Hitze nachts etwas abkühlte, lag David nackt mit den Armen hinter seinem Kopf verschränkt auf dem Bett und starrte aus dem Fenster hinaus, dachte an diese eine Nacht, die alles von Grund auf für ihn verändert hatte. An diese eine Nacht vor vier Jahren in New York. Die Stadt, in der David sich heimisch gefühlt hatte. Und nun, seit acht Monaten, lebte er in Wells City, irgendwo im Westen der Vereinigten Staaten.

Wells City, 14. Oktober, 04:28 Uhr
Das Zirpen der Grillen war unerträglich laut. David stand kopfschüttelnd auf und ging zum offenen Fenster. Draußen flogen unzählige Mücken vor den hell leuchtenden Lampen umher, die um das Haus herum angebracht waren. Lästige Plagegeister, dachte David und schlug sich auf den Arm. Zufrieden lächelte er, als er den kleinen Blutfleck sah. „Blöde Viecher!“ Er sah zum Wecker, der auf der schwarzfarbenen Kommode stand. Vier Uhr Dreißig. Viel zu früh, um aufzustehen. Gähnend langte er zum Stuhl und schnappte sich die schwarzen Shorts. Dann ging er in die Küche, um Kaffee für Mrs. Winterblow und sich zu kochen. Die alte Frau liebte den Kaffee von David. „Noch nie habe ich einen besseren Kaffee getrunken, als den von Ihnen, Dave.“ hatte sie gesagt. Lächelnd schaltete David die Kaffeemaschine ein. Klar, dachte er, Kaffeekochen kann ich. New Yorker Mischung. Fünfzehn Minuten später hörte er, wie im oberen Stock des Hauses eine Tür sich öffnete und ein schlurfendes Geräusch die hölzerne Treppe herunterkam. „Der Kaffee ist in drei Minuten fertig, Mrs. Winterblow.“ rief er laut.

Wells City, 14. Oktober, 04:53 Uhr
Kathy Gardner räkelte sich seufzend im Bett. Sie sah zu Billy, der am Ende des Bettes saß und nervös an der Marlboro zog. „War schön.“ flüsterte sie.
„Ja.“ antwortete Billy knapp. „War es.“ Er sah sie an. „Hör mal...“
„Hm?“ Kathy setzte sich aufrecht. „Was ist denn los?“
„Wir haben doch darüber geredet, weißt du noch? Das mit Melissa.“
Enttäuscht lehnte sich Kathy an die Wand. Sie wußte, was kommen würde. „Du willst nicht, oder?“
„Nein.“ Billy hob die Arme. „So ist es nicht. Es ist nur...“
„Was, Billy? Was?“
„Es ist nicht so einfach.“ sagte Billy. Er aschte ab und stand auf. „Richard würde es nicht gefallen. Er ist ein mächtiger Mann in Wells City, Kathy. Sehr mächtig.“
„Na und?“
„Na und?“ Er öffnete das Fenster und warf die Zigarette nach draußen. „Was soll denn die Frage? Was glaubst du eigentlich, wie er reagieren wird, wenn ich mich von seiner Tochter scheiden lasse, um...“ Er schluckte und hielt inne. Verstohlen sah er zu Kathy.
Sie nickte. „Verstehe, Billy. Okay... Ich verstehe. Schon gut. Ich bin eben nicht so eine feine Frau wie Melissa.“ Kathy hielt sich eine Hand vor den Mund. Nicht weinen, befahl sie sich. Mit festem Blick, so gut es ging, sah sie zu Billy. „Also... Du fickst mich...“
„Kathy...“
„Nein! Nein! Du fickst mich, versprichst mir das Blaue vom Himmel. Und wenn es darauf ankommt...“ Sie sah nach oben. „Und wenn es darauf ankommt, ziehst du deinen kleinen Schwanz ein und kneifst. Das ist... Das ist Scheiße, Billy. Einfach Scheiße!“ Sie schüttelte den Kopf und faßte einen Entschluß. „Vergiß nicht, den Wohnungsschlüssel auf den Tisch zu legen, wenn du gehst.“
Billy nickte und griff nach seinen Sachen. Er fingerte den Schlüssel aus der Hose und legte ihn vor Kathy aufs Bett. „Tut mir leid.“ murmelte er und ging schnell aus dem Zimmer.
„Scheißkerl!“ schrie ihm Kathy hinterher und zog sich die Decke über den Kopf. Sie fing an zu weinen.

Wells City, 14. Oktober, 05:38 Uhr
Es ist wie immer. Die Sonne taucht das Tal in eine warme Helligkeit. Die Berge haben für eine Weile den Kampf verloren, die kleine Stadt mit ihren mächtigen Schatten zu verhüllen. Wells City erwacht zum Leben.
Sheriff Daniel Kobe steht unter der Dusche und pfeift sein Lieblingslied, während er seinen dicken Bauch einseift. Gleich wird ihm Monica gebratenen Speck am Frühstückstisch servieren und die Kinder, Jim und Lucy werden sich streiten, wer als erster ins Bad darf.
Tony Conell, ein alternder Anhänger von Greenpeace, schaltet den Strom in seinem Feinkostladen an. Nur reinste Naturprodukte, Tony ist kein Freund von genmanipulierten Lebensmitteln. Er raucht wie immer einen Joint hinten im Lager, um anschließend die Waren, deren Verfallsdatum kurz vorm Überschreiten sind, ganz nach vorn in die klapprigen Regale zu legen.
Nancy Sherrigan küßt ihren Nachbarn, Curt Hasting, auf die Stirn, streichelt kurz über seinen Penis und zieht sich an. Ihre drei Kinder im Haus gegenüber wachen gleich auf und wollen Frühstück, bevor sie zur Schule gehen. Curt schläft noch. Speichel läuft aus seinem leicht geöffneten Mund und tropft auf die dreckigen Laken. Nancy hofft wie jeden Tag, daß ihr Mann, Jack, noch schläft und nicht weiß, daß sie sich seit vier Monaten Nacht für Nacht aus dem Haus schleicht, um sich von ihrem Nachbarn Curt ordentlich durchvögeln zu lassen.
Robin Meyers, der seinen Vornamen verabscheut, sitzt mit seinem Hund Franco auf der Terasse und stellt sich vor, wie es wäre, Frank Lowcraft zu verprügeln, der ihm tagtäglich das Geld für die Mittagspause abverlangt. Robin ist vierzehn Jahre alt und für sein Alter ziemlich schwach. Im Sport ist er eine Niete. Robin ist derjenige, den man auslacht, wenn es darum geht, Frust loszuwerden. Franco leckt Robin das Gesicht ab, in der Hoffnung, dafür Belohnung zu bekommen. Franco ist ein deutscher Schäferhund, sehr groß, gefährlich aussehend und doch harmlos. Robin wünscht sich manchmal, Franco würde eine wilde Bestie sein, die seine Peiniger in Stücke reißt.
Trevor Rowlins versetzt seinem alten Ford wie jeden Tag einen wütenden Tritt, da dieser nicht anspringen will. Drei Tritte, und der orangefarbene Wagen schnurrt wie ein Kätzchen. Trevor steigt ein und tätschelt zufrieden das Lenkrad, fährt dann auf die Carnigan Street, eine Straße, die mehr Löcher aufzuweisen hat, als der Mond sie bieten kann. Trevor ist auf dem Weg zum Schrottplatz, heute sollen vier alte Wagen den Weg ins Land der ewigen Motoren gehen. Er freut sich darauf. Das Geräusch, wenn ein Wagen zusammengepreßt wird, erregt ihn irgendwie.
Harold Jennings winkt wie immer den Leuten zu, denen er auf seiner morgendlichen Fahrt begegnet. Er ist der, der die Post ausfährt. Die Leute mögen ihn, denkt er zumindest. Wüßte er, daß er in den Augen der anderen als Vollidiot gilt, er würde sich sofort am nächsten Baum erhängen. Wenn er den Mut dazu hätte.
Wells City erwacht wie jeden Morgen, um wie jeden Tag, eigentlich wie immer, in seinem Trott zu versinken. Routine wie seit Jahren. Manche tun dies, manche tun jenes. Wie ein Uhrwerk geht Wells City seinem unweigerlichem Untergang entgegen. Die Stadt ist zu alt. Die Hoffnungsträger, junge und vielversprechende Menschen, verlassen ab einem gewissen Alter fluchtartig die Stadt, um woanders ihr Glück zu versuchen. Wells City wird am Alter sterben. Irgendwann. Nicht sofort. Es ist wie immer. Die Sonne taucht Wells City in ein warmes Licht. Es ist kurz vor dreiviertel Sechs. Wells City erwacht.
David Altman und Mrs. Winterblow sitzen in der Küche, trinken zusammen Kaffee, natürlich New Yorker Mischung, und unterhalten sich. Es ist wie immer. Wells City erwacht. Viertausend Menschen bringen Wells City zum Pulsieren... Auch wenn es ein eher schwacher Puls ist.

Wells City, 14. Oktober, 06:02 Uhr
„Ich denke nicht, daß heute etwas passieren wird, Mrs. Winterblow.“ sagte David lächelnd und trank einen Schluck Kaffee. „Ist denn in den letzten Monaten irgendwas passiert? Nein. Und... Ich muß gleich los.“
„Ach, Dave.“ Mrs. Winterblow winkte ab. „Hetzen Sie nicht immer so. In der Ruhe liegt die Kraft.“
„Ja, Mrs. Winterblow.“ David nickte und stellte die Tasse auf den Tisch. Es war einfacher, die Weisheiten der alten Frau zu bestätigen, man sparte sich unnötige Diskussionen. Das war eine der ersten Sachen, die David beherzigt hatte, seit er in Wells City angekommen war. Nein, dachte er kurz. Man hatte ihn hierher gebracht. Shit! „Soll ich Ihnen etwas aus dem Supermarkt mitbringen?“ fragte er und ging zum Kühlschrank, um die am Vorabend zubereiteten Sandwiches in den Rucksack zu packen.
Mrs. Winterblow überlegte und sagte: „Nein. Ich denke, ich habe alles, was ich brauche. Trotzdem Danke, Dave.“
„Schon gut. Keine Ursache.“
„Sie sind so ein freundlicher junger Mann, Dave. Ich kann es immer noch nicht richtig glauben, daß der liebe Gott mir so einen netten Untermieter geschickt hat.“
Eher das FBI, dachte David und nickte. „Ja, der liebe Gott...“ Er ging zur Tür.
„Ein Hemd liegt frisch gebügelt auf dem Stuhl vor Ihrem Zimmer, Dave.“ sagte Mrs. Winterblow.
Er drehte sich um. „Vielen Dank.“
„Haben Sie heute normalen Dienst?“
„Ja, bis halb Fünf. Ich dachte, ich gehe danach noch vielleicht ins Kino.“ David kratzte sich am Kinn. „Oder ein bißchen Pool spielen, drüben bei ‚Old Traffic‘.“
„Oh...“ Mrs. Winterblow nickte. „Nur zu, Dave. Es gibt hier genügend Angebote für junge Menschen.“
„Also bis heute Abend, Mrs. Winterblow.“ David lächelte und verließ die Küche.

Wells City, 14. Oktober, 06:58 Uhr
Scheißkerl! Kathy war immer noch stinkwütend auf Billy, als sie in den Bus stieg, um zum Bahnhof zu fahren. Vielleicht erwischte sie den Zug um halb Acht? Mal sehen... Sie mußte einfach raus aus der Stadt. Irgendwohin. Sie hatte einen kleinen Zettel an die Tür gehangen. „Eine Woche nicht da – Briefe bitte bei den Nachbarn abgeben“ hatte sie geschrieben. Es klang nicht wie ein Abschiedsbrief für immer. Sie saß am Fenster und beobachtete die Leute auf den Gehwegen. Ob Billy sie von Anfang an nur benutzt hatte? Als williges Spielzeug? Ihre Lippen formten ein stummes „Shit“. Der kleine Junge auf dem Sitz gegenüber hatte es mitbekommen und grinste sie frech an. Kathy grinste zurück. Das Grinsen des Kleinen tat gut. Für einen kurzen Moment hatte sie Billy vergessen. Billy... Sie seufzte und lehnte sich zurück. In der Tasche, die sie neben sich auf den Boden gestellt hatte, befanden sich ein paar Sachen zum Anziehen, drei Bücher von Rainer Innreiter, ein eher unbekannter Schriftsteller aus Österreich, vierhundert Dollar in Zehnern und Zwanzigern, sowie ihr Führerschein. Alles, was man brauchte, um für eine Weile zu verschwinden.
„Verlassen Sie Wells City?“ fragte der Junge.
Kathy nickte. „Eine Woche mal abschalten, Kleiner.“
„Kommen Sie wieder zurück?“
„Nur eine Woche. Sagte ich doch.“
„Oh.“ Der Junge lächelte und sah dann wieder aus dem Fenster.
Danke für das Gespräch, dachte Kathy. Kommen Sie wieder zurück? Was für eine interessante Frage. Und was, wenn ich gar nicht mehr zurückkomme? Kathys Gedanken drehten sich um diese Überlegung, bis sie den Bahnhof von Wells City erreicht hatte.

Wells City, 14. Oktober, 07:24 Uhr
Die Stadt ist erwacht. Innerhalb von wenigen Minuten herrscht reges Treiben in der Jericho Street, der Hauptstraße von Wells City. Die Läden öffnen. Der Geruch von frischem Obst aus ‚Hamptshires Kolonialwaren‘ verschmilzt mit dem Gestank von ‚Blueberrys Kohlelager‘. Autos hupen, Kinder, auf dem Weg zur Schule, pfeifen entrüstet zurück. Die Sonne scheint und läßt die Nacht vergessen. Es ist wie immer.
Jerry wacht auf der Parkbank auf und geht zum Pinkeln ins Gebüsch, gleich neben dem Autosaloon von Jack Sherrigan, der am Abend Nancy beim Essen davon erzählen wird. „Warum sperrt man den alten Penner nicht einfach ein?“ Auf die Idee, Jerry etwas Geld zu geben, vielleicht sogar einen Hilfsjob anzubieten, kommt er nicht.
Paula Weinstein und ihre Schwester Jacky betreten das Office, um Sheriff Kobe mitzuteilen, daß er sich endlich um die Vandalen kümmern soll, die jede Nacht den Garten der Weinsteins verwüsten. Kobe sitzt gelangweilt am Schreibtisch und hört den beiden alten Frauen dennoch aufmerksam zu. Er versucht sich zu erinnern, wann es das letzte Mal ein Gewaltverbrechen in Wells City gegeben hat. Sehr lange ist das schon her. Fast fünfzehn Jahre.
Andy Hewitt sitzt zufrieden auf dem Balkon seines Hauses und schaut die Jericho Street hinab. Er hat einen überwältigenden Ausblick. Sein Haus steht am Ende der Straße. Er sieht die Kinder, die quer über den Rasen gehen, obwohl dies verboten ist. Er bemerkt die Frau, die verzweifelt neben ihrem Auto steht, das offenbar nicht anspringen will. Keiner hält an, um zu helfen. Andy knabbert Sonnenblumenkerne und sieht, wie Frank N. Furter Streit mit Richard O’Brian anfängt. Beide stehen auf der Veranda, mit Kaffee gefüllte Tassen in den Händen haltend. „Verdammte Schwuchteln!“ murmelt Andy und erinnert sich daran, wie man mit Homos verfahren hatte, als er noch bei der Army war. „Verdammte Schwuchteln!“ sagt Andy zu sich und schielt zu der Schrotflinte, die griffbereit neben ihm liegt. Man kann nie wissen, was an einem Tag wie diesen passieren kann. In Gedanken hat Andy die beiden streitenden Männer längst erschossen. Die beiden Männer gehen wieder zurück ins Haus. Seine Frau ruft nach ihm. Mühsam steht er auf und geht ins Schlafzimmer, um Martha in den Rollstuhl zu setzen.
Die Sonne scheint über Wells City. Es ist ein warmer Herbsttag. Es ist wie immer.

Wells City, 14. Oktober, 07:48 Uhr
„Ganz sicher, daß er ausgefallen ist?“ fragte Kathy den jungen Mann am Schalter. Unglaublich, ausgerechnet heute fiel der Zug aus. „Kommt heute überhaupt noch ein Zug?“
„Moment.“ David ließ gekonnt seine Finger über die Tastatur gleiten. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er die Frau. Sie sah mitgenommen aus. Irgendwas hat sie, dachte er. Etwas, daß ihr keine Ruhe läßt. Ob sie Wells City für immer verlassen will? „Tut mir leid. Da kommt heute keiner mehr.“
Kathy trommelte nervös mit den Fingern auf die Ablage vor ihr. Mist! „Wenn heute kein Zug mehr kommt...“ Sie sah David verschmitzt an. „Was machen Sie dann eigentlich hier?“
David zuckte mit den Schultern. „Solange es Geld einbringt, ist es mir ziemlich egal.“
„Aha.“ Kathy holte eine Packung Zigaretten hervor. „Ich darf doch, oder?“
Er nickte kurz. Sicherlich hatte sie das überdimensionale Rauchen-Verboten-Schild direkt am Eingang des Bahnhofes übersehen. „Nur zu. Es interessiert ja doch niemanden.“
„Mein Name ist Kathy Gardner.“
„Oh...“ Damit hatte er nicht gerechnet. „Mitch, ähm... David Altman.“
„Mitch oder David?“ Kathy zog an der Zigarette.
„David.“ sagte er verlegen. „David Altman.“
„Okay.“ Sie blies den Qualm aus und hustete leicht. „Gibt es einen Grund, warum er ausgefallen ist, David?“ wollte sie wissen.
David, innerlich auf Flirt eingestellt schluckte und sagte: „Der Computer meldet Bauarbeiten. Deshalb.“ Er sah sie an. Hübsch war sie. Normale Größe. Feste Brüste, die sich bei jedem Atemzug hoben. Gepflegte Hände. Langes, dunkles Haar... „Wie gesagt. Tut mir leid!“
Kathy nickte. „Schon gut. Versuchen wir es morgen einfach wieder, nicht wahr?“
Ihre Enttäuschung war unüberhörbar. David räusperte sich. „Ich denke, bis morgen werden die Bauarbeiten behoben sein.“
„Klar, wenn Sie das sagen, David.“
Und dann, plötzlich, hörten beide aus der Ferne ein leises Pfeifen. Ein Zug kündigte sich an.
„Unmöglich!“ sagte David. „Was soll das denn werden?“ Er überprüfte den Fahrplan.
Kathy warf die Zigarette weg und sah interessiert in die Richtung, aus der das Pfeifen kam. „Heute ist wohl doch mein Glückstag.“

Wells City, 14. Oktober, 07:55 Uhr
So einen Zug hatten weder Kathy noch David jemals in ihrem Leben gesehen. Die vier Wagons, die an die völlig durchrostete Diesellok angekoppelt waren, hatten keine Fenster. Nicht einmal Türen. Die Scheiben des Führerhauses der Lok waren dunkel geschwärzt, so daß man nicht in das Innere blicken konnte. Jeder Wagon hatte eine unterschiedliche Farbe. Der erste war schwarz, der zweite gelb, der dritte grün und der vierte blau. Die Lok war grau.
„Was soll das?“ David war aus seinem Schalterhäuschen herausgekommen. „Wollen die mich verarschen?“
„Sagen Sie es mir, David.“ antwortete Kathy, gebannt auf den Zug starrend. „Haben Sie so etwas schon mal gesehen?“
„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, was das soll.“
„Vielleicht sollten Sie mal nachsehen, hm?“ Sie gab David einen leichten Schubs.
„Was soll ich denn nachsehen? Nirgends sind Türen, geschweige denn Fenster.“ sagte David verärgert. „Vielleicht fährt er ja gleich weiter.“ Die Motoren der Lok liefen noch. Er hatte plötzlich nur einen einzigen Gedanken. Bitte, fahr einfach weg. Einfach weiter. Die Motoren gingen aus. „War ja klar.“ murmelte David und griff unwillkürlich nach Kathys Hand. „Kommen Sie mit. Alleine will ich mir das nicht aus der Nähe ansehen.“
„Sie tun mir weh, David!“ rief Kathy und riß sich von ihm los. „Sie haben zu fest gedrückt.“
„Entschuldigung!“
Kathy nickte. „Ob das gute alte Anklopfen hilft?“ fragte sie scherzhaft.
„Keine Ahnung. Mal sehen...“ Beide gingen langsam auf die Lok zu. David hatte ein Scheißgefühl bei der Sache. Ob es ihr... Wie hieß sie nochmal... Kathy! Was, wenn er und Kathy einen Fehler machten? Stell dich nicht so an, Mitch! Früher warst du doch auch nicht so ängstlich. Ja, verdammt. Aber dann kam diese Scheißnacht vor vier Jahren! Und jetzt stehst du vor einem bizarren Zug, der ausgerechnet in deiner Schicht hier Station gemacht hat. Fuck!

Wells City, 14. Oktober, 08:03 Uhr
Grace Meyers hält beim Spülen inne und blickt aus dem Fenster hinaus zum Garten. Sie sieht, wie Robin mit Franco herumtollt und atmet erleichtert auf. Sie hat Robin krank gemeldet. Mit einem blauen Auge will sie ihren schmächtigen Sohn nicht zur Schule schicken. Grace ahnt, daß er in der Schule Probleme hat. Ob sie so schlimm wie die mit seinem Vater sind? Sie schließt kurz die Augen. Dann spült sie wieder das dreckige Geschirr. Franco läuft im Garten zu dem Stock, den Robin geworfen hat. Als er ihn ins Maul nehmen will, starrt er für Sekundenbruchteile in Richtung Bahnhof. Franco zieht den Schwanz ein und läuft winselnd ins Haus. Robin rennt ihm verwundert nach.
Glen Robbins wirft die Angel aus, wie jeden Morgen. Als ein Schwarm Vögel über ihn hinwegzieht, duckt er sich automatisch. Zu oft hat er etwas abbekommen. Etwas stört ihn. Die Vögel sind stumm. Kein einziger Laut ist zu hören. Als die Vögel weg sind, atmet er tief durch und blickt wieder zu seiner Angel. Etwas stößt gegen seine Stiefel. Es ist ein toter Fisch. Und plötzlich bemerkt Glen, daß mindestens vierhundert Fische tot an der Wasseroberfläche des Flusses treiben.
Curt Hasting steht zur selben Zeit ratlos vor dem Leichnam seiner toten Katze. Die Pupillen von Kitty sind stark gerötet, Erbrochenes klebt in ihrem Fell. Er nimmt eine der Dosen, die er bei Conells Feinkostladen gekauft hat und sieht auf die Unterseite. Das Verfallsdatum ist seit zwei Monaten überschritten, stellt er fest. Er beschließt, gegen Mittag bei Conell vorbeizuschauen und ihn für den Tod von Kitty verantwortlich zu machen. Vorher jedoch wird er unter die Dusche gehen, sich einen runterholen und an Nancy denken. Seufzend geht Curt in die Knie und hebt Kitty auf. Armes Tier, denkt er. Viel zu kurz gelebt.
Mrs. Winterblow steht der Ohnmacht nahe vor den verwelkten Orchideen in ihrem Wintergarten. Sie kann sich nicht erklären, warum die Blumen so plötzlich eingegangen sind. Nachher muß sie unbedingt David davon erzählen.
Sheriff Kobe staunt Bauklötzer, als von einem Moment zum anderen die lästigen Fliegen leblos zu Boden fallen. Er fragt nicht nach dem Warum.
Es ist früher Morgen in Wells City. Und alles scheint wie immer zu sein.

Wells City, 14. Oktober, 08:09 Uhr
David stand auf der Lok und versuchte, durch die schwarzen Scheiben in das Innere zu sehen. Kein Geräusch war zu hören. Gar nichts. „Das ist doch absurd! Ich kann nichts erkennen, nichts hören! Als ob kein Mensch in dem blöden Führerhaus sitzt!“ Er sprang von der Lok herunter. „Was soll das?“ rief er zu Kathy, die sich dem schwarzen Wagon genähert hatte. „Seien Sie bloß vorsichtig!“
„Ja!“ Sie winkte ab. „Bin ich schon.“ Kathy berührte den Wagon. „Es ist Holz!“ Was geht hier vor? „Es ist einfaches Holz, David, mit Farbe angemalt.“
David lief zu ihr. „Die Diesellok ist aber nicht aus Holz.“
„Echt?“ fragte sie spöttisch.
„Schon gut!“ David berührte ebenfalls den schwarzen Wagon. „Warten Sie mal.“ Er holte ein Etui aus seiner Hosentasche hervor. „Das habe ich...“ David überlegte. „Nun, ich habe das seit einiger Zeit bei mir.“ Dann öffnete er es.
„Ah...“ Kathy lächelte, als sie den kleinen Schraubenzieher sah. „Das ist doch albern.“ Sie sah sich um. „Da!“ Sie zeigte zu einer Brechstange. „Wird sicherlich mehr bringen als Ihr alberner kleiner Schraubenzieher.“
Schweigend ließ David das Etui samt Schraubenzieher in seiner Hosentasche verschwinden. Er hob die Eisenstange auf. „Machen Sie mal Platz, äh...“ Stirnrunzelnd sah er sie an.
„Kathy. Nennen Sie mich Kathy.“
„Okay. Vorsicht also!“ David setzte das Eisen an. „Kathy, keine Ahnung, was das...“

Wells City, 14. Oktober, 08:18 Uhr
Die Kinder der vierten Klasse in der Schule wissen nicht so recht, was sie sagen sollen. Judy Hafner, Lehrerin der Grundstufe, starrt fassungslos auf das Terrarium. Die drei Schlangen, Fred, John und Curly liegen regungslos auf dem sandigen Boden. Sie sind tot. Einfach so. Judy bewahrt Haltung und lächelt die Kinder an. „Sie schlafen nur. Alles in Ordnung!“
Andy Hewitt steht neben Martha im Bad und wartet, bis sie fertig ist. Gleich wird er sie wieder in den Rollstuhl setzen. In Gedanken ist er immer noch bei diesen beiden Schwuchteln. Lächelnd stellt er sich vor, wie es wäre, ihnen den Kopf wegzupusten. Martha stöhnt leicht und sieht zu ihm. Er nickt und reicht ihr das Toilettenpapier.
Curt Hasting überlegt, ob er Kitty einfach in die Biotonne schmeißen, oder doch hinterm Haus vergraben soll. Schulterzuckend steht er mit der toten Katze vor seiner Tür. Scheiße, denkt er. Am liebsten würde er jetzt seinen Schwanz in Nancys feuchte Muschi stecken. Scheiße!
Sheriff Kobe sitzt lächelnd in seinem Büro. Die Weinsteins ist er wie immer höflich und sachlich losgeworden. Tote Fliegen liegen auf dem Boden. Er zählt vierundzwanzig Stück. Kobe beugt sich hinunter, um sie aufzusammeln. Am Abend will er sie seinen Kindern zeigen. Er weiß nicht, warum er es tun will.
Es ist früher Morgen in Wells City. Auf der Jericho Street haben zwei Männer angefangen, aufeinander einzuprügeln. Viele bleiben stehen und sehen den beiden zu. Eine merkwürdige angespannte Stimmung liegt in der Luft.

Wells City, 14. Oktober, 08:23 Uhr
„Was zum Teufel ist das?“ fragte Kathy und sah in den schwarzen Wagon hinein. „Sieht aus wie ein Automotor. Nur doppelt so groß.“
Es war ein Metallkasten, der mit kleinen Aluminiumröhren versehen war und dessen obere Platte unzählige Kupferdrähte zierten.
„Sie haben noch nie unter die Motorhaube eines Wagens gesehen, oder?“ frage David spöttisch.
„Nun...“ Kathy grinste ihn verlegen an.
„Hören Sie das?“ David deutete ihr an, ruhig zu sein.
„Was?“
„Psst! Jetzt seien Sie doch mal still, Kathy!“ sagte er verärgert. „Ein Summen. Hören Sie es nicht?“ Kathy sah ihn fragend an und schüttelte den Kopf. „Das gibt’s doch nicht.“ brummte David.
„Warten Sie...“ Kathy packte ihn an der Schulter. „Ja, ich kann es hören. Aber es kommt nicht von dem Ding da.“ Sie zeigte zu dem Metallkasten, der in der Mitte des Wagons auf dem Boden stand. „Es kommt aus dem anderen Wagon. Der Gelbe...“
„Verflucht!“ schrie David und schlug mit der Faust gegen das Holz. Ein Balken zersplitterte.
Kathy ging erschrocken einen Schritt zurück. „David?“ Sie schielte zu der Brechstange, die neben ihm auf dem staubigen Boden lag. „Alles in Ordnung?“
Verwunderte betrachtete David die blutigen Knöchel seiner rechten Hand. Unsicher sah er zu Kathy und flüsterte: „Ich weiß nicht. Ich hatte auf einmal das Verlangen, Frust loszuwerden. Seltsam.“ Er holte ein Taschentuch hervor und wickelte es um seine Hand. „Geht schon wieder. Kommen Sie, schauen wir uns mal den gelben Wagon an.“ Er hob die Brechstange auf.
„Nach Ihnen, David.“
Er nickte. „Ja. Schon gut, Kathy.“

Wells City, 14. Oktober, 08:33 Uhr
Sheriff Kobe steht fassungslos vor der Leiche Jerrys, die mit eingeschlagenem Schädel direkt vor Jack Sherrigans Autosaloon liegt. Er sieht zu Jack, der mit wirrem Blick versucht, sich das Blut von seinem weißen Hemd abzuwischen. Zeugen sagen, Jack wäre aus dem Saloon herausgekommen und hätte ohne Vorankündigung mit einem Baseballschläger auf Jerry eingedroschen, der auf der Bank saß und billigen Schnaps trank. „Eingedroschen?“ fragt Kobe nach. Er geht zu Jack, der ihn anlächelt und, als ob nichts geschehen wäre, sich nach Jim und Lucy erkundigt. „Den Kindern geht es gut, Jack.“ sagt Kobe und holt die Handschellen hervor.
Mit dem Gewehr im Anschlag sitzt Andy Hewitt auf dem Balkon. Er ignoriert die Rufe seiner Frau, die hilflos auf dem Boden liegt, neben ihr der umgestoßene Rollstuhl. Andy zielt abwechselnd auf Fußgänger und fahrende Autos. Am Ende der Jericho Street hat sich eine kleine Menschenmenge angesammelt. Sherrigans Autosaloon, denkt Andy und zuckt mit den Schultern. Auf einmal sieht er, wie Frank N. Furter sein Haus verläßt. Richard O’Brian begleitet seinen Lebensgefährten noch bis zur Straße. Dort gibt er ihm einen Kuß. Andy läuft es eiskalt den Rücker herunter. „Verdammte Schwuchteln!“ flüstert er und zielt auf den Kopf von Frank. Mit ruhiger Hand entsichert er das Gewehr. Er denkt zurück an die Zeit, als er bei der Army war. Dann schießt er. Richard hört einen lauten Knall und muß Bruchteile von Sekunden später mit ansehen, wie Franks Kopf aufplatzt. Blut spritzt und Frank fällt tot in Richards Arme. „Großer Gott, Frank!“ schreit Richard. Er hört einen zweiten lauten Knall. Es ist das letzte Geräusch, was Richard in seinem Leben hört. Zufrieden nickt Andy und lädt nach. „Hab ich es euch Scheißschwuchteln endlich gezeigt, was!“ brüllt er.

Wells City, 14. Oktober, 08:35 Uhr
„Was war das?“ fragte Kathy und sah Richtung Stadt. „Es klang wie zwei Schüsse.“
David, der eine Stelle suchte, wo er die Brechstange am besten ansetzen konnte, hielt inne. „Hm, Schüsse? Klang wie ein verdrecktes Auspuffrohr.“
„Sie haben noch nie Schüsse gehört, oder?“
„Klar. Aber das ist lange her.“ Vier elend lange Jahre, dachte er. Gott, was würdest du dafür geben, jetzt in New York zu sein.

Wells City, 14. Oktober, 08:37 Uhr
Robin Meyers brüllt nach seiner Mutter. Er hat Franco in seinen Armen. Aus dem Maul des Hundes läuft Speichel, vermischt mit Blut, auf Robins Hose. Franco ist tot. Robin hat soeben seinen besten und einzigen Freund verloren.
Ein Truck rast unkontrolliert über die Ampel und erfasst mehrere Fußgänger. Der Fahrer steigt entsetzt aus und rennt zwischen den toten Menschen umher, hilflos schreiend. Schaulustige sehen zu, keiner unternimmt was. Der Fahrer fällt vor der Leiche eines kleinen Mädchens in die Knie und rauft sich die Haare. Er weint. Er weiß nicht, warum er Gas gegeben hat, anstatt zu bremsen.
Nancy Sherrigan erhält von Sheriff Kobe einen Anruf. Als sie den Hörer wieder auflegt, schaltet sie den Gasherd ein und geht anschließend rüber zu Curt Hasting. Sie trifft ihn hintem im Garten, wo er ein Grab für seine tote Katze aushebt. Ohne etwas zu sagen nimmt sie ihn an die Hand und zerrt ihn ins Haus. Ins Schlafzimmer. Sie will jetzt einfach nur hart und gut gefickt werden, bevor sie nachher in ihrem, mit Gas durchflutetem Haus ein Streichholz anzündet.
Andy Hewitt steht mit ausdruckslosem Gesicht über Martha. Sie liegt vor ihm auf den Boden. Er kann erkennen, daß ihr Kleid vorn einen nassen Fleck hat. Hat es nicht geschafft, es zurückzuhalten, denkt er. „Martha? Weißt du, was ich eben getan habe?“ Sie nickt. „Gut.“ sagte Andy und setzt das Mündungsrohr des Gewehres an Marthas Schläfe. „Noch ein letztes Wort, Darling? Nein?“ Er drückt ab und ist erstaunt, wie leicht es ihm gefallen ist, das Gehirn seiner Frau über den Boden zu verteilen. Andy geht in die Hocke und stützt sich auf dem Gewehr ab. Seine Hände fangen an, Marthas Brüste zu massieren. Er spürt, wie sein Penis steif wird.
Trevor Rowlins hat sich in die Schrottpresse gelegt. In seinen Händen hält er die Fernsteuerung. Er muß nur den grünen Knopf drücken, um die Presse zu aktivieren. Kurz schließt er seine Augen und stellt sich vor, wie es wäre, menschliche Knochen splittern zu hören. Wenn der eigene Schädel anfängt zu knacken. Seine Finger tasten sich über die Steuerung. Trevor holt tief Luft und drückt den grünen Knopf. Lächelnd sieht er, wie die wuchtigen, dicken Stahlplatten immer näher kommen. Er pfeifft eine Melodie, die er erst seit heute kennt.

Wells City, 14. Oktober, 08:42 Uhr
„In der Stadt stimmt was nicht, David.“ sagte Kathy ängstlich. Sie war sich absolut sicher, Schüsse gehört zu haben.
„Ich habs gleich, einen Moment noch!“ Er setzte erneut an und drückte sich gegen die Brechstange.
„Nein!“ Sie zog ihn weg. „Wie müssen in die Stadt zurück.“ Kathy hatte plötzlich ein schreckliches Bild vor ihren Augen. Überall schreiende und hilflose Menschen, dazwischen irre lachende Freddy Kruegers, die mit überdimensionalen Pumpguns den Leuten die Köpfe wegschossen. „Etwas ist passiert, David!“
„Also gut.“ Er lies die Brechstange los und sah sie an. Das Summen im Inneren des gelben Wagons war lauter geworden. David mußte schreien, damit Kathy ihn verstand. „Also gut! Haben Sie einen Wagen?“
„Nein!“ schrie Kathy zurück. „Sie?“ Er sagte nichts, starrte sie nur an. „David?“
„Mist!“ fluchte David und packte Kathy am Hals. „Mist! Verfluchte Scheiße!“ brüllte er sie an und begann sie zu würgen.
Kathy bekam keine Luft mehr. Sie zerrte an seinen Armen, aber es war zwecklos. Keine Chance. Oh Gott! Sie krallte ihre Fingernägel in seine Wangen und schwang ihr Knie nach oben. Stöhend ließ David sie los und ging mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden. Kathy schluckte und erbrach sich. „Großer Gott... David... Das... Der Zug! Der Zug...“ Sie hob die Brechstange auf. „Es ist der Zug, verstehen Sie?“
„Du hast mir in die Eier getreten, Miststück!“ brüllte David sie an und rappelte sich auf.
„Nein! David! Hören Sie!“ Kathy hielt die Brechstange zitternd vor sich. „Sehen Sie sich mal um!“ Ihr selbst war es eben erst aufgefallen, als sie einen flüchtigen Blick zum Ausgang des kleinen Bahnhofes wagte. Mindestens vierzig tote Vögel lagen dort. „Es ist der gottverdammte Zug, David!“ Oh nein, er ist wahnsinnig geworden, dachte sie.
„Ich...“ David drehte sich zum Wagon um und schlug mit aller Kraft zu. „Argh!“ Dann lehnte er sich mit dem Kopf an das Holz. „Gehen Sie weg, Kathy!“ schrie er, den Rücken ihr zugewandt. „Gehen Sie! Hauen Sie ab! Ich... Argh!“ Er begann, mit dem Kopf gegen den Wagon zu schlagen.
„David!“
„Hauen Sie endlich ab!“
Kathy warf die Brechstange weg. „Den Teufel werde ich tun!“ Sie sprang zu David und riß ihn herum. „Seien Sie stark, Mann! Kämpfen Sie dagegen an. Ich kann es doch auch!“
Davids Stirn blutete. „Wie?“ Er zitterte am ganzen Körper.
„Ich...“ Scheiße, warum trifft es dich nicht, fragte sie sich. „Versuchen Sie es einfach. Und jetzt kommen Sie. Weg von diesem Scheißzug!“
David nickte. „Okay. Ich...“ Er fühlte sich besser. „Es geht schon wieder.“ sagte er und hob den Daumen.
Beide rannten, nein, schleppten sich zum Ausgang des Bahnhofes. Kathy rechnete nicht damit, daß ein Bus da sein würde, um sie zur Stadt zu fahren. Für sie wäre es zehn Minuten zu Fuß. Mit David, der blutend und ächzend neben ihr ging und sich auf ihr abstützen mußte, würden es zwanzig Minuten werden... Sie hörte, wie die Motoren der Lok angingen. Was für eine Scheiße spielte sich hier nur ab? Sie sah nicht zurück, hörte aber, wie der Zug langsam losfuhr. „Ja, verpiss dich!“ Das Summen wurde schwächer...

Wells City, 14. Oktober, 09:01 Uhr
Keuchend standen Kathy Gardner und David Altman auf der Jericho Street. Ihnen bot sich ein Bild des Grauens. Dutzende Leichen, teilweise absurd verstümmelt, lagen auf den Gehwegen. Viele der Autos, die sich ineinander verkeilt hatten, brannten noch. Im Inneren saßen ganze Familien, innerhalb von wenigen Sekunden ausgelöscht. Sämtliche Schaufenster der Läden waren eingeschlagen worden. Überall lagen tote Tiere. Ab und zu rannten Menschen die Straße hinab, Panik in den Augen habend und wild um sich schreiend. In Wells City herrschte das absolute Chaos.
Kathy setzte David auf eine Parkbank. „Warten Sie hier, David! Okay?“ Er nickte schwach. Der anstrengende Fußmarsch hatte ihn mitgenommen. Kathy hielt ihm ihre Hand vors Gesicht. „Wieviele Finger halte ich hoch?“
„Fünf.“ antwortete er lächelnd.
„Okay, knapp verfehlt. Sie rühren sich nicht, David. Einverstanden?“
„Okay.“ Plötzlich hörten sie eine Detonation. Etwas war explodiert. „Scheiße!“ schrie sie. Was ist hier nur geschehen? Für Kathy stand fest, daß es unmittelbar mit dem Zug zusammenhing. Es war nur logisch. Blöder Zug! „Ich werde sehen, daß ich irgendwo halbwegs normale Leute finde, David.“ Sie dachte kurz nach. „Der Zug ist weggefahren, als wir den Bahnhof verlassen haben.“
„Ja, und?“ fragte David.
„Ich denke, es wird zu keinen... hm... Zwischenfällen mehr kommen.“
„Na dann.“
„Ja.“ Kathy nickte. „Und bleiben Sie bloß hier sitzen, David.“
„Keine Sorge. Danke, daß Sie...“ Traurig sah er sie an.
„Vergessen Sie es! Spendieren Sie mir ein Bier, wenn diese Scheiße vorbei ist!“ Sie drehte sich um und rannte zum Büro des Sheriffs.

Wells City, 14. Oktober, 18:22 Uhr
Die Stadt hat sich verändert. Sie wird nie mehr der beschauliche kleine Ort sein, den sich jeder Frührentner als Paradies herbeisehnt. FBI und andere Organe des Staates haben die Stadt abgeriegelt.
Einige suchen in den Trümmern des Hauses, in dem einst die Sherrigans lebten, nach den Leichen von Nancy und den Kindern. Curt Hasting sitzt direkt vor dem Absperrband und heult wie ein kleines Kind.
Die Kinder, die sich in den verwirrenden Stunden des Vormittages in den Klassenzimmern eingesperrt haben, werden von Ärzten und FBI-Agenten aus der Schule geführt. Keiner verliert ein Wort darüber, daß viele der verängstigten Kinder voller Blut sind. Blut von anderen Kindern, die zum Teil mit kindlicher Brutalität ermordet worden sind. Keiner von denen, die nach Wells City gekommen sind, nachdem Kathy Gardner im Büro des Sheriffs einen Notruf gesandt hatte, verliert ein Wort darüber, daß viele der Kinder ihre Eltern verloren haben.
David Altman und Kathy Gardner können nicht glauben, daß alles Versuche, diesen seltsamen Zug ausfindig zu machen, gescheitert sind. Ihnen wird gesagt, einen solchen Zug gibt es nicht. Ihre wütenden Proteste werden zur Kenntnis genommen... Mehr nicht.
Robin Meyers Leiche wird in einen grauen Plastiksack gezwängt. Seine Mutter, Grace Meyers, sitzt immer noch mit dem Messer in der linken, den Kopf ihres Mannes in der rechten Hand, an der Wand angelehnt und lächelt jeden an, der auf sie einredet. Ihre linke Hand hält sie so, daß die Spitze des Messers gegen ihren Kehlkopf drückt. Sie erkennt langsam, was sie getan hat.
Zwei Agenten des FBI betreten die Büroräume der örtlichen Zeitung. Später werden sie zu Protokoll geben, daß sich... „Bleistifte in den Augen befanden. Gott, es war einfach schrecklich!“ Noch später werden die zwei den Dienst quittieren.
Die Stadt hat sich verändert. Wells City beginnt, sich auf den langen Abend vorzubereiten. Das Tal wird von den Bergen in Schatten gehüllt. Die Sonne versinkt ganz langsam. Nichts ist mehr so, wie es mal war.

Wells City, 24. November, 20:34 Uhr
Kathy Gardner räkelte sich zufrieden auf dem Bett. „Ich hoffe, wir haben die arme Mrs. Winterblow nicht aus dem Schlaf gerissen.“ Sie schmiegte sich an David. „Dave?“
„Hm?“ Er küsste sie. „Was ist?“
„Wann?“
„Nächste Woche kommt einer und holt uns ab. Glaub mir, dir wird New York gefallen, Süße!“
„Ich war noch nie in New York. Du?“
„Klar!“ nickte er. „So vor zwei Jahren. Eine Woche. Tourist halt.“ Er lächelte sie an. Nie im Leben würde er ihr etwas über diese eine Nacht erzählen. Diese eine Nacht, die ihn nach zahlreichen Irrwegen in dieses Kaff verschlagen hatte. Wells City. Gott, dachte David. Er wollte nur noch weg. Nach allem, was innerhalb weniger Stunden an diesem verdammten 14. Oktober geschehen war. Nur noch weg! Scheiß doch auf das Zeugenschutzprogramm!

Epilog
Erstaunt sieht Carla Brown zu dem Zug, der gerade unangekündigt am Gleis Vier angehalten hat. So einen Zug hat sie noch nie gesehen. In Hamilton halten eigentlich nur die Pendler, so nennt Carla die Schnellzüge, die die Menschen von Hamilton zu ihren Jobs in die nahegelegene Großstadt bringen. Der Zug ist merkwürdig. Eine graue Lok mit geschwärzten Scheiben. Vier Wagons. Schwarz, gelb, grün, blau. „Jesus!“ flüstert Carla. Was soll das? Sie sieht im Computer nach. Nein. Nichts. Gar nichts. Und... Ein Summen? Es ist der 13. Dezember, 10:44 Uhr. Sie geht nach draußen. Kein Mensch ist zu sehen. Und dann fällt plötzlich ein Vogel tot zu Boden. Direkt vor ihr. Und noch einer. Und noch einer...

ENDE

copyright by Poncher (SV)

02.06.2002

[ 03.06.2002, 23:24: Beitrag editiert von: Poncher ]

 

Hallo Sebastian Venohr,
hab vorhin Deine Geschichte gelesen und wollte Dir noch ein kurzes Feedback geben.
Empfohlen hätte ich sie nicht, und den Vergleich mit King finde ichauhcn icht besonders treffend, aber insgesamt halte ich sie für sehr gut.
Zwei Dinge haben mich allerdings etwas gestört:

Wells City, 14. Oktober, 04:28 Uhr
Wells City, 14. Oktober, 04:53 Uhr
Wells City, 14. Oktober, 05:38 Uhr
Wells City, 14. Oktober, 06:02 Uhr
...
Das hat mich etwas genervt. Ich habe immer nach der neuen Information gesucht, dabei ändert sich doch nur die Uhrzeit. Warum schreibst Du also nicht so:
Wells City, 14. Oktober, 04:28 Uhr
04:53 Uhr
05:38 Uhr
06:02 Uhr
...
Und am Ende dann halt:
24. November, 20:34 Uhr
Die andere Sache war das dauernde "es war wie immer", "es schien alles wie immer", "Wells City erwachte wie immer zum Leben" usw.
Das hat mich ziemlich genervt. So ein- bis zweimal ist das ja ok, aber irgendwann ist auch mal gut. Am Schluss hast du zwar die Wende zu "nichts war wie immer", das ist auch gut, aber das "es war alles wie immer" kam davor meiner Meinung nach viel zu oft.
Zu guter Letzt hätte ich mir ein bisschen mehr Infos über den Zug gewünscht, also was ist er, wo kommt er her usw. Die Geschichte funktioniert zwar auch so, besteht aber eigentlich nur aus der Grundidee die vielleicht beim Betrachten von Schienen entstanden ist: Was könnte nicht alles auf so einer Schiene daherkommen?
Die Weiterführung des Gedankens zu: etwas Böses, was in Städten haltmacht und diese "vergiftet" liegt da nahe, ist aber nicht sonderlich originell. Durch mehr Hintergrund hättest Du da noch mehr rausholen können.
Aber, wie gesagt, eine sehr gute Geschichte. Weiter so!
Viele Grüße,
Maeuser

 

Eine super Geschichte !!! :read: ! Hab sie mir ausgedruckt und im Garten gelesen ! Sie war echt spannend und fesselnd . Was mich gestört hat wie auch anderen war das mit dem "wie immer" zu oft. Und die hätten ( Dave und Kathy ) ja nicht sagen müssen woher der Zug kommt aber wenigstens :" F*** woher kommt der ?" oder so ka..........usw. halt nich so kurz , ne ?! xD .....Naja sonst gibt's eigentlich nichts zu bemängeln außer dass mich gestört hat noch dass zwischen Morgens ca. 9 bis 18.30 oder so nix dazwischen war....hättest noch schreiben können wie sie die Polizei ruft . d.h zwischen 9 und 18 uhr vllt. ein Punkt....dann wär die Geschichte echt PERFEKT !

Ist sie ohnehin schon fast aber naja !

Mfg,
Der KOboLD

 
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Klasse Geschichte ! ! !

Liest sich sehr flüssig. Man hatte das Geschehen stets vor dem geistigen Auge und wollte unbedingt bis zum Ende lesen.

Deine Geschichte komplett zu zerflücken,wie mein Vorposter,finde ich (auch generell) viel zu überzogen. Stattdessen sollte man lieber über solche Kleinigkeiten hinwegsehen und das Endprodukt, welches "unterm Strich" glänzt, genießen. ich denke, dass dies dem Sinne von dieser Homepage entspricht.

Mein Fazit:
Die Grundidee deiner Geschichte gab es zwar schon in anderen Geschichten, aber das macht garnichts!
Coole Story, authentisch geschrieben, hat Spaß gemacht. Weiter so!


gruss
Robinho

ich korrigiere: nicht mein direkter Vorposter...sry

 

Ja Dankeschön. Und viel Glück euch dreien auf kg.de

Ernsthaft, wenn es euch gefallen hat, prima.

Aufrichtige Grüße aus der Versenkung. :)

 

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